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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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wo stehn die Wolken?

Kenntnis für uns von großem Werte ist. Wir wollen versuchen, ihr Dolmetscher
zu sein.

Nicht, daß wir Elsaß-Lothringen haben, kränkt unsre wohlwollenden Nach¬
barn um Genfersee und anderswo so sehr, als daß wir stark sind, stärker als
man uns seit Jahrhunderten gekannt hat. Was den Franzosen und Französ-
lingeu noch heute so schwer auf dem Herzen liegt, wie an dem ersten Tage
der neuen Zeit, an dem von Königgrätz, das ist das Wiedererstehen des
starken Reichs, mit dem man dort längst vergessen hatte politisch zu rechnen.
Und daß ein großer Teil der Kraft, mit der wir uus in der Mitte Europas
erhoben haben, uns aus den Quellen zufloß, die zu gleicher Zeit für unsre
westliche" Nachbarn zu versiegen begannen, das erhöht den Schmerz der Nieder¬
lage und bei den Freunden der Niedergeworfnen das Mitgefühl. Es ist eine
der häufigsten, größten und gefährlichsten Täuschungen politischer Kurzsichtig¬
keit, die Quelle eiues Übels da zu suchen, wo es, allen sichtbar, groß und häßlich
hervorgebrochen ist. Das Aufstreben Deutschlands und Italiens und die Umge¬
staltung Österreichs Hütten ohne alle militärischen Niederlagen für Frankreich
langsamer, aber ebenso sicher die politische Lage geschaffen, in der es sich heute
windet. Und es hätte den Verzicht auf die Vormachtstellung in Europa nie
ohne Kampf geleistet. Auch ohne Metz und Sedan wäre das Ende des dritten
Kaiserreichs ein Ende voll Schmach und Schrecken geworden, auch ohne die
Verlornen Departements wäre die Bevölkerung Frankreichs jedes Jahr weiter
hinter der deutscheu zurückgeblieben, auch ohne den Verlust an Kriegsruhm
wäre die längst vorbereitete vvoaclenos in Wissenschaft und Litteratur immer
klarer geworden, auch ohne die fünf Milliarden würde die notwendige Folge
der Verlotterung des Unterrichts und der Erziehung auf alleu Stufen, der
Rückgang im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht ausgeblieben sein. Gerade das
ist das brennende in der Wunde, die Frankreich bei allen Völkern der Erde
mit schamloser Eitelkeit zu zeigen liebt, daß sich Deutschland nicht mit Kriegs-
ruhm und Eroberung begnügt hat und begnügen konnte, daß die Triumphe
der Volkskraft und der Waffen dein erstaunten Europa die Augen öffneten
für die viel tiefer liegende und weiter reichende Überlegenheit eines gesundem,
jugendlich elastischeru und vorwärtsdrängenden Volkes.

Wer sich also den Anschein giebt, er erwarte von der Rückgabe Elsaß-
Lothriugeus die Aufrichtung des Friedensreiches in Europa, der kann ent¬
weder die Wahrheit nicht sehen, oder er will sie nicht sehen. Dieses Mittel an¬
wenden, hieße die Gefahr mir verhüllen, nicht beschwören. Die wahre Gefahr
für Europa liegt nicht so offen und oben ans. Sie ist in der Unvermeid¬
lichkeit des französischen Niedergangs zu suchen. Es giebt in jeder Ge¬
sellschaft, auch in der Staateugesellschaft, Elemente, in deren Wesen eine an¬
steckende Beunruhigung liegt. Europa war vou 1840 bis 1870 an dem innern
Unbehagen Frankreichs mit erkrankt, und seitdem krankt es an der Unlust


wo stehn die Wolken?

Kenntnis für uns von großem Werte ist. Wir wollen versuchen, ihr Dolmetscher
zu sein.

Nicht, daß wir Elsaß-Lothringen haben, kränkt unsre wohlwollenden Nach¬
barn um Genfersee und anderswo so sehr, als daß wir stark sind, stärker als
man uns seit Jahrhunderten gekannt hat. Was den Franzosen und Französ-
lingeu noch heute so schwer auf dem Herzen liegt, wie an dem ersten Tage
der neuen Zeit, an dem von Königgrätz, das ist das Wiedererstehen des
starken Reichs, mit dem man dort längst vergessen hatte politisch zu rechnen.
Und daß ein großer Teil der Kraft, mit der wir uus in der Mitte Europas
erhoben haben, uns aus den Quellen zufloß, die zu gleicher Zeit für unsre
westliche» Nachbarn zu versiegen begannen, das erhöht den Schmerz der Nieder¬
lage und bei den Freunden der Niedergeworfnen das Mitgefühl. Es ist eine
der häufigsten, größten und gefährlichsten Täuschungen politischer Kurzsichtig¬
keit, die Quelle eiues Übels da zu suchen, wo es, allen sichtbar, groß und häßlich
hervorgebrochen ist. Das Aufstreben Deutschlands und Italiens und die Umge¬
staltung Österreichs Hütten ohne alle militärischen Niederlagen für Frankreich
langsamer, aber ebenso sicher die politische Lage geschaffen, in der es sich heute
windet. Und es hätte den Verzicht auf die Vormachtstellung in Europa nie
ohne Kampf geleistet. Auch ohne Metz und Sedan wäre das Ende des dritten
Kaiserreichs ein Ende voll Schmach und Schrecken geworden, auch ohne die
Verlornen Departements wäre die Bevölkerung Frankreichs jedes Jahr weiter
hinter der deutscheu zurückgeblieben, auch ohne den Verlust an Kriegsruhm
wäre die längst vorbereitete vvoaclenos in Wissenschaft und Litteratur immer
klarer geworden, auch ohne die fünf Milliarden würde die notwendige Folge
der Verlotterung des Unterrichts und der Erziehung auf alleu Stufen, der
Rückgang im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht ausgeblieben sein. Gerade das
ist das brennende in der Wunde, die Frankreich bei allen Völkern der Erde
mit schamloser Eitelkeit zu zeigen liebt, daß sich Deutschland nicht mit Kriegs-
ruhm und Eroberung begnügt hat und begnügen konnte, daß die Triumphe
der Volkskraft und der Waffen dein erstaunten Europa die Augen öffneten
für die viel tiefer liegende und weiter reichende Überlegenheit eines gesundem,
jugendlich elastischeru und vorwärtsdrängenden Volkes.

Wer sich also den Anschein giebt, er erwarte von der Rückgabe Elsaß-
Lothriugeus die Aufrichtung des Friedensreiches in Europa, der kann ent¬
weder die Wahrheit nicht sehen, oder er will sie nicht sehen. Dieses Mittel an¬
wenden, hieße die Gefahr mir verhüllen, nicht beschwören. Die wahre Gefahr
für Europa liegt nicht so offen und oben ans. Sie ist in der Unvermeid¬
lichkeit des französischen Niedergangs zu suchen. Es giebt in jeder Ge¬
sellschaft, auch in der Staateugesellschaft, Elemente, in deren Wesen eine an¬
steckende Beunruhigung liegt. Europa war vou 1840 bis 1870 an dem innern
Unbehagen Frankreichs mit erkrankt, und seitdem krankt es an der Unlust


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[0577] wo stehn die Wolken? Kenntnis für uns von großem Werte ist. Wir wollen versuchen, ihr Dolmetscher zu sein. Nicht, daß wir Elsaß-Lothringen haben, kränkt unsre wohlwollenden Nach¬ barn um Genfersee und anderswo so sehr, als daß wir stark sind, stärker als man uns seit Jahrhunderten gekannt hat. Was den Franzosen und Französ- lingeu noch heute so schwer auf dem Herzen liegt, wie an dem ersten Tage der neuen Zeit, an dem von Königgrätz, das ist das Wiedererstehen des starken Reichs, mit dem man dort längst vergessen hatte politisch zu rechnen. Und daß ein großer Teil der Kraft, mit der wir uus in der Mitte Europas erhoben haben, uns aus den Quellen zufloß, die zu gleicher Zeit für unsre westliche» Nachbarn zu versiegen begannen, das erhöht den Schmerz der Nieder¬ lage und bei den Freunden der Niedergeworfnen das Mitgefühl. Es ist eine der häufigsten, größten und gefährlichsten Täuschungen politischer Kurzsichtig¬ keit, die Quelle eiues Übels da zu suchen, wo es, allen sichtbar, groß und häßlich hervorgebrochen ist. Das Aufstreben Deutschlands und Italiens und die Umge¬ staltung Österreichs Hütten ohne alle militärischen Niederlagen für Frankreich langsamer, aber ebenso sicher die politische Lage geschaffen, in der es sich heute windet. Und es hätte den Verzicht auf die Vormachtstellung in Europa nie ohne Kampf geleistet. Auch ohne Metz und Sedan wäre das Ende des dritten Kaiserreichs ein Ende voll Schmach und Schrecken geworden, auch ohne die Verlornen Departements wäre die Bevölkerung Frankreichs jedes Jahr weiter hinter der deutscheu zurückgeblieben, auch ohne den Verlust an Kriegsruhm wäre die längst vorbereitete vvoaclenos in Wissenschaft und Litteratur immer klarer geworden, auch ohne die fünf Milliarden würde die notwendige Folge der Verlotterung des Unterrichts und der Erziehung auf alleu Stufen, der Rückgang im wirtschaftlichen Wettbewerb nicht ausgeblieben sein. Gerade das ist das brennende in der Wunde, die Frankreich bei allen Völkern der Erde mit schamloser Eitelkeit zu zeigen liebt, daß sich Deutschland nicht mit Kriegs- ruhm und Eroberung begnügt hat und begnügen konnte, daß die Triumphe der Volkskraft und der Waffen dein erstaunten Europa die Augen öffneten für die viel tiefer liegende und weiter reichende Überlegenheit eines gesundem, jugendlich elastischeru und vorwärtsdrängenden Volkes. Wer sich also den Anschein giebt, er erwarte von der Rückgabe Elsaß- Lothriugeus die Aufrichtung des Friedensreiches in Europa, der kann ent¬ weder die Wahrheit nicht sehen, oder er will sie nicht sehen. Dieses Mittel an¬ wenden, hieße die Gefahr mir verhüllen, nicht beschwören. Die wahre Gefahr für Europa liegt nicht so offen und oben ans. Sie ist in der Unvermeid¬ lichkeit des französischen Niedergangs zu suchen. Es giebt in jeder Ge¬ sellschaft, auch in der Staateugesellschaft, Elemente, in deren Wesen eine an¬ steckende Beunruhigung liegt. Europa war vou 1840 bis 1870 an dem innern Unbehagen Frankreichs mit erkrankt, und seitdem krankt es an der Unlust

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/577>, abgerufen am 23.07.2024.