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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe

aß Mißmut, Unzufriedenheit im deutscheu Volke weit verbreitet
ist, liegt mir allzu deutlich am Tage, Was ist der Grund
dieser Unzufriedenheit? Die einen sagen: die wirtschaftliche
Not. In der That mögen Industrie und Landwirtschaft, sowie
manche Veamtenklnsscn mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen
haben. Aber die Unzufriedenheit zeigt sich auch in weiten Kreisen der Staats¬
bürger, die nicht unmittelbar oder gar nicht von den Schwankungen des Welt¬
marktes getroffen werden.

Andre sagen, der Grund liege in der immer mehr um sich fressenden
Glaubenslosigkeit, der Abwendung von allem Idealen, und sie geben die Schuld
davon der modernen pessimistischen Philosophie, die die Geister verwirre und
lahme. Aber das Volk liest weder Schopenhauer uoch Hartmann; ist deren
Weltanschauung, verstanden oder mißverstanden, in größere Kreise gesickert, so
ist das mir dadurch möglich gewesen, daß sie den Boden vorbereitet gefunden
hat. Sie mag ihn gedüngt haben, aber die Smal der Unzufriedenheit, die
überall emporgeschossen ist, haben diese Philosophen nicht erst gesät.

Mit größerem Rechte wird anzunehmen sein, daß der Mißmut und die
Kleingläubigkeit nichts andres sind, als der Zustand der Ebbe im geistigen
und nationalen Leben, die in notwendigen ursächlichen Zusammenhange mit
der vorhergegangnen Hochflut begeisterten Aufschwungs steht. Eine Flut ist
jn nicht möglich ohne Ebbe; sollen hohe Wellen dasein, so muß es auch
tiefe Thäler zwischen den wogenden Bergen geben. Ist das Pendel am höchsten
gestiegen, so ist der Fall notwendig. Wie der einzelne nicht immer freude-
errcgt und begeistert sein kann, so auch eine Nation. Es mußte also auf die
begeisterte Erhebung und die großen Bewegungen und Erregungen eine Zeit
der geistigen und moralischen Abspannung und Erschlaffung folgen. Und da


Grenzboten II 1393 67


Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe

aß Mißmut, Unzufriedenheit im deutscheu Volke weit verbreitet
ist, liegt mir allzu deutlich am Tage, Was ist der Grund
dieser Unzufriedenheit? Die einen sagen: die wirtschaftliche
Not. In der That mögen Industrie und Landwirtschaft, sowie
manche Veamtenklnsscn mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen
haben. Aber die Unzufriedenheit zeigt sich auch in weiten Kreisen der Staats¬
bürger, die nicht unmittelbar oder gar nicht von den Schwankungen des Welt¬
marktes getroffen werden.

Andre sagen, der Grund liege in der immer mehr um sich fressenden
Glaubenslosigkeit, der Abwendung von allem Idealen, und sie geben die Schuld
davon der modernen pessimistischen Philosophie, die die Geister verwirre und
lahme. Aber das Volk liest weder Schopenhauer uoch Hartmann; ist deren
Weltanschauung, verstanden oder mißverstanden, in größere Kreise gesickert, so
ist das mir dadurch möglich gewesen, daß sie den Boden vorbereitet gefunden
hat. Sie mag ihn gedüngt haben, aber die Smal der Unzufriedenheit, die
überall emporgeschossen ist, haben diese Philosophen nicht erst gesät.

Mit größerem Rechte wird anzunehmen sein, daß der Mißmut und die
Kleingläubigkeit nichts andres sind, als der Zustand der Ebbe im geistigen
und nationalen Leben, die in notwendigen ursächlichen Zusammenhange mit
der vorhergegangnen Hochflut begeisterten Aufschwungs steht. Eine Flut ist
jn nicht möglich ohne Ebbe; sollen hohe Wellen dasein, so muß es auch
tiefe Thäler zwischen den wogenden Bergen geben. Ist das Pendel am höchsten
gestiegen, so ist der Fall notwendig. Wie der einzelne nicht immer freude-
errcgt und begeistert sein kann, so auch eine Nation. Es mußte also auf die
begeisterte Erhebung und die großen Bewegungen und Erregungen eine Zeit
der geistigen und moralischen Abspannung und Erschlaffung folgen. Und da


Grenzboten II 1393 67
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[0538] [Abbildung] Die herrschende Unzufriedenheit und ihre Gründe aß Mißmut, Unzufriedenheit im deutscheu Volke weit verbreitet ist, liegt mir allzu deutlich am Tage, Was ist der Grund dieser Unzufriedenheit? Die einen sagen: die wirtschaftliche Not. In der That mögen Industrie und Landwirtschaft, sowie manche Veamtenklnsscn mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Aber die Unzufriedenheit zeigt sich auch in weiten Kreisen der Staats¬ bürger, die nicht unmittelbar oder gar nicht von den Schwankungen des Welt¬ marktes getroffen werden. Andre sagen, der Grund liege in der immer mehr um sich fressenden Glaubenslosigkeit, der Abwendung von allem Idealen, und sie geben die Schuld davon der modernen pessimistischen Philosophie, die die Geister verwirre und lahme. Aber das Volk liest weder Schopenhauer uoch Hartmann; ist deren Weltanschauung, verstanden oder mißverstanden, in größere Kreise gesickert, so ist das mir dadurch möglich gewesen, daß sie den Boden vorbereitet gefunden hat. Sie mag ihn gedüngt haben, aber die Smal der Unzufriedenheit, die überall emporgeschossen ist, haben diese Philosophen nicht erst gesät. Mit größerem Rechte wird anzunehmen sein, daß der Mißmut und die Kleingläubigkeit nichts andres sind, als der Zustand der Ebbe im geistigen und nationalen Leben, die in notwendigen ursächlichen Zusammenhange mit der vorhergegangnen Hochflut begeisterten Aufschwungs steht. Eine Flut ist jn nicht möglich ohne Ebbe; sollen hohe Wellen dasein, so muß es auch tiefe Thäler zwischen den wogenden Bergen geben. Ist das Pendel am höchsten gestiegen, so ist der Fall notwendig. Wie der einzelne nicht immer freude- errcgt und begeistert sein kann, so auch eine Nation. Es mußte also auf die begeisterte Erhebung und die großen Bewegungen und Erregungen eine Zeit der geistigen und moralischen Abspannung und Erschlaffung folgen. Und da Grenzboten II 1393 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/538>, abgerufen am 23.07.2024.