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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Proletarierdichter und Proletarierlieder

einer der Arbeiter hält eine Festrede über die Bedeutung des Tags, worin
er alle willkommen heißt, deren Brust nur eine Sehnsucht bemeistert: der
Drang nach freier, reiner Menschenliebe, und er schließt mit einem Hoch:
"Der Arbeit Maientag, er lebe hoch!" Charakteristisch für die wirtschaftliche
Einsicht, die der Verfasser seinem Publikum zutraut (bei einem bürgerlichen
hätte er kaum so vorsichtig zu sein brauchen), ist es, daß es die Arbeiter keines¬
wegs sehr eilig haben, das Geschenk anzunehmen, sie denken, daß die An¬
nahme "sehr wohl überlegt sein wolle." Die Fabrik sei von dem Erben durch
die Schuld des Direktors Schinder nicht in arbeitsfähigen Zustande über¬
nommen worden, es werde einer großen Summe bedürfen, um sie wieder
in guten Stand zu setzen; "wozu sollen wir uns einer Produktivgenossenschaft
zuliebe in Schulden stürzen?" Sie lassen sich das Geschenk erst gefallen, nach¬
dem auch diese Bedenken zerstreut worden sind.

Die mehr oder weniger berechtigten Wünsche der Arbeiter und Proletarier,
deren Erfüllung auf sich warten lassen muß, sind es, aus denen die Partei
der Sozialdemokratie ihre Nahrung saugt. Für gewisse rein politische Punkte
des sozialdemokratischen Parteiprogramms hat die Masse weder Interesse noch
Verständnis. An die paradiesischen Träume von einem ewigen Frieden auf
Erden, von einem allgemeinen Glückszustand ohne alles Leid, ohne alle Mühe
und Krankheit glauben sicherlich sehr viele Sozialdemokraten und die meisten
Führer nicht. Es ist aber ein Beweis von der Überzeugungstreue, mit der
die Führer ihre mehr praktischen Bestrebungen verfechten, und zugleich von
der Dringlichkeit gewisser sozialer Verbesserungen, daß sie so fanatisch für ihre
Ideen eintreten und, Wenns notthut, leiden. Sie, die sich selbst Apostel nennen,
müssen in ihrem Fanatismus durch die Verfolgungen bestärkt werden, denen
sie ausgesetzt sind. Aus den Aposteln werden Märtyrer. Andre Mittel als
endlose Bestrafungen, als der unablässige gerichtliche Kleiukrieg hätten vielleicht
besser angeschlagen, zuweilen hätte es vielleicht mehr genützt, Milde zu üben und
Entgegenkommen zu zeigen; in den schlimmsten Fällen hätte man eine um so
strengere und wirksamere Strafe verhängen können, die Strafe sollte nicht die
prima, sondern die ultimo r-Mg, im sozialen Leben sein. Es ist kein Vergnügen,
Sozialdemokrat zu sein. Auch die Dichter haben für ihre unbedachten Worte büßen
müssen, es ist, scheint es, keiner unter den Sieben, der nicht angeklagt, verurteilt,
bestraft oder ausgewiesen worden wäre, der nicht wüßte, was es in dieser "besten
der Welten" heißt, zwischen vier kahlen Wänden hinter schwedischen Gardinen als
"gefangner Mann, armer Mann" zu sitzen. Sie haben "gesessen" wegen eines
schnell hingeworfnen Worts in Versammlungen und Zeitungen, wegen Auf¬
reizung, wegen Gewerbekontravention, wegen Verbreitung verbotner Schriften
oder wegen sonstwas. Sie haben es so gewollt, und wir sind weit entfernt,
Mitleid mit ihnen zu haben, das sie sich außerdem von uns gefälligst ver¬
bitten würden. Aber, worauf es ankommt, ist, daß sie dadurch bei ihren An-


Grenzboten et 1N9J 10
Proletarierdichter und Proletarierlieder

einer der Arbeiter hält eine Festrede über die Bedeutung des Tags, worin
er alle willkommen heißt, deren Brust nur eine Sehnsucht bemeistert: der
Drang nach freier, reiner Menschenliebe, und er schließt mit einem Hoch:
„Der Arbeit Maientag, er lebe hoch!" Charakteristisch für die wirtschaftliche
Einsicht, die der Verfasser seinem Publikum zutraut (bei einem bürgerlichen
hätte er kaum so vorsichtig zu sein brauchen), ist es, daß es die Arbeiter keines¬
wegs sehr eilig haben, das Geschenk anzunehmen, sie denken, daß die An¬
nahme „sehr wohl überlegt sein wolle." Die Fabrik sei von dem Erben durch
die Schuld des Direktors Schinder nicht in arbeitsfähigen Zustande über¬
nommen worden, es werde einer großen Summe bedürfen, um sie wieder
in guten Stand zu setzen; „wozu sollen wir uns einer Produktivgenossenschaft
zuliebe in Schulden stürzen?" Sie lassen sich das Geschenk erst gefallen, nach¬
dem auch diese Bedenken zerstreut worden sind.

Die mehr oder weniger berechtigten Wünsche der Arbeiter und Proletarier,
deren Erfüllung auf sich warten lassen muß, sind es, aus denen die Partei
der Sozialdemokratie ihre Nahrung saugt. Für gewisse rein politische Punkte
des sozialdemokratischen Parteiprogramms hat die Masse weder Interesse noch
Verständnis. An die paradiesischen Träume von einem ewigen Frieden auf
Erden, von einem allgemeinen Glückszustand ohne alles Leid, ohne alle Mühe
und Krankheit glauben sicherlich sehr viele Sozialdemokraten und die meisten
Führer nicht. Es ist aber ein Beweis von der Überzeugungstreue, mit der
die Führer ihre mehr praktischen Bestrebungen verfechten, und zugleich von
der Dringlichkeit gewisser sozialer Verbesserungen, daß sie so fanatisch für ihre
Ideen eintreten und, Wenns notthut, leiden. Sie, die sich selbst Apostel nennen,
müssen in ihrem Fanatismus durch die Verfolgungen bestärkt werden, denen
sie ausgesetzt sind. Aus den Aposteln werden Märtyrer. Andre Mittel als
endlose Bestrafungen, als der unablässige gerichtliche Kleiukrieg hätten vielleicht
besser angeschlagen, zuweilen hätte es vielleicht mehr genützt, Milde zu üben und
Entgegenkommen zu zeigen; in den schlimmsten Fällen hätte man eine um so
strengere und wirksamere Strafe verhängen können, die Strafe sollte nicht die
prima, sondern die ultimo r-Mg, im sozialen Leben sein. Es ist kein Vergnügen,
Sozialdemokrat zu sein. Auch die Dichter haben für ihre unbedachten Worte büßen
müssen, es ist, scheint es, keiner unter den Sieben, der nicht angeklagt, verurteilt,
bestraft oder ausgewiesen worden wäre, der nicht wüßte, was es in dieser „besten
der Welten" heißt, zwischen vier kahlen Wänden hinter schwedischen Gardinen als
„gefangner Mann, armer Mann" zu sitzen. Sie haben „gesessen" wegen eines
schnell hingeworfnen Worts in Versammlungen und Zeitungen, wegen Auf¬
reizung, wegen Gewerbekontravention, wegen Verbreitung verbotner Schriften
oder wegen sonstwas. Sie haben es so gewollt, und wir sind weit entfernt,
Mitleid mit ihnen zu haben, das sie sich außerdem von uns gefälligst ver¬
bitten würden. Aber, worauf es ankommt, ist, daß sie dadurch bei ihren An-


Grenzboten et 1N9J 10
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/83>, abgerufen am 05.02.2025.