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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Sabatiers Übersetzung des Faust

liebe französische "Faust" das Gesetz nicht aufheben kann, nach dem der
unmittelbarste und tiefste Gehalt jeder dichterischen Schöpfung an die ursprüng¬
liche Sprache und künstlerische Form gebunden bleibt. Die Nachempfindung
des Originalgedichts drängt Sabatier zu den kühnsten Wagnissen innerhalb
feiner Sprache, er hat Modulationen, Wortformen und Bilder gefunden, die
der französischen Dichtersprache zu gute kommen mögen. Die Gegenüberstellung
des deutschen und des französischen Textes in der vorliegenden Ausgabe läßt
das außerordentliche Verdienst des Übersetzers rasch und klar erkennen und
hält die Freude um allem Wohl- und Höchstgclnngnen frisch. Dennoch läßt
diese Gegenüberstellung Seite für Seite wahrnehmen, wo es dem Geist, der
Anempfindung wie der Anstrengung des Franzosen nie gelingen kann, den
Hauch und Zauber des Originals wiederzugeben oder auch nur annähernd
zu erreichen. Wenn schon in der Zueignung "Ihr drängt euch zu" mit Vous
in'sntourW, "gleich einer alten halbverklungnen Sage" mit Oonirns um visux
olmrll oubliö ä'un autrs gM, "Ein Schauer faßt mich" mit Atou 001x8 tri.?-
sonvo übertragen werden muß, so ist leicht zu erachten, daß sich das Gleiche,
das schlechthin Unübersetzbare durch die ganze vielgestaltige und vieltönige
Mannichfaltigkeit des Gedichts fortwährend wiederholen muß.

Trotz alledem verdient die Sabatiersche Faustübersetzuug die höchsten
Ehren, die man einer dichterischen Übersetzung zugestehen kann. Ihre Um¬
schreibungen, ihre mehr andeutenden als den Sinn erschöpfenden Wendungen
zeigen überall das volle Verständnis des Übersetzers für die poetische Em¬
pfindung Goethes. Und sie treten zurück, werden weit überwogen von den
großen Partien der Dichtung, in denen der Franzose nicht nur Sinn- und bild¬
getreu, sondern auch, was viel erstaunlicher ist, mit der größtmöglichen An¬
näherung an deu Klang, an die rhythmische Melodik der deutschen Dichtung
übertragen hat. Wir müßten das halbe Buch ausschreiben, um dies im ein¬
zelnen zu beweisen. Aber jedem, der diesen französischen Faust zur Hand
nimmt, wird sofort aufgehen, welche Kraft der Anschmiegung, des geistigen
Verständnisses, des feinen Gehörs für die sprachschöpferische Fülle der Faust¬
dichtung hier eingesetzt worden ist. Es ist Sache der französischen Kritik, sich
mit den kühnen Neuerungen des Übersetzers auseinanderzusetzen, die bei dem
unbedingten Anschluß an das Versmaß des Originals notwendig waren.
Sabatier selbst hat voraus gefühlt, daß er damit keinen leichten Stand haben
werde. Zwei charakteristische Äußerungen von ihm, die im Borwort ange¬
führt sind, werfen ein Licht auf die Schwierigkeit. "Wir, die wir für das
revolutionärste Volk der Erde gelten, haben im Gegenteil die größte Mühe,
das Joch des Verjährten abzuschütteln," und "es ist zu bedauern, daß Viktor
Hugo mit seiner mächtigen Hand das nicht vollbracht hat." Doch würde der
akademische Widerstand sicher leichter zu überwinden sein, wenn das Hervor¬
treten dieser schönen und wertvollen Lebensarbeit eines geistvollen und künstlerisch


Grenzboten II 1893 77
Sabatiers Übersetzung des Faust

liebe französische „Faust" das Gesetz nicht aufheben kann, nach dem der
unmittelbarste und tiefste Gehalt jeder dichterischen Schöpfung an die ursprüng¬
liche Sprache und künstlerische Form gebunden bleibt. Die Nachempfindung
des Originalgedichts drängt Sabatier zu den kühnsten Wagnissen innerhalb
feiner Sprache, er hat Modulationen, Wortformen und Bilder gefunden, die
der französischen Dichtersprache zu gute kommen mögen. Die Gegenüberstellung
des deutschen und des französischen Textes in der vorliegenden Ausgabe läßt
das außerordentliche Verdienst des Übersetzers rasch und klar erkennen und
hält die Freude um allem Wohl- und Höchstgclnngnen frisch. Dennoch läßt
diese Gegenüberstellung Seite für Seite wahrnehmen, wo es dem Geist, der
Anempfindung wie der Anstrengung des Franzosen nie gelingen kann, den
Hauch und Zauber des Originals wiederzugeben oder auch nur annähernd
zu erreichen. Wenn schon in der Zueignung „Ihr drängt euch zu" mit Vous
in'sntourW, „gleich einer alten halbverklungnen Sage" mit Oonirns um visux
olmrll oubliö ä'un autrs gM, „Ein Schauer faßt mich" mit Atou 001x8 tri.?-
sonvo übertragen werden muß, so ist leicht zu erachten, daß sich das Gleiche,
das schlechthin Unübersetzbare durch die ganze vielgestaltige und vieltönige
Mannichfaltigkeit des Gedichts fortwährend wiederholen muß.

Trotz alledem verdient die Sabatiersche Faustübersetzuug die höchsten
Ehren, die man einer dichterischen Übersetzung zugestehen kann. Ihre Um¬
schreibungen, ihre mehr andeutenden als den Sinn erschöpfenden Wendungen
zeigen überall das volle Verständnis des Übersetzers für die poetische Em¬
pfindung Goethes. Und sie treten zurück, werden weit überwogen von den
großen Partien der Dichtung, in denen der Franzose nicht nur Sinn- und bild¬
getreu, sondern auch, was viel erstaunlicher ist, mit der größtmöglichen An¬
näherung an deu Klang, an die rhythmische Melodik der deutschen Dichtung
übertragen hat. Wir müßten das halbe Buch ausschreiben, um dies im ein¬
zelnen zu beweisen. Aber jedem, der diesen französischen Faust zur Hand
nimmt, wird sofort aufgehen, welche Kraft der Anschmiegung, des geistigen
Verständnisses, des feinen Gehörs für die sprachschöpferische Fülle der Faust¬
dichtung hier eingesetzt worden ist. Es ist Sache der französischen Kritik, sich
mit den kühnen Neuerungen des Übersetzers auseinanderzusetzen, die bei dem
unbedingten Anschluß an das Versmaß des Originals notwendig waren.
Sabatier selbst hat voraus gefühlt, daß er damit keinen leichten Stand haben
werde. Zwei charakteristische Äußerungen von ihm, die im Borwort ange¬
führt sind, werfen ein Licht auf die Schwierigkeit. „Wir, die wir für das
revolutionärste Volk der Erde gelten, haben im Gegenteil die größte Mühe,
das Joch des Verjährten abzuschütteln," und „es ist zu bedauern, daß Viktor
Hugo mit seiner mächtigen Hand das nicht vollbracht hat." Doch würde der
akademische Widerstand sicher leichter zu überwinden sein, wenn das Hervor¬
treten dieser schönen und wertvollen Lebensarbeit eines geistvollen und künstlerisch


Grenzboten II 1893 77
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[0618] Sabatiers Übersetzung des Faust liebe französische „Faust" das Gesetz nicht aufheben kann, nach dem der unmittelbarste und tiefste Gehalt jeder dichterischen Schöpfung an die ursprüng¬ liche Sprache und künstlerische Form gebunden bleibt. Die Nachempfindung des Originalgedichts drängt Sabatier zu den kühnsten Wagnissen innerhalb feiner Sprache, er hat Modulationen, Wortformen und Bilder gefunden, die der französischen Dichtersprache zu gute kommen mögen. Die Gegenüberstellung des deutschen und des französischen Textes in der vorliegenden Ausgabe läßt das außerordentliche Verdienst des Übersetzers rasch und klar erkennen und hält die Freude um allem Wohl- und Höchstgclnngnen frisch. Dennoch läßt diese Gegenüberstellung Seite für Seite wahrnehmen, wo es dem Geist, der Anempfindung wie der Anstrengung des Franzosen nie gelingen kann, den Hauch und Zauber des Originals wiederzugeben oder auch nur annähernd zu erreichen. Wenn schon in der Zueignung „Ihr drängt euch zu" mit Vous in'sntourW, „gleich einer alten halbverklungnen Sage" mit Oonirns um visux olmrll oubliö ä'un autrs gM, „Ein Schauer faßt mich" mit Atou 001x8 tri.?- sonvo übertragen werden muß, so ist leicht zu erachten, daß sich das Gleiche, das schlechthin Unübersetzbare durch die ganze vielgestaltige und vieltönige Mannichfaltigkeit des Gedichts fortwährend wiederholen muß. Trotz alledem verdient die Sabatiersche Faustübersetzuug die höchsten Ehren, die man einer dichterischen Übersetzung zugestehen kann. Ihre Um¬ schreibungen, ihre mehr andeutenden als den Sinn erschöpfenden Wendungen zeigen überall das volle Verständnis des Übersetzers für die poetische Em¬ pfindung Goethes. Und sie treten zurück, werden weit überwogen von den großen Partien der Dichtung, in denen der Franzose nicht nur Sinn- und bild¬ getreu, sondern auch, was viel erstaunlicher ist, mit der größtmöglichen An¬ näherung an deu Klang, an die rhythmische Melodik der deutschen Dichtung übertragen hat. Wir müßten das halbe Buch ausschreiben, um dies im ein¬ zelnen zu beweisen. Aber jedem, der diesen französischen Faust zur Hand nimmt, wird sofort aufgehen, welche Kraft der Anschmiegung, des geistigen Verständnisses, des feinen Gehörs für die sprachschöpferische Fülle der Faust¬ dichtung hier eingesetzt worden ist. Es ist Sache der französischen Kritik, sich mit den kühnen Neuerungen des Übersetzers auseinanderzusetzen, die bei dem unbedingten Anschluß an das Versmaß des Originals notwendig waren. Sabatier selbst hat voraus gefühlt, daß er damit keinen leichten Stand haben werde. Zwei charakteristische Äußerungen von ihm, die im Borwort ange¬ führt sind, werfen ein Licht auf die Schwierigkeit. „Wir, die wir für das revolutionärste Volk der Erde gelten, haben im Gegenteil die größte Mühe, das Joch des Verjährten abzuschütteln," und „es ist zu bedauern, daß Viktor Hugo mit seiner mächtigen Hand das nicht vollbracht hat." Doch würde der akademische Widerstand sicher leichter zu überwinden sein, wenn das Hervor¬ treten dieser schönen und wertvollen Lebensarbeit eines geistvollen und künstlerisch Grenzboten II 1893 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/618>, abgerufen am 23.07.2024.