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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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j)roletarierdichter und j)roletciricrlieder

Die ungehinderte Befriedigung des Bildungstriebes, sowie die gesell¬
schaftliche Geltung der Persönlichkeit werden nicht von allen Menschen mit
dem gleichen Ernst und Eifer begehrt; der gebildete Proletarier erhebt ganz
andre Ansprüche als sein ungebildeter Mitbrüder. Dagegen ist die wichtigste
der sozialen Fragen dem einen wie dem andern verständlich, weil der erste
niler Triebe der nach Selbsterhaltmig ist. Die, die Proletarier sind, kämpfen
alle um die Existenz, ringen um das liebe Brot und werdeu auf dem Boden
des materiellen Interesses zusammengeführt, so verschieden sie auch sonst als
Menschen sein mögen. Jeder strebt zunächst und vor allen Dingen für sich
eine befriedigende Lösung der "Magenfrage" an. .Kann diese wichtigste aller
Fragen für die große Masse nicht ordentlich erledigt werden, so droht der
Gesellschaft Gefahr, so wird den Führern des Proletariats das wirksamste
aller Erregungsmittel, die Berufung auf den Hunger, in die Hand gegeben:

I^mon et viroeirstZ8 -- das ist es, was die Masse auch heute noch begehrt,
wenn auch gemäß dem Fortschritt der Zeiten in einem höhern Sinne als
ehemals. 1'irnvm -- das spielt die Hauptrolle. Es ist wieder nicht wahr,
daß, wie die Bourgeois behaupten, jeder, der arbeiten will, auch Arbeit und
Brot bekommen könne. Mag sein, daß es für den stets Arbeit giebt, "der
sich keiner Arbeit scheut," aber der Arbeiter, und gerade der tüchtige am meisten,
verlangt eine angemessene und lohnende Arbeit. Er will Arbeit in dem Fache,
zu dem er gehört. Er will nicht heute in der Fabrik an der Maschine schaffen,
morgen sich hinter dem Pfluge herschleppen und übermorgen Schnee schaufeln.
Der "zielbewußte" Arbeiter weiß ganz genau, weil er es jeden Augenblick am
eignen Leibe fühlen kann, sieht es besser ein als so mancher "Arbeitgeber"
und so mancher hohe Beamte, daß die einseitige kapitalistische Wirtschaft die
Unsicherheit seiner auf dem Arbeitslohn beruhenden Existenz bedeutet. Die
Sozialdemokratie hat sich uicht vergebens die größte Mühe gegeben, ihn über
das Wesen von Überproduktion, Depression und Krise aufzuklären. Wenn
die Geschäfte schlecht gehen, fliegt er auf die Straße und tritt in die Reihen
der "industriellen Reservearmee." Dieses Schicksal steht ihm immer vor Augen,
sodnß er aus den Sorgen nicht herauskommt, die "wissenschaftliche Aufklärung"
vermehrt noch seine Sorgen, indem er sich nun, wenn es ihm auch gut geht,


j)roletarierdichter und j)roletciricrlieder

Die ungehinderte Befriedigung des Bildungstriebes, sowie die gesell¬
schaftliche Geltung der Persönlichkeit werden nicht von allen Menschen mit
dem gleichen Ernst und Eifer begehrt; der gebildete Proletarier erhebt ganz
andre Ansprüche als sein ungebildeter Mitbrüder. Dagegen ist die wichtigste
der sozialen Fragen dem einen wie dem andern verständlich, weil der erste
niler Triebe der nach Selbsterhaltmig ist. Die, die Proletarier sind, kämpfen
alle um die Existenz, ringen um das liebe Brot und werdeu auf dem Boden
des materiellen Interesses zusammengeführt, so verschieden sie auch sonst als
Menschen sein mögen. Jeder strebt zunächst und vor allen Dingen für sich
eine befriedigende Lösung der „Magenfrage" an. .Kann diese wichtigste aller
Fragen für die große Masse nicht ordentlich erledigt werden, so droht der
Gesellschaft Gefahr, so wird den Führern des Proletariats das wirksamste
aller Erregungsmittel, die Berufung auf den Hunger, in die Hand gegeben:

I^mon et viroeirstZ8 — das ist es, was die Masse auch heute noch begehrt,
wenn auch gemäß dem Fortschritt der Zeiten in einem höhern Sinne als
ehemals. 1'irnvm — das spielt die Hauptrolle. Es ist wieder nicht wahr,
daß, wie die Bourgeois behaupten, jeder, der arbeiten will, auch Arbeit und
Brot bekommen könne. Mag sein, daß es für den stets Arbeit giebt, „der
sich keiner Arbeit scheut," aber der Arbeiter, und gerade der tüchtige am meisten,
verlangt eine angemessene und lohnende Arbeit. Er will Arbeit in dem Fache,
zu dem er gehört. Er will nicht heute in der Fabrik an der Maschine schaffen,
morgen sich hinter dem Pfluge herschleppen und übermorgen Schnee schaufeln.
Der „zielbewußte" Arbeiter weiß ganz genau, weil er es jeden Augenblick am
eignen Leibe fühlen kann, sieht es besser ein als so mancher „Arbeitgeber"
und so mancher hohe Beamte, daß die einseitige kapitalistische Wirtschaft die
Unsicherheit seiner auf dem Arbeitslohn beruhenden Existenz bedeutet. Die
Sozialdemokratie hat sich uicht vergebens die größte Mühe gegeben, ihn über
das Wesen von Überproduktion, Depression und Krise aufzuklären. Wenn
die Geschäfte schlecht gehen, fliegt er auf die Straße und tritt in die Reihen
der „industriellen Reservearmee." Dieses Schicksal steht ihm immer vor Augen,
sodnß er aus den Sorgen nicht herauskommt, die „wissenschaftliche Aufklärung"
vermehrt noch seine Sorgen, indem er sich nun, wenn es ihm auch gut geht,


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[0079] j)roletarierdichter und j)roletciricrlieder Die ungehinderte Befriedigung des Bildungstriebes, sowie die gesell¬ schaftliche Geltung der Persönlichkeit werden nicht von allen Menschen mit dem gleichen Ernst und Eifer begehrt; der gebildete Proletarier erhebt ganz andre Ansprüche als sein ungebildeter Mitbrüder. Dagegen ist die wichtigste der sozialen Fragen dem einen wie dem andern verständlich, weil der erste niler Triebe der nach Selbsterhaltmig ist. Die, die Proletarier sind, kämpfen alle um die Existenz, ringen um das liebe Brot und werdeu auf dem Boden des materiellen Interesses zusammengeführt, so verschieden sie auch sonst als Menschen sein mögen. Jeder strebt zunächst und vor allen Dingen für sich eine befriedigende Lösung der „Magenfrage" an. .Kann diese wichtigste aller Fragen für die große Masse nicht ordentlich erledigt werden, so droht der Gesellschaft Gefahr, so wird den Führern des Proletariats das wirksamste aller Erregungsmittel, die Berufung auf den Hunger, in die Hand gegeben: I^mon et viroeirstZ8 — das ist es, was die Masse auch heute noch begehrt, wenn auch gemäß dem Fortschritt der Zeiten in einem höhern Sinne als ehemals. 1'irnvm — das spielt die Hauptrolle. Es ist wieder nicht wahr, daß, wie die Bourgeois behaupten, jeder, der arbeiten will, auch Arbeit und Brot bekommen könne. Mag sein, daß es für den stets Arbeit giebt, „der sich keiner Arbeit scheut," aber der Arbeiter, und gerade der tüchtige am meisten, verlangt eine angemessene und lohnende Arbeit. Er will Arbeit in dem Fache, zu dem er gehört. Er will nicht heute in der Fabrik an der Maschine schaffen, morgen sich hinter dem Pfluge herschleppen und übermorgen Schnee schaufeln. Der „zielbewußte" Arbeiter weiß ganz genau, weil er es jeden Augenblick am eignen Leibe fühlen kann, sieht es besser ein als so mancher „Arbeitgeber" und so mancher hohe Beamte, daß die einseitige kapitalistische Wirtschaft die Unsicherheit seiner auf dem Arbeitslohn beruhenden Existenz bedeutet. Die Sozialdemokratie hat sich uicht vergebens die größte Mühe gegeben, ihn über das Wesen von Überproduktion, Depression und Krise aufzuklären. Wenn die Geschäfte schlecht gehen, fliegt er auf die Straße und tritt in die Reihen der „industriellen Reservearmee." Dieses Schicksal steht ihm immer vor Augen, sodnß er aus den Sorgen nicht herauskommt, die „wissenschaftliche Aufklärung" vermehrt noch seine Sorgen, indem er sich nun, wenn es ihm auch gut geht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/79>, abgerufen am 23.07.2024.