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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Laokoon, Rapilel

Glieder; diese aber geht der Sprache ans Leben. Knochenerweichung möchte
man sie nennen. Nun hat Wustmann zweifellos Recht: daß die Verwilderung
der Sprache so unheimlich rasch fortgeschritten ist, das verdanken wir der
Grußmacht der Presse. Ja, eine Großmacht ist sie, aber das ist die Mode
auch, und ans ihrer geistigen Höhe etwa steht die deutsche Presse, höher sicher
nicht. Wäre" nicht die modernen Frauen in Sachen des äußern Gefallens
die unselbständigsten und kindlichsten Geschöpfe, die Gott in seinem Zorn ge¬
schaffen hat, so ließen sie sich die Narrenjacke der Mode nicht anziehen. Und
wäre das deutsche Lesepublikum in Sachen des litterarischen Geschmacks nicht
das unselbständigste und kindlichste unter allen Völkern der Erde, so würfe es
den ekelhaften Brei, den ihm die Presse tagtäglich auftischt, zum Fenster hinaus.
Denn eine Krankheit breitet sich mit Erfolg nur da aus, wo sie guten Boden
findet. Der gesunde Mensch schluckt Kochsche Tnbcrkelbcizillen und Caprivische
Beunruhiguugsbazilleu in ungezählter Menge ein, und sie schaden ihm nichts.
Nur in dem Organismus, der schon mit einem Fehler behaftet ist, setzen sie
sich fest. Und wir haben den Fehler, den Lessing im Ill. Kapitel des Lnokoon
machte, sorgsam gehegt und gepflegt, und nirgends hat man das mehr gethan,
als ans den berufnen Pflegstütten unsrer Bildung, den deutscheu Hochschulen.
Dort weiß man immer noch nichts davon, daß zwischen den artitulirten Lauten,
die wir mehr oder minder mit allen Sprachen des indogermanischen Stammes
gemeinsam haben, und unsrer Dichtkunst die Sprache steht, nämlich unsre
Muttersprache. Lessing konnte sie übersehen, denn zu seiner Zeit war die
deutsche Sprache noch kein Mittel der Dichtkunst, weil es eine deutsche Dicht¬
kunst von mustergiltigen Wert noch gar nicht gab. Lessing konnte sich über¬
haupt deu Luxus eines Fehlers ruhig gestatten, denn er war ein starker Geist,
der aus selbsteiguer Macht die Sprache als brauchbares Mittel der Dicht¬
kunst handhabte. Wir Modernen aber sind ganz und gar keine starken Geister,
wir sollten uns den Fehler vom Halse schaffen. Wir hätten es längst ge¬
konnt, denn zwischen Lessing und der Gegenwart liegt erstens eine große,
blühende Litteratur und liegt zweitens eine hochentwickelte historische Gram¬
matik. Aber ans der Hochschule, wo die Wissenschaft von diesen beiden Dingen
gepflegt wird, da gehen diese beiden Wissenschaften hübsch friedlich neben ein¬
ander her, als hätten sie nichts mit einander zu thun. Denn wo sie aus
Rücksicht auf deu staatlichen Geldbeutel durch Personalunion vereinigt sind,
da vereinigen sie sich doch nicht auf ein gemeinsames Ziel. Denn dies Ziel
könnte nnr das litterarische Schaffen der Gegenwart sein. Die eine Wissen¬
schaft aber schnappt so etwa bei 1850 ab, die andre schon um 1K50. Da
machen sie Halt und stehen stramm, wie der Rekrut vor seinem Unteroffizier.
Die Sprachwissenschaft ist dabei ganz gut gefahren, die Litteraturgeschichte aber
ist auf deu Hund gekommen. Denn was ans deu Hochschule" dafür aus¬
gegeben wird, läuft auf Kritik der Texte, Untersuchung der Quellen und Fest-


Laokoon, Rapilel

Glieder; diese aber geht der Sprache ans Leben. Knochenerweichung möchte
man sie nennen. Nun hat Wustmann zweifellos Recht: daß die Verwilderung
der Sprache so unheimlich rasch fortgeschritten ist, das verdanken wir der
Grußmacht der Presse. Ja, eine Großmacht ist sie, aber das ist die Mode
auch, und ans ihrer geistigen Höhe etwa steht die deutsche Presse, höher sicher
nicht. Wäre» nicht die modernen Frauen in Sachen des äußern Gefallens
die unselbständigsten und kindlichsten Geschöpfe, die Gott in seinem Zorn ge¬
schaffen hat, so ließen sie sich die Narrenjacke der Mode nicht anziehen. Und
wäre das deutsche Lesepublikum in Sachen des litterarischen Geschmacks nicht
das unselbständigste und kindlichste unter allen Völkern der Erde, so würfe es
den ekelhaften Brei, den ihm die Presse tagtäglich auftischt, zum Fenster hinaus.
Denn eine Krankheit breitet sich mit Erfolg nur da aus, wo sie guten Boden
findet. Der gesunde Mensch schluckt Kochsche Tnbcrkelbcizillen und Caprivische
Beunruhiguugsbazilleu in ungezählter Menge ein, und sie schaden ihm nichts.
Nur in dem Organismus, der schon mit einem Fehler behaftet ist, setzen sie
sich fest. Und wir haben den Fehler, den Lessing im Ill. Kapitel des Lnokoon
machte, sorgsam gehegt und gepflegt, und nirgends hat man das mehr gethan,
als ans den berufnen Pflegstütten unsrer Bildung, den deutscheu Hochschulen.
Dort weiß man immer noch nichts davon, daß zwischen den artitulirten Lauten,
die wir mehr oder minder mit allen Sprachen des indogermanischen Stammes
gemeinsam haben, und unsrer Dichtkunst die Sprache steht, nämlich unsre
Muttersprache. Lessing konnte sie übersehen, denn zu seiner Zeit war die
deutsche Sprache noch kein Mittel der Dichtkunst, weil es eine deutsche Dicht¬
kunst von mustergiltigen Wert noch gar nicht gab. Lessing konnte sich über¬
haupt deu Luxus eines Fehlers ruhig gestatten, denn er war ein starker Geist,
der aus selbsteiguer Macht die Sprache als brauchbares Mittel der Dicht¬
kunst handhabte. Wir Modernen aber sind ganz und gar keine starken Geister,
wir sollten uns den Fehler vom Halse schaffen. Wir hätten es längst ge¬
konnt, denn zwischen Lessing und der Gegenwart liegt erstens eine große,
blühende Litteratur und liegt zweitens eine hochentwickelte historische Gram¬
matik. Aber ans der Hochschule, wo die Wissenschaft von diesen beiden Dingen
gepflegt wird, da gehen diese beiden Wissenschaften hübsch friedlich neben ein¬
ander her, als hätten sie nichts mit einander zu thun. Denn wo sie aus
Rücksicht auf deu staatlichen Geldbeutel durch Personalunion vereinigt sind,
da vereinigen sie sich doch nicht auf ein gemeinsames Ziel. Denn dies Ziel
könnte nnr das litterarische Schaffen der Gegenwart sein. Die eine Wissen¬
schaft aber schnappt so etwa bei 1850 ab, die andre schon um 1K50. Da
machen sie Halt und stehen stramm, wie der Rekrut vor seinem Unteroffizier.
Die Sprachwissenschaft ist dabei ganz gut gefahren, die Litteraturgeschichte aber
ist auf deu Hund gekommen. Denn was ans deu Hochschule» dafür aus¬
gegeben wird, läuft auf Kritik der Texte, Untersuchung der Quellen und Fest-


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[0606] Laokoon, Rapilel Glieder; diese aber geht der Sprache ans Leben. Knochenerweichung möchte man sie nennen. Nun hat Wustmann zweifellos Recht: daß die Verwilderung der Sprache so unheimlich rasch fortgeschritten ist, das verdanken wir der Grußmacht der Presse. Ja, eine Großmacht ist sie, aber das ist die Mode auch, und ans ihrer geistigen Höhe etwa steht die deutsche Presse, höher sicher nicht. Wäre» nicht die modernen Frauen in Sachen des äußern Gefallens die unselbständigsten und kindlichsten Geschöpfe, die Gott in seinem Zorn ge¬ schaffen hat, so ließen sie sich die Narrenjacke der Mode nicht anziehen. Und wäre das deutsche Lesepublikum in Sachen des litterarischen Geschmacks nicht das unselbständigste und kindlichste unter allen Völkern der Erde, so würfe es den ekelhaften Brei, den ihm die Presse tagtäglich auftischt, zum Fenster hinaus. Denn eine Krankheit breitet sich mit Erfolg nur da aus, wo sie guten Boden findet. Der gesunde Mensch schluckt Kochsche Tnbcrkelbcizillen und Caprivische Beunruhiguugsbazilleu in ungezählter Menge ein, und sie schaden ihm nichts. Nur in dem Organismus, der schon mit einem Fehler behaftet ist, setzen sie sich fest. Und wir haben den Fehler, den Lessing im Ill. Kapitel des Lnokoon machte, sorgsam gehegt und gepflegt, und nirgends hat man das mehr gethan, als ans den berufnen Pflegstütten unsrer Bildung, den deutscheu Hochschulen. Dort weiß man immer noch nichts davon, daß zwischen den artitulirten Lauten, die wir mehr oder minder mit allen Sprachen des indogermanischen Stammes gemeinsam haben, und unsrer Dichtkunst die Sprache steht, nämlich unsre Muttersprache. Lessing konnte sie übersehen, denn zu seiner Zeit war die deutsche Sprache noch kein Mittel der Dichtkunst, weil es eine deutsche Dicht¬ kunst von mustergiltigen Wert noch gar nicht gab. Lessing konnte sich über¬ haupt deu Luxus eines Fehlers ruhig gestatten, denn er war ein starker Geist, der aus selbsteiguer Macht die Sprache als brauchbares Mittel der Dicht¬ kunst handhabte. Wir Modernen aber sind ganz und gar keine starken Geister, wir sollten uns den Fehler vom Halse schaffen. Wir hätten es längst ge¬ konnt, denn zwischen Lessing und der Gegenwart liegt erstens eine große, blühende Litteratur und liegt zweitens eine hochentwickelte historische Gram¬ matik. Aber ans der Hochschule, wo die Wissenschaft von diesen beiden Dingen gepflegt wird, da gehen diese beiden Wissenschaften hübsch friedlich neben ein¬ ander her, als hätten sie nichts mit einander zu thun. Denn wo sie aus Rücksicht auf deu staatlichen Geldbeutel durch Personalunion vereinigt sind, da vereinigen sie sich doch nicht auf ein gemeinsames Ziel. Denn dies Ziel könnte nnr das litterarische Schaffen der Gegenwart sein. Die eine Wissen¬ schaft aber schnappt so etwa bei 1850 ab, die andre schon um 1K50. Da machen sie Halt und stehen stramm, wie der Rekrut vor seinem Unteroffizier. Die Sprachwissenschaft ist dabei ganz gut gefahren, die Litteraturgeschichte aber ist auf deu Hund gekommen. Denn was ans deu Hochschule» dafür aus¬ gegeben wird, läuft auf Kritik der Texte, Untersuchung der Quellen und Fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/606>, abgerufen am 23.07.2024.