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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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!Laokoo", Kapitel ^6

sich der Professor für deutsche Sprache und Litteratur natürlich nicht im ge¬
ringsten. Es geht nicht wohl an, hier alle stilistische" Schmetterlinge aufzu¬
spießen, die um die Blumen dieser Poetik flattern. Einen aber wollen wir
uns noch einsauge", weil er auf deutscheu Fluren nicht oft vorkommen dürfte.
"Da hat doch Aristoteles ... nicht auf das intellektuelle Urteil über Nichtig¬
keit der Nachahmung prvvozirt." Da muß einem Sammler ja das Herz im
Leibe lachen!

Scherers Nachfolger auf dein Lehrstuhl für deutsche Litteratur trägt den
litterarischen Gigerlrock noch etwas kürzer. In die Einleitung zum Urfaust
schreibt er den geschmackvollen Satz: "Die winzige Szene vor dem Kreuz ent¬
fiel." Davor setzt er einen Punkt, und dahinter auch einen. Nun, die Mode
ist fortgeschritten. Sonst muß man bei Erich Schmidt die Gedankenfülle seiner
Sätze bewundern. "Sah auch der Leipziger Student und der junge Frank¬
furter Einsiedler die ihm aus Volksbuch und Puppenspiel vertraute Gestalt
des vielberufenen Erzzcmberers durch Lessings Litteraturbriefe in eine reine dichte¬
rische Sphäre emporgeschnellt, so hat doch der Alexandriner, worin Söller sich
mit Doktor Faust vergleicht (Der junge Goethe 1,208), keine tiefere Bedeutung
als verwandte, burleske Anspielungen bei Zncharici, Löwen, Wieland, und die
ernstere Art, wie Goethe sich brieflich als "nachtfvrschendeu Magus" hinstellt,
verrät gewiß noch nichts von einem Faustplan." Da fährt ein Frachtwagen
mit gediegner Ladung übers Pflaster, man bords am Knarren der Ruder. Und
nun das kühne Bild, das gefälliges Leben in die schwere Wissenschaft bringt! Der
Herr Professor für deutsche Litteratur an der Universität Berlin hat ins
Schwarze geschvsse", und Faust "schnellt empor," wie das Männchen hinter
der Scheibe. Einen andern tiefsinnigen Satz, der auf S. XII der Einleitung
in der neunten Zeile von unten beginnt, kann ich leider nicht anführen, denn
ich muß annehmen, es sei ein Druckfehler stehen geblieben. Aber dann! "Friede¬
rike, die ländliche Naive." Das sagt doch etwas, das sagt weit mehr, als da
auf dem Papier steht, und wenn auch in der Erscheinung der Pfarrerstochter
von Sesenheim so wenig eine Spur von Schauspielertum steckt als in dem Herrn
Professor Schmidt von deutschem Sprachgefühl: man sieht doch, der Herr
Professor versteht etwas vom Theater, er weiß, wie die Schauspieler ihre Rollen
einteilen. Und nun für Sammler noch einen schönen Schmetterling: "Die
Autobiographie als ein wohlberechnetes Kunstwerk mit stimmenden Akkorden."
Die Autobiographie mit ihrer berechneten Wirkung thäte es zwar auch. Aber
"mit stimmenden Akkorden," wie zierlich! Es könnte in Molwres Pretieusen
stehen.

Vielleicht wundert sich der eine oder andre, daß ich die Stilprvben aus
einem Kollegienheft genommen habe, denn das ist Scherers Poetik, und aus
einer Einleitung, die laut ihrer Unterschrift in vier Tagen geschrieben ist. Aber
das habe ich in einer bestimmten Absicht gethan. Deim so wie sich angebornes


!Laokoo», Kapitel ^6

sich der Professor für deutsche Sprache und Litteratur natürlich nicht im ge¬
ringsten. Es geht nicht wohl an, hier alle stilistische» Schmetterlinge aufzu¬
spießen, die um die Blumen dieser Poetik flattern. Einen aber wollen wir
uns noch einsauge», weil er auf deutscheu Fluren nicht oft vorkommen dürfte.
„Da hat doch Aristoteles ... nicht auf das intellektuelle Urteil über Nichtig¬
keit der Nachahmung prvvozirt." Da muß einem Sammler ja das Herz im
Leibe lachen!

Scherers Nachfolger auf dein Lehrstuhl für deutsche Litteratur trägt den
litterarischen Gigerlrock noch etwas kürzer. In die Einleitung zum Urfaust
schreibt er den geschmackvollen Satz: „Die winzige Szene vor dem Kreuz ent¬
fiel." Davor setzt er einen Punkt, und dahinter auch einen. Nun, die Mode
ist fortgeschritten. Sonst muß man bei Erich Schmidt die Gedankenfülle seiner
Sätze bewundern. „Sah auch der Leipziger Student und der junge Frank¬
furter Einsiedler die ihm aus Volksbuch und Puppenspiel vertraute Gestalt
des vielberufenen Erzzcmberers durch Lessings Litteraturbriefe in eine reine dichte¬
rische Sphäre emporgeschnellt, so hat doch der Alexandriner, worin Söller sich
mit Doktor Faust vergleicht (Der junge Goethe 1,208), keine tiefere Bedeutung
als verwandte, burleske Anspielungen bei Zncharici, Löwen, Wieland, und die
ernstere Art, wie Goethe sich brieflich als »nachtfvrschendeu Magus« hinstellt,
verrät gewiß noch nichts von einem Faustplan." Da fährt ein Frachtwagen
mit gediegner Ladung übers Pflaster, man bords am Knarren der Ruder. Und
nun das kühne Bild, das gefälliges Leben in die schwere Wissenschaft bringt! Der
Herr Professor für deutsche Litteratur an der Universität Berlin hat ins
Schwarze geschvsse», und Faust „schnellt empor," wie das Männchen hinter
der Scheibe. Einen andern tiefsinnigen Satz, der auf S. XII der Einleitung
in der neunten Zeile von unten beginnt, kann ich leider nicht anführen, denn
ich muß annehmen, es sei ein Druckfehler stehen geblieben. Aber dann! „Friede¬
rike, die ländliche Naive." Das sagt doch etwas, das sagt weit mehr, als da
auf dem Papier steht, und wenn auch in der Erscheinung der Pfarrerstochter
von Sesenheim so wenig eine Spur von Schauspielertum steckt als in dem Herrn
Professor Schmidt von deutschem Sprachgefühl: man sieht doch, der Herr
Professor versteht etwas vom Theater, er weiß, wie die Schauspieler ihre Rollen
einteilen. Und nun für Sammler noch einen schönen Schmetterling: „Die
Autobiographie als ein wohlberechnetes Kunstwerk mit stimmenden Akkorden."
Die Autobiographie mit ihrer berechneten Wirkung thäte es zwar auch. Aber
„mit stimmenden Akkorden," wie zierlich! Es könnte in Molwres Pretieusen
stehen.

Vielleicht wundert sich der eine oder andre, daß ich die Stilprvben aus
einem Kollegienheft genommen habe, denn das ist Scherers Poetik, und aus
einer Einleitung, die laut ihrer Unterschrift in vier Tagen geschrieben ist. Aber
das habe ich in einer bestimmten Absicht gethan. Deim so wie sich angebornes


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[0611] !Laokoo», Kapitel ^6 sich der Professor für deutsche Sprache und Litteratur natürlich nicht im ge¬ ringsten. Es geht nicht wohl an, hier alle stilistische» Schmetterlinge aufzu¬ spießen, die um die Blumen dieser Poetik flattern. Einen aber wollen wir uns noch einsauge», weil er auf deutscheu Fluren nicht oft vorkommen dürfte. „Da hat doch Aristoteles ... nicht auf das intellektuelle Urteil über Nichtig¬ keit der Nachahmung prvvozirt." Da muß einem Sammler ja das Herz im Leibe lachen! Scherers Nachfolger auf dein Lehrstuhl für deutsche Litteratur trägt den litterarischen Gigerlrock noch etwas kürzer. In die Einleitung zum Urfaust schreibt er den geschmackvollen Satz: „Die winzige Szene vor dem Kreuz ent¬ fiel." Davor setzt er einen Punkt, und dahinter auch einen. Nun, die Mode ist fortgeschritten. Sonst muß man bei Erich Schmidt die Gedankenfülle seiner Sätze bewundern. „Sah auch der Leipziger Student und der junge Frank¬ furter Einsiedler die ihm aus Volksbuch und Puppenspiel vertraute Gestalt des vielberufenen Erzzcmberers durch Lessings Litteraturbriefe in eine reine dichte¬ rische Sphäre emporgeschnellt, so hat doch der Alexandriner, worin Söller sich mit Doktor Faust vergleicht (Der junge Goethe 1,208), keine tiefere Bedeutung als verwandte, burleske Anspielungen bei Zncharici, Löwen, Wieland, und die ernstere Art, wie Goethe sich brieflich als »nachtfvrschendeu Magus« hinstellt, verrät gewiß noch nichts von einem Faustplan." Da fährt ein Frachtwagen mit gediegner Ladung übers Pflaster, man bords am Knarren der Ruder. Und nun das kühne Bild, das gefälliges Leben in die schwere Wissenschaft bringt! Der Herr Professor für deutsche Litteratur an der Universität Berlin hat ins Schwarze geschvsse», und Faust „schnellt empor," wie das Männchen hinter der Scheibe. Einen andern tiefsinnigen Satz, der auf S. XII der Einleitung in der neunten Zeile von unten beginnt, kann ich leider nicht anführen, denn ich muß annehmen, es sei ein Druckfehler stehen geblieben. Aber dann! „Friede¬ rike, die ländliche Naive." Das sagt doch etwas, das sagt weit mehr, als da auf dem Papier steht, und wenn auch in der Erscheinung der Pfarrerstochter von Sesenheim so wenig eine Spur von Schauspielertum steckt als in dem Herrn Professor Schmidt von deutschem Sprachgefühl: man sieht doch, der Herr Professor versteht etwas vom Theater, er weiß, wie die Schauspieler ihre Rollen einteilen. Und nun für Sammler noch einen schönen Schmetterling: „Die Autobiographie als ein wohlberechnetes Kunstwerk mit stimmenden Akkorden." Die Autobiographie mit ihrer berechneten Wirkung thäte es zwar auch. Aber „mit stimmenden Akkorden," wie zierlich! Es könnte in Molwres Pretieusen stehen. Vielleicht wundert sich der eine oder andre, daß ich die Stilprvben aus einem Kollegienheft genommen habe, denn das ist Scherers Poetik, und aus einer Einleitung, die laut ihrer Unterschrift in vier Tagen geschrieben ist. Aber das habe ich in einer bestimmten Absicht gethan. Deim so wie sich angebornes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/611>, abgerufen am 23.07.2024.