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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe

verstehen des wirklichen Lebens, diese unschuldigen, herzerfreuenden Paukereien
von Polizei und Gerichts wegen als kriminell strafbaren Zweikampf zu ver¬
folgen. Wie reimt sich dazu, daß die Fürsten, die Kultusminister und die
hohen Beamten, wenn sie einmal wieder eine Universitätsstadt besuchen, so
häufig bei den Korps zu finden sind und in fröhlichem Gedenken an alte schöne
und frohe Zeiten, die wirklich zum Teil einem irdischen deutschen Walhalla
glichen, auf das Vivs-t, llorsÄt, und vresoat der Korps trinken? Was kann
das anders heißen, als: mögt ihr Jungen noch immer so freudig weiter stu-
diren, oder auch pauken und zechen, wie es bisher Brauch war! Welch ein
Widerspruch nun, solch einen jungen, harmlosen Pankanten als Delinquenten
vor den Strafrichter zu ziehen, ihn durch Polizeibüttel Herumhetzen zu lassen,
während die hohen Vorgesetzten dieser Polizisten ihre Söhne in die Korps
eintreten lassen und sie dadurch zum "Pauken" veranlassen! Sollen denn unsre
Jungen nur noch über den Büchern und "zu den Füßen" ihrer Lehrer hocken?
Das können sie nicht, und alle polizeilichen Plackereien werden sie nicht dazu
zwingen.

Also alles deutet auf eine starke Ader von Kampfesmut und Kampfeslust
in der deutschen Volksseele, und doch soll nun der Deutsche ein so besonders
friedliches Wesen sein? O ja. auch diese Ansicht ist ja leider zu verständlich.
Denn in der unsäglichen Not, Pein und Zerfleischung des dreißigjährigen
Krieges wurden die Deutschen infolge ihrer Uneinigkeit so mürbe, so erbärmlich
mürbe geschlagen, daß sie in der folgenden Zeit weichmütige Duckmäuser
wurden. Dazu die Armut, dann die unselige Zerrissenheit der deutschen Nation,
die Souveränität all der kleinen Dynasten, die Schwäche und die undeutsche
Gesinnung des Habsburgischen Kniserhauses, die Eroberungszüge des gierigen
französischen Nachbarn, das Gefühl der Nichtigkeit, das jedem Angehörigen
eines kleinen deutschen Ländchens gegenüber den Angehörigen der gro߬
mächtigen andern Nationen innewohnte, dies alles gab in den zwei Jahr¬
hunderten seit dem dreißigjährigen Kriege dem Deutschen das erbärmliche fried¬
lich duckmäuserische Gepräge, das armselige gedrückte, schmiegsame Wesen, das
demütige Kriechen vor dem Mächtigen, dem Vornehmen, dem Ausländer.
Es trieb auch im Auslande so viele Deutsche dazu, ihre Nationalität zu ver¬
leugnen und abzulegen. Nun denke man zurück an die Zeit von 1870! Es
war groß, es war herrlich, diese Wochen allein waren es wert, gelebt zu
haben! Wie in einem Gedichte, so dramatisch, so ergreifend war das alles;
ein Volk, das die Welt immer nur uneinig gesehen hatte, das verspottete
Volk der "Denker und Dichter" plötzlich einig, jauchzend, sich wie ein Riese
erhebend und mit Sturmesgewalt den frechen Feind znrückfegend, feindliche
Armeen im Felde gefangen genommen, der Franzoseukaiser nach Deutschland
abgeführt, Paris erobert! Eine herrliche Begeisterung und Einigkeit aller Fürsten
und Völker, Großmut und Edelsinn, wahre Gottesfurcht sichtbar in allen


Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe

verstehen des wirklichen Lebens, diese unschuldigen, herzerfreuenden Paukereien
von Polizei und Gerichts wegen als kriminell strafbaren Zweikampf zu ver¬
folgen. Wie reimt sich dazu, daß die Fürsten, die Kultusminister und die
hohen Beamten, wenn sie einmal wieder eine Universitätsstadt besuchen, so
häufig bei den Korps zu finden sind und in fröhlichem Gedenken an alte schöne
und frohe Zeiten, die wirklich zum Teil einem irdischen deutschen Walhalla
glichen, auf das Vivs-t, llorsÄt, und vresoat der Korps trinken? Was kann
das anders heißen, als: mögt ihr Jungen noch immer so freudig weiter stu-
diren, oder auch pauken und zechen, wie es bisher Brauch war! Welch ein
Widerspruch nun, solch einen jungen, harmlosen Pankanten als Delinquenten
vor den Strafrichter zu ziehen, ihn durch Polizeibüttel Herumhetzen zu lassen,
während die hohen Vorgesetzten dieser Polizisten ihre Söhne in die Korps
eintreten lassen und sie dadurch zum „Pauken" veranlassen! Sollen denn unsre
Jungen nur noch über den Büchern und „zu den Füßen" ihrer Lehrer hocken?
Das können sie nicht, und alle polizeilichen Plackereien werden sie nicht dazu
zwingen.

Also alles deutet auf eine starke Ader von Kampfesmut und Kampfeslust
in der deutschen Volksseele, und doch soll nun der Deutsche ein so besonders
friedliches Wesen sein? O ja. auch diese Ansicht ist ja leider zu verständlich.
Denn in der unsäglichen Not, Pein und Zerfleischung des dreißigjährigen
Krieges wurden die Deutschen infolge ihrer Uneinigkeit so mürbe, so erbärmlich
mürbe geschlagen, daß sie in der folgenden Zeit weichmütige Duckmäuser
wurden. Dazu die Armut, dann die unselige Zerrissenheit der deutschen Nation,
die Souveränität all der kleinen Dynasten, die Schwäche und die undeutsche
Gesinnung des Habsburgischen Kniserhauses, die Eroberungszüge des gierigen
französischen Nachbarn, das Gefühl der Nichtigkeit, das jedem Angehörigen
eines kleinen deutschen Ländchens gegenüber den Angehörigen der gro߬
mächtigen andern Nationen innewohnte, dies alles gab in den zwei Jahr¬
hunderten seit dem dreißigjährigen Kriege dem Deutschen das erbärmliche fried¬
lich duckmäuserische Gepräge, das armselige gedrückte, schmiegsame Wesen, das
demütige Kriechen vor dem Mächtigen, dem Vornehmen, dem Ausländer.
Es trieb auch im Auslande so viele Deutsche dazu, ihre Nationalität zu ver¬
leugnen und abzulegen. Nun denke man zurück an die Zeit von 1870! Es
war groß, es war herrlich, diese Wochen allein waren es wert, gelebt zu
haben! Wie in einem Gedichte, so dramatisch, so ergreifend war das alles;
ein Volk, das die Welt immer nur uneinig gesehen hatte, das verspottete
Volk der „Denker und Dichter" plötzlich einig, jauchzend, sich wie ein Riese
erhebend und mit Sturmesgewalt den frechen Feind znrückfegend, feindliche
Armeen im Felde gefangen genommen, der Franzoseukaiser nach Deutschland
abgeführt, Paris erobert! Eine herrliche Begeisterung und Einigkeit aller Fürsten
und Völker, Großmut und Edelsinn, wahre Gottesfurcht sichtbar in allen


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[0540] Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe verstehen des wirklichen Lebens, diese unschuldigen, herzerfreuenden Paukereien von Polizei und Gerichts wegen als kriminell strafbaren Zweikampf zu ver¬ folgen. Wie reimt sich dazu, daß die Fürsten, die Kultusminister und die hohen Beamten, wenn sie einmal wieder eine Universitätsstadt besuchen, so häufig bei den Korps zu finden sind und in fröhlichem Gedenken an alte schöne und frohe Zeiten, die wirklich zum Teil einem irdischen deutschen Walhalla glichen, auf das Vivs-t, llorsÄt, und vresoat der Korps trinken? Was kann das anders heißen, als: mögt ihr Jungen noch immer so freudig weiter stu- diren, oder auch pauken und zechen, wie es bisher Brauch war! Welch ein Widerspruch nun, solch einen jungen, harmlosen Pankanten als Delinquenten vor den Strafrichter zu ziehen, ihn durch Polizeibüttel Herumhetzen zu lassen, während die hohen Vorgesetzten dieser Polizisten ihre Söhne in die Korps eintreten lassen und sie dadurch zum „Pauken" veranlassen! Sollen denn unsre Jungen nur noch über den Büchern und „zu den Füßen" ihrer Lehrer hocken? Das können sie nicht, und alle polizeilichen Plackereien werden sie nicht dazu zwingen. Also alles deutet auf eine starke Ader von Kampfesmut und Kampfeslust in der deutschen Volksseele, und doch soll nun der Deutsche ein so besonders friedliches Wesen sein? O ja. auch diese Ansicht ist ja leider zu verständlich. Denn in der unsäglichen Not, Pein und Zerfleischung des dreißigjährigen Krieges wurden die Deutschen infolge ihrer Uneinigkeit so mürbe, so erbärmlich mürbe geschlagen, daß sie in der folgenden Zeit weichmütige Duckmäuser wurden. Dazu die Armut, dann die unselige Zerrissenheit der deutschen Nation, die Souveränität all der kleinen Dynasten, die Schwäche und die undeutsche Gesinnung des Habsburgischen Kniserhauses, die Eroberungszüge des gierigen französischen Nachbarn, das Gefühl der Nichtigkeit, das jedem Angehörigen eines kleinen deutschen Ländchens gegenüber den Angehörigen der gro߬ mächtigen andern Nationen innewohnte, dies alles gab in den zwei Jahr¬ hunderten seit dem dreißigjährigen Kriege dem Deutschen das erbärmliche fried¬ lich duckmäuserische Gepräge, das armselige gedrückte, schmiegsame Wesen, das demütige Kriechen vor dem Mächtigen, dem Vornehmen, dem Ausländer. Es trieb auch im Auslande so viele Deutsche dazu, ihre Nationalität zu ver¬ leugnen und abzulegen. Nun denke man zurück an die Zeit von 1870! Es war groß, es war herrlich, diese Wochen allein waren es wert, gelebt zu haben! Wie in einem Gedichte, so dramatisch, so ergreifend war das alles; ein Volk, das die Welt immer nur uneinig gesehen hatte, das verspottete Volk der „Denker und Dichter" plötzlich einig, jauchzend, sich wie ein Riese erhebend und mit Sturmesgewalt den frechen Feind znrückfegend, feindliche Armeen im Felde gefangen genommen, der Franzoseukaiser nach Deutschland abgeführt, Paris erobert! Eine herrliche Begeisterung und Einigkeit aller Fürsten und Völker, Großmut und Edelsinn, wahre Gottesfurcht sichtbar in allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/540>, abgerufen am 23.07.2024.