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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Aunst zu stiegen

dann müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht auch fliege"
könnten! Das ist so ungefähr die landläufige Ansicht. Man glaubt ziemlich
allgemein, daß der Vogel irgend ein "Geheimnis" habe, das ihm an letzter
Stelle den Flug eigentlich erst ermögliche. Wer wie der Verfasser dieser
Zeilen von Kindheit an, schon angeleitet dnrch die Unterweisung des Vaters,
den Flug der Vögel ganz genau beobachtet hat, wer immer mehr zu der Er¬
kenntnis gelangt ist, daß dabei keinerlei Geheimnis obwaltet, daß sich vielmehr
bis ins kleinste die Erscheinung des Fluges und des Schwedens an der Hand
unsrer allgemein verbreiteten Lehren von der Schwerkraft erklären läßt, der
muß sich billig wundern, wenn er sieht, wie seit Jahren die meisterhaften
Untersuchungen eines schlichten deutschen Mannes auf diesem Gebiete fast spurlos
an der Öffentlichkeit vorübergegangen sind. Es ist ein preußischer Berg-
beamter, der sich das Studium des Fluges der Vögel zur Aufgabe gemacht
und wiederholt die vortrefflichsten Abhandlungen darüber veröffentlicht hat.
Aber weil man seinen Arbeiten anmerkt, daß es kein Schriftsteller vom Fach
ist, der die Feder führt, weil jede Reklame dabei vermieden worden ist, so
geht es natürlich mit der Verbreitung seiner Lehren sehr langsam, obgleich
kein Geringerer als Helmholtz durch seine Zustimmung dabei Pate gestanden
hat. Auch sonst fehlt es dein bescheidnen Forscher nicht an Anerkennung, aber
im Publikum ist er völlig unbekannt geblieben.

Neuerdings hat nun dieser hochzuschützende "ungelehrte" Gelehrte die Er¬
gebnisse seiner Studien veröffentlicht unter dem Titel: Das Flngprinzip.
Eine populär-wissenschaftliche Naturstudie als Grundlage zur Lösung des Flug-
prvblems von Karl Buttenstedt. (Kalkberge-Nüdersdorf, bei Karl Blanken-
burg, 1892.) Dies Buch verdient die weiteste Verbreitung, nicht nur unter
Fachleuten, sondern in allen Kreisen, wo man offne Augen für die Natur
hat. Da aber nicht zu hoffe" ist, daß sich nun viele Leser der Grenzboten
beeilen werden, das kleine und doch so bedeutende Werk selbst kennen zu lerne",
so soll hier der Vers"es gemacht werden, den Hauptinhalt auch dein Laien
klar zu machen.

Jeder, der es einmal mit angesehen hat, wie die Möve, um gleich eine
Großmeisterin der Flngkunst zu nennen, spielend den ganz Tag ans und nieder
segelt, hin und her schießt, ohne im geringsten vom Sturm belästigt zu werden,
ohne spüre" der Ermüdung zu zeigen, der wird, nachdem das mörderische
Blei des Sommerfrischlers das schöne Tier zu Tode gebracht hat, mit großem
Erstannen wahrnehmen, wie schwer der leblose Körper in seiner Hand
wiegt, derselbe Körper, der soeben noch federleicht in der Lust schwebte! Wohl
kann da der Glaube entstehen, daß der Vogel, so lange er lebte, sich beim
fliegen habe "leicht machen" können, daß er in seinem Gefieder Wohl gar ein
rätselhaftes Gas zu seinen Diensten habe, das der Mensch nicht untersuchen
könne, weil es in der Ruhe oder beim Tode des Tieres nicht vorhanden sei.


Die Aunst zu stiegen

dann müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht auch fliege»
könnten! Das ist so ungefähr die landläufige Ansicht. Man glaubt ziemlich
allgemein, daß der Vogel irgend ein „Geheimnis" habe, das ihm an letzter
Stelle den Flug eigentlich erst ermögliche. Wer wie der Verfasser dieser
Zeilen von Kindheit an, schon angeleitet dnrch die Unterweisung des Vaters,
den Flug der Vögel ganz genau beobachtet hat, wer immer mehr zu der Er¬
kenntnis gelangt ist, daß dabei keinerlei Geheimnis obwaltet, daß sich vielmehr
bis ins kleinste die Erscheinung des Fluges und des Schwedens an der Hand
unsrer allgemein verbreiteten Lehren von der Schwerkraft erklären läßt, der
muß sich billig wundern, wenn er sieht, wie seit Jahren die meisterhaften
Untersuchungen eines schlichten deutschen Mannes auf diesem Gebiete fast spurlos
an der Öffentlichkeit vorübergegangen sind. Es ist ein preußischer Berg-
beamter, der sich das Studium des Fluges der Vögel zur Aufgabe gemacht
und wiederholt die vortrefflichsten Abhandlungen darüber veröffentlicht hat.
Aber weil man seinen Arbeiten anmerkt, daß es kein Schriftsteller vom Fach
ist, der die Feder führt, weil jede Reklame dabei vermieden worden ist, so
geht es natürlich mit der Verbreitung seiner Lehren sehr langsam, obgleich
kein Geringerer als Helmholtz durch seine Zustimmung dabei Pate gestanden
hat. Auch sonst fehlt es dein bescheidnen Forscher nicht an Anerkennung, aber
im Publikum ist er völlig unbekannt geblieben.

Neuerdings hat nun dieser hochzuschützende „ungelehrte" Gelehrte die Er¬
gebnisse seiner Studien veröffentlicht unter dem Titel: Das Flngprinzip.
Eine populär-wissenschaftliche Naturstudie als Grundlage zur Lösung des Flug-
prvblems von Karl Buttenstedt. (Kalkberge-Nüdersdorf, bei Karl Blanken-
burg, 1892.) Dies Buch verdient die weiteste Verbreitung, nicht nur unter
Fachleuten, sondern in allen Kreisen, wo man offne Augen für die Natur
hat. Da aber nicht zu hoffe» ist, daß sich nun viele Leser der Grenzboten
beeilen werden, das kleine und doch so bedeutende Werk selbst kennen zu lerne»,
so soll hier der Vers»es gemacht werden, den Hauptinhalt auch dein Laien
klar zu machen.

Jeder, der es einmal mit angesehen hat, wie die Möve, um gleich eine
Großmeisterin der Flngkunst zu nennen, spielend den ganz Tag ans und nieder
segelt, hin und her schießt, ohne im geringsten vom Sturm belästigt zu werden,
ohne spüre» der Ermüdung zu zeigen, der wird, nachdem das mörderische
Blei des Sommerfrischlers das schöne Tier zu Tode gebracht hat, mit großem
Erstannen wahrnehmen, wie schwer der leblose Körper in seiner Hand
wiegt, derselbe Körper, der soeben noch federleicht in der Lust schwebte! Wohl
kann da der Glaube entstehen, daß der Vogel, so lange er lebte, sich beim
fliegen habe „leicht machen" können, daß er in seinem Gefieder Wohl gar ein
rätselhaftes Gas zu seinen Diensten habe, das der Mensch nicht untersuchen
könne, weil es in der Ruhe oder beim Tode des Tieres nicht vorhanden sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/74>, abgerufen am 03.07.2024.