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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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hinzunehmen, was sich dafür ausgiebt. Er thut das auch, ihm ist alles völlig
gleichwertige Poesie, von den sogenannten Liedern der Naturvölker bis zu den
ewigen Gesängen Homers, von den Dramen Shakespeares bis zur Thentcr-
rezension im elendesten Winkelblatt. Mit unangenehmer Beweglichkeit grübe
und wühlt er darin herum und hat augenscheinlich eine große Freude über
jeden Regenwurm, den er zu Tage gefördert hat. Er behauptet, die Ästhetik
solle "allen Erscheinungen und allen Völkern der Erde gerecht werden und
ihnen im System ihre Stelle anweisen." Nach diesem Grundsatz ist er ver¬
fahren, und seine Schüler sind dem Grundsatz treu geblieben. Warum, liegt
auf der Hand: das Arbeitsfeld ist nun ""begrenzt, und wer etwa oaS
Verhältnis von Fischarts Geschichtsklitternng zu ihrer Quelle mit Erfolg unter¬
sucht hat -- dies zielt auf niemand, der das möglicherweise gethan hat --,
meint nnn, er verstünde anch etwas von litterarischen Dingen. Was aber
solche Forschung an sich sür einen praktischen Wert hat, außer daß sie dem
Forscher die Doktorwürde und der Fakultät einige hundert Mark Gebühren
hierfür einzubringen vermag, sehe ich nicht ein, und Scherer hat es meines
Wissens nirgends gesagt.

Wie in seinen Aufsätzen "Zur Geschichte der deutschen Sprache" schießt
Scherer auch in der Poetik himmelweit über jedes erreichbare Ziel hinaus.
Die bildenden Künste und die Tonkunst sind dnrch die Natur ihrer Mittel
bis zu einem gewissen Grade international. Die Dichtkunst aber ist durch ihr
wesentliches Mittel, die Sprache, fester als die andern Künste an die Nation
gebunden. Jede rein litterarische Forschung, die fruchtbar werden und sich
nicht Selbstzweck bleiben will, muß also vou der nationale" Dichtkunst aus¬
gehen. Das Jrrlichteliren durch die Poesie aller Völker und Zeiten kann zu
nichts führen. Es ist lehrreich, daß Lessing, dem eine nationale Dichtkunst
keine Hilfe leisten konnte, von der bildenden Kunst ausgeht und sie beständig
im Auge behält. Aber Scherer wäre auch zu nichts gekommen, wenn er sich
nur an die nationale Dichtkunst gehalten hätte. Das beweist seine viel-
bewunderte Litteraturgeschichte. Als Ergebnis philologischer Maulwurfsarbeit
mag sie die Bewundrung verdienen, als ein Bild der Entwicklung deutscher
Dichtkunst ist sie, wenigstens im neuern Zeitraum, sehr mittelmäßig. Scherer
bezeichnet es als seine Methode, durch Vergleichung zu charakterisiren. Das
ist nicht übel. Lessing z. B. hat in der Hamburgischen Dramaturgie ver-
schiedne Dichter durch Vergleichung so scharf charakterisirt, daß man ganz
genau weiß, was mau von ihnen zu halten hat. Scherers Charakteristik aber
besteht darin, daß er die Einzelheiten genau so aneinander reiht, wie Ariost
in der bekannten Schilderung der Ulema (Laokoon, Kapitel 20), oder sie flattert
zwischen einem "dieser -- jener" ängstlich hin und her, wie der Vogel zwischen
den Wänden seines Käfigs. Dabei kommt dann entweder gnr kein Bild heraus
oder ein so schiefes, wie das Grillparzers. Den Grund dieser Schwäche deckt


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hinzunehmen, was sich dafür ausgiebt. Er thut das auch, ihm ist alles völlig
gleichwertige Poesie, von den sogenannten Liedern der Naturvölker bis zu den
ewigen Gesängen Homers, von den Dramen Shakespeares bis zur Thentcr-
rezension im elendesten Winkelblatt. Mit unangenehmer Beweglichkeit grübe
und wühlt er darin herum und hat augenscheinlich eine große Freude über
jeden Regenwurm, den er zu Tage gefördert hat. Er behauptet, die Ästhetik
solle „allen Erscheinungen und allen Völkern der Erde gerecht werden und
ihnen im System ihre Stelle anweisen." Nach diesem Grundsatz ist er ver¬
fahren, und seine Schüler sind dem Grundsatz treu geblieben. Warum, liegt
auf der Hand: das Arbeitsfeld ist nun »»begrenzt, und wer etwa oaS
Verhältnis von Fischarts Geschichtsklitternng zu ihrer Quelle mit Erfolg unter¬
sucht hat — dies zielt auf niemand, der das möglicherweise gethan hat —,
meint nnn, er verstünde anch etwas von litterarischen Dingen. Was aber
solche Forschung an sich sür einen praktischen Wert hat, außer daß sie dem
Forscher die Doktorwürde und der Fakultät einige hundert Mark Gebühren
hierfür einzubringen vermag, sehe ich nicht ein, und Scherer hat es meines
Wissens nirgends gesagt.

Wie in seinen Aufsätzen „Zur Geschichte der deutschen Sprache" schießt
Scherer auch in der Poetik himmelweit über jedes erreichbare Ziel hinaus.
Die bildenden Künste und die Tonkunst sind dnrch die Natur ihrer Mittel
bis zu einem gewissen Grade international. Die Dichtkunst aber ist durch ihr
wesentliches Mittel, die Sprache, fester als die andern Künste an die Nation
gebunden. Jede rein litterarische Forschung, die fruchtbar werden und sich
nicht Selbstzweck bleiben will, muß also vou der nationale» Dichtkunst aus¬
gehen. Das Jrrlichteliren durch die Poesie aller Völker und Zeiten kann zu
nichts führen. Es ist lehrreich, daß Lessing, dem eine nationale Dichtkunst
keine Hilfe leisten konnte, von der bildenden Kunst ausgeht und sie beständig
im Auge behält. Aber Scherer wäre auch zu nichts gekommen, wenn er sich
nur an die nationale Dichtkunst gehalten hätte. Das beweist seine viel-
bewunderte Litteraturgeschichte. Als Ergebnis philologischer Maulwurfsarbeit
mag sie die Bewundrung verdienen, als ein Bild der Entwicklung deutscher
Dichtkunst ist sie, wenigstens im neuern Zeitraum, sehr mittelmäßig. Scherer
bezeichnet es als seine Methode, durch Vergleichung zu charakterisiren. Das
ist nicht übel. Lessing z. B. hat in der Hamburgischen Dramaturgie ver-
schiedne Dichter durch Vergleichung so scharf charakterisirt, daß man ganz
genau weiß, was mau von ihnen zu halten hat. Scherers Charakteristik aber
besteht darin, daß er die Einzelheiten genau so aneinander reiht, wie Ariost
in der bekannten Schilderung der Ulema (Laokoon, Kapitel 20), oder sie flattert
zwischen einem „dieser — jener" ängstlich hin und her, wie der Vogel zwischen
den Wänden seines Käfigs. Dabei kommt dann entweder gnr kein Bild heraus
oder ein so schiefes, wie das Grillparzers. Den Grund dieser Schwäche deckt


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[0608] Lcwkcmi, Aapitel ^6 hinzunehmen, was sich dafür ausgiebt. Er thut das auch, ihm ist alles völlig gleichwertige Poesie, von den sogenannten Liedern der Naturvölker bis zu den ewigen Gesängen Homers, von den Dramen Shakespeares bis zur Thentcr- rezension im elendesten Winkelblatt. Mit unangenehmer Beweglichkeit grübe und wühlt er darin herum und hat augenscheinlich eine große Freude über jeden Regenwurm, den er zu Tage gefördert hat. Er behauptet, die Ästhetik solle „allen Erscheinungen und allen Völkern der Erde gerecht werden und ihnen im System ihre Stelle anweisen." Nach diesem Grundsatz ist er ver¬ fahren, und seine Schüler sind dem Grundsatz treu geblieben. Warum, liegt auf der Hand: das Arbeitsfeld ist nun »»begrenzt, und wer etwa oaS Verhältnis von Fischarts Geschichtsklitternng zu ihrer Quelle mit Erfolg unter¬ sucht hat — dies zielt auf niemand, der das möglicherweise gethan hat —, meint nnn, er verstünde anch etwas von litterarischen Dingen. Was aber solche Forschung an sich sür einen praktischen Wert hat, außer daß sie dem Forscher die Doktorwürde und der Fakultät einige hundert Mark Gebühren hierfür einzubringen vermag, sehe ich nicht ein, und Scherer hat es meines Wissens nirgends gesagt. Wie in seinen Aufsätzen „Zur Geschichte der deutschen Sprache" schießt Scherer auch in der Poetik himmelweit über jedes erreichbare Ziel hinaus. Die bildenden Künste und die Tonkunst sind dnrch die Natur ihrer Mittel bis zu einem gewissen Grade international. Die Dichtkunst aber ist durch ihr wesentliches Mittel, die Sprache, fester als die andern Künste an die Nation gebunden. Jede rein litterarische Forschung, die fruchtbar werden und sich nicht Selbstzweck bleiben will, muß also vou der nationale» Dichtkunst aus¬ gehen. Das Jrrlichteliren durch die Poesie aller Völker und Zeiten kann zu nichts führen. Es ist lehrreich, daß Lessing, dem eine nationale Dichtkunst keine Hilfe leisten konnte, von der bildenden Kunst ausgeht und sie beständig im Auge behält. Aber Scherer wäre auch zu nichts gekommen, wenn er sich nur an die nationale Dichtkunst gehalten hätte. Das beweist seine viel- bewunderte Litteraturgeschichte. Als Ergebnis philologischer Maulwurfsarbeit mag sie die Bewundrung verdienen, als ein Bild der Entwicklung deutscher Dichtkunst ist sie, wenigstens im neuern Zeitraum, sehr mittelmäßig. Scherer bezeichnet es als seine Methode, durch Vergleichung zu charakterisiren. Das ist nicht übel. Lessing z. B. hat in der Hamburgischen Dramaturgie ver- schiedne Dichter durch Vergleichung so scharf charakterisirt, daß man ganz genau weiß, was mau von ihnen zu halten hat. Scherers Charakteristik aber besteht darin, daß er die Einzelheiten genau so aneinander reiht, wie Ariost in der bekannten Schilderung der Ulema (Laokoon, Kapitel 20), oder sie flattert zwischen einem „dieser — jener" ängstlich hin und her, wie der Vogel zwischen den Wänden seines Käfigs. Dabei kommt dann entweder gnr kein Bild heraus oder ein so schiefes, wie das Grillparzers. Den Grund dieser Schwäche deckt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/608>, abgerufen am 23.07.2024.