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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Laokoon, Kapitel ^6

Erstens: Der Geist des Künstlers schafft das Kunstwerk; nach einem be¬
stimmten Plane fügt er die Teile zusammen, und ist er ein echter Künstler,
so übt sein Werk eine bestimmte Wirkung aus auf jeden andern Geist, der es
genießt. Aber es wirkt anders als alle andern Werke, die der schaffende
Menschei?geiht auch nach einem bestimmten Plane hervorbringt. Wenn mich
die Klänge der neunten Symphonie umrauschen, wenn mich der kühle Schatten
des Kölner Doms umfängt, so regen sich tausend Empfindungen in mir. Wenn
ich eine Dampfmaschine arbeiten sehe, so regt sich in mir -- gar nichts. Und
doch, wer wollte behaupten, daß in der Dampfmaschine weniger geistige Arbeit
stecke, als in dem größten Kunstwerk der Welt? Aber erst wenn ich mir diese
Arbeit durch eine Reihe von einzelnen Erwägungen ins Bewußtsein rufe,
wenn ich die Geschichte dieser Erfindung durchgehe und den sinnreichen Mecha¬
nismus studire, erst dann wird in mir die Bewunderung rege für den Geist
des Erfinders. Die eigentümliche Wirkung des Kunstwerks scheint also darin
zu beruhen, daß aus ihm ein fremder Geist zu meinem Geiste unmittelbar
spricht.

Zweitens: Fragen wir nnn allgemein: wie spricht ein fremder Geist zu
meinem Geiste, d. h. wie bin ich imstande, fremdes Geistesleben unmittelbar
wahrzunehmen? Auf zwei Wegen. Durch etwas, was ich höre, und durch
etwas, was ich sehe. Der gellende Schrei, der aus dem Operationszimmer
eines Arztes erklingt, sagt mir sogar mit unangenehmer Deutlichkeit, was da
in der Seele eines Mitmenschen vorgeht. Ein Weib vor mir auf den Knieen,
in Lumpen gehüllt, mit der Linken ein nacktes Kind an die Brust pressend,
die geöffnete Rechte mir entgegenstreckend -- brauche ich noch zu fragen, was
sie will? Weiß ich nicht auf den ersten Blick, was in ihr vorgeht? Was ich
dabei weiter empfinde, das lasten wir aus dem Spiele, denn es handelt sich
hier nur um eine Frage der Technik. Wir stellen nur fest: den Geistes¬
zustand eines andern Menschen höre ich entweder aus unartikulirteu Lauten
heraus oder lese ihn aus seinen Geberden ab. Einen dritten Weg, diesen Zu¬
stand unmittelbar wahrzunehmen, giebt es nicht.

Drittens: So wäre also ein armes Weib nicht imstande, mir in artiku-
lirtcu Tönen oder gar in einem Briefe ihr Leid zu klagen? Gewiß, aber ob
ich etwas dabei empfinde, ist die Frage! Möglich, daß mich ihr Brief in der
richtigen Stimmung trifft, möglich, daß sie für ihre mündliche Klage den rich¬
tigen Ton findet, mich das richtige Bild ihrer Lage empfinden zu lassen.
Dann aber wirkt nicht der artikulirte Laut auf mich, sondern die besondre Art
seines Klanges. Ob der Kranke unter dem Messer des Arztes Hilfe! oder
Halt! schreit, das macht wenig aus. Denn artikulirte Laute wirken an sich
gar nicht auf unser Empfinden, selbst daun nicht immer, wenn wir sie so
genau verstanden haben, daß wir sie wörtlich wiederholen können. Wenn ich
z. B. in zusammenhängender Darstellung höre -- oder lese --: "der Herr


Laokoon, Kapitel ^6

Erstens: Der Geist des Künstlers schafft das Kunstwerk; nach einem be¬
stimmten Plane fügt er die Teile zusammen, und ist er ein echter Künstler,
so übt sein Werk eine bestimmte Wirkung aus auf jeden andern Geist, der es
genießt. Aber es wirkt anders als alle andern Werke, die der schaffende
Menschei?geiht auch nach einem bestimmten Plane hervorbringt. Wenn mich
die Klänge der neunten Symphonie umrauschen, wenn mich der kühle Schatten
des Kölner Doms umfängt, so regen sich tausend Empfindungen in mir. Wenn
ich eine Dampfmaschine arbeiten sehe, so regt sich in mir — gar nichts. Und
doch, wer wollte behaupten, daß in der Dampfmaschine weniger geistige Arbeit
stecke, als in dem größten Kunstwerk der Welt? Aber erst wenn ich mir diese
Arbeit durch eine Reihe von einzelnen Erwägungen ins Bewußtsein rufe,
wenn ich die Geschichte dieser Erfindung durchgehe und den sinnreichen Mecha¬
nismus studire, erst dann wird in mir die Bewunderung rege für den Geist
des Erfinders. Die eigentümliche Wirkung des Kunstwerks scheint also darin
zu beruhen, daß aus ihm ein fremder Geist zu meinem Geiste unmittelbar
spricht.

Zweitens: Fragen wir nnn allgemein: wie spricht ein fremder Geist zu
meinem Geiste, d. h. wie bin ich imstande, fremdes Geistesleben unmittelbar
wahrzunehmen? Auf zwei Wegen. Durch etwas, was ich höre, und durch
etwas, was ich sehe. Der gellende Schrei, der aus dem Operationszimmer
eines Arztes erklingt, sagt mir sogar mit unangenehmer Deutlichkeit, was da
in der Seele eines Mitmenschen vorgeht. Ein Weib vor mir auf den Knieen,
in Lumpen gehüllt, mit der Linken ein nacktes Kind an die Brust pressend,
die geöffnete Rechte mir entgegenstreckend — brauche ich noch zu fragen, was
sie will? Weiß ich nicht auf den ersten Blick, was in ihr vorgeht? Was ich
dabei weiter empfinde, das lasten wir aus dem Spiele, denn es handelt sich
hier nur um eine Frage der Technik. Wir stellen nur fest: den Geistes¬
zustand eines andern Menschen höre ich entweder aus unartikulirteu Lauten
heraus oder lese ihn aus seinen Geberden ab. Einen dritten Weg, diesen Zu¬
stand unmittelbar wahrzunehmen, giebt es nicht.

Drittens: So wäre also ein armes Weib nicht imstande, mir in artiku-
lirtcu Tönen oder gar in einem Briefe ihr Leid zu klagen? Gewiß, aber ob
ich etwas dabei empfinde, ist die Frage! Möglich, daß mich ihr Brief in der
richtigen Stimmung trifft, möglich, daß sie für ihre mündliche Klage den rich¬
tigen Ton findet, mich das richtige Bild ihrer Lage empfinden zu lassen.
Dann aber wirkt nicht der artikulirte Laut auf mich, sondern die besondre Art
seines Klanges. Ob der Kranke unter dem Messer des Arztes Hilfe! oder
Halt! schreit, das macht wenig aus. Denn artikulirte Laute wirken an sich
gar nicht auf unser Empfinden, selbst daun nicht immer, wenn wir sie so
genau verstanden haben, daß wir sie wörtlich wiederholen können. Wenn ich
z. B. in zusammenhängender Darstellung höre — oder lese —: „der Herr


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[0601] Laokoon, Kapitel ^6 Erstens: Der Geist des Künstlers schafft das Kunstwerk; nach einem be¬ stimmten Plane fügt er die Teile zusammen, und ist er ein echter Künstler, so übt sein Werk eine bestimmte Wirkung aus auf jeden andern Geist, der es genießt. Aber es wirkt anders als alle andern Werke, die der schaffende Menschei?geiht auch nach einem bestimmten Plane hervorbringt. Wenn mich die Klänge der neunten Symphonie umrauschen, wenn mich der kühle Schatten des Kölner Doms umfängt, so regen sich tausend Empfindungen in mir. Wenn ich eine Dampfmaschine arbeiten sehe, so regt sich in mir — gar nichts. Und doch, wer wollte behaupten, daß in der Dampfmaschine weniger geistige Arbeit stecke, als in dem größten Kunstwerk der Welt? Aber erst wenn ich mir diese Arbeit durch eine Reihe von einzelnen Erwägungen ins Bewußtsein rufe, wenn ich die Geschichte dieser Erfindung durchgehe und den sinnreichen Mecha¬ nismus studire, erst dann wird in mir die Bewunderung rege für den Geist des Erfinders. Die eigentümliche Wirkung des Kunstwerks scheint also darin zu beruhen, daß aus ihm ein fremder Geist zu meinem Geiste unmittelbar spricht. Zweitens: Fragen wir nnn allgemein: wie spricht ein fremder Geist zu meinem Geiste, d. h. wie bin ich imstande, fremdes Geistesleben unmittelbar wahrzunehmen? Auf zwei Wegen. Durch etwas, was ich höre, und durch etwas, was ich sehe. Der gellende Schrei, der aus dem Operationszimmer eines Arztes erklingt, sagt mir sogar mit unangenehmer Deutlichkeit, was da in der Seele eines Mitmenschen vorgeht. Ein Weib vor mir auf den Knieen, in Lumpen gehüllt, mit der Linken ein nacktes Kind an die Brust pressend, die geöffnete Rechte mir entgegenstreckend — brauche ich noch zu fragen, was sie will? Weiß ich nicht auf den ersten Blick, was in ihr vorgeht? Was ich dabei weiter empfinde, das lasten wir aus dem Spiele, denn es handelt sich hier nur um eine Frage der Technik. Wir stellen nur fest: den Geistes¬ zustand eines andern Menschen höre ich entweder aus unartikulirteu Lauten heraus oder lese ihn aus seinen Geberden ab. Einen dritten Weg, diesen Zu¬ stand unmittelbar wahrzunehmen, giebt es nicht. Drittens: So wäre also ein armes Weib nicht imstande, mir in artiku- lirtcu Tönen oder gar in einem Briefe ihr Leid zu klagen? Gewiß, aber ob ich etwas dabei empfinde, ist die Frage! Möglich, daß mich ihr Brief in der richtigen Stimmung trifft, möglich, daß sie für ihre mündliche Klage den rich¬ tigen Ton findet, mich das richtige Bild ihrer Lage empfinden zu lassen. Dann aber wirkt nicht der artikulirte Laut auf mich, sondern die besondre Art seines Klanges. Ob der Kranke unter dem Messer des Arztes Hilfe! oder Halt! schreit, das macht wenig aus. Denn artikulirte Laute wirken an sich gar nicht auf unser Empfinden, selbst daun nicht immer, wenn wir sie so genau verstanden haben, daß wir sie wörtlich wiederholen können. Wenn ich z. B. in zusammenhängender Darstellung höre — oder lese —: „der Herr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/601>, abgerufen am 23.07.2024.