Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Dichtende Lranen bleiben. Flugs läuft sie mit Rami, ihrem Herzallerliebsten in die weite Welt, Und nun denkt Sela, denkt zum Hinwerdeu, ja zum "Zerschmcttertwerden," Er stellt sich vor. "Ich heiße Wahn." Seine gesellschaftliche Stellung: "Welt¬ Es ist gar kein Wunder, daß eine junge Dame, die so viel denkt, auch Was begriff sie denn? Hören wir ihre Mahnung: Dichtende Lranen bleiben. Flugs läuft sie mit Rami, ihrem Herzallerliebsten in die weite Welt, Und nun denkt Sela, denkt zum Hinwerdeu, ja zum „Zerschmcttertwerden," Er stellt sich vor. „Ich heiße Wahn." Seine gesellschaftliche Stellung: „Welt¬ Es ist gar kein Wunder, daß eine junge Dame, die so viel denkt, auch Was begriff sie denn? Hören wir ihre Mahnung: <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0519" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214974"/> <fw type="header" place="top"> Dichtende Lranen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2014" prev="#ID_2013" next="#ID_2015"> bleiben. Flugs läuft sie mit Rami, ihrem Herzallerliebsten in die weite Welt,<lb/> um Studien in der vergleichenden Religionswissenschaft zu machen. Wer„Rami"<lb/> ist, wissen wir nicht. Der Religionslehrer keinesfalls. Er stirbt um Entkräf¬<lb/> tung, und kein Glaube kann sie, die Entkräftete, darüber trösten, nur das<lb/> Wort eines ,,alten — entkräfteter — Weisen ihres Stammes," das gleich¬<lb/> wohl sett gedruckt ist:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_37" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2015" prev="#ID_2014" next="#ID_2016"> Und nun denkt Sela, denkt zum Hinwerdeu, ja zum „Zerschmcttertwerden,"<lb/> um in ihrer Ausdrucksweise zu reden. Aber sie denkt an alles andre, nur<lb/> nicht an ihren armen „Rami"; Rami müßte denn die Verkörperung von allen:<lb/> möglichen und noch einigem andern sein, ein Allerweltstausendsassa, vielleicht<lb/> der Gedanke in höchsteigner Person. Sie denkt, wie es dem Cäsar zu Mute<lb/> ist, wenn er die Lust verspürt, einmal inkognito über die Friedrichstraße zu<lb/> gehen, was sicher sehr schwer möglich ist. Sie denkt, was sich Semiramis<lb/> denkt, da sie einem unverheirateten jungen Manne einen einsamen Besuch<lb/> macht, um ihn zu überzeugen, daß ,,das reine Weib der heiligen Sonne<lb/> gleicht," der ,,goldnen Schwester von Semiramis/' Ja sie denkt sogar, was<lb/> „Jehovah" nicht denken kann, daß es denkbar ist: nämlich, daß einer ist,<lb/> der da ,,ist wie er." Es ist natürlich ein junger Mann</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_38" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2016" prev="#ID_2015"> Er stellt sich vor. „Ich heiße Wahn." Seine gesellschaftliche Stellung: „Welt¬<lb/> erhalter." Jchovcih läßt sich die Belehrung gefallen, daß er bisher mit Un¬<lb/> recht gedacht hat, mehr zu sein als simpler „Weltschöpfer." Sela denkt eben<lb/> weiter, als Jehovcch denkt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2017" next="#ID_2018"> Es ist gar kein Wunder, daß eine junge Dame, die so viel denkt, auch<lb/> viel „begreift." Sie „schaut die Gottheit, ehvor sie der Vernichtung sich ver¬<lb/> mählt, kraft unsers Glaubens Verheißung." Wem verheißt denn dieses<lb/> Schauen unsers Glaubens Verheißung? Ach, das gehört ja nicht hierher.<lb/> Also sie schaut, „verhüllt weinend sich bei jenem Anblick"</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_39" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2018" prev="#ID_2017"> Was begriff sie denn? Hören wir ihre Mahnung:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0519]
Dichtende Lranen
bleiben. Flugs läuft sie mit Rami, ihrem Herzallerliebsten in die weite Welt,
um Studien in der vergleichenden Religionswissenschaft zu machen. Wer„Rami"
ist, wissen wir nicht. Der Religionslehrer keinesfalls. Er stirbt um Entkräf¬
tung, und kein Glaube kann sie, die Entkräftete, darüber trösten, nur das
Wort eines ,,alten — entkräfteter — Weisen ihres Stammes," das gleich¬
wohl sett gedruckt ist:
Und nun denkt Sela, denkt zum Hinwerdeu, ja zum „Zerschmcttertwerden,"
um in ihrer Ausdrucksweise zu reden. Aber sie denkt an alles andre, nur
nicht an ihren armen „Rami"; Rami müßte denn die Verkörperung von allen:
möglichen und noch einigem andern sein, ein Allerweltstausendsassa, vielleicht
der Gedanke in höchsteigner Person. Sie denkt, wie es dem Cäsar zu Mute
ist, wenn er die Lust verspürt, einmal inkognito über die Friedrichstraße zu
gehen, was sicher sehr schwer möglich ist. Sie denkt, was sich Semiramis
denkt, da sie einem unverheirateten jungen Manne einen einsamen Besuch
macht, um ihn zu überzeugen, daß ,,das reine Weib der heiligen Sonne
gleicht," der ,,goldnen Schwester von Semiramis/' Ja sie denkt sogar, was
„Jehovah" nicht denken kann, daß es denkbar ist: nämlich, daß einer ist,
der da ,,ist wie er." Es ist natürlich ein junger Mann
Er stellt sich vor. „Ich heiße Wahn." Seine gesellschaftliche Stellung: „Welt¬
erhalter." Jchovcih läßt sich die Belehrung gefallen, daß er bisher mit Un¬
recht gedacht hat, mehr zu sein als simpler „Weltschöpfer." Sela denkt eben
weiter, als Jehovcch denkt.
Es ist gar kein Wunder, daß eine junge Dame, die so viel denkt, auch
viel „begreift." Sie „schaut die Gottheit, ehvor sie der Vernichtung sich ver¬
mählt, kraft unsers Glaubens Verheißung." Wem verheißt denn dieses
Schauen unsers Glaubens Verheißung? Ach, das gehört ja nicht hierher.
Also sie schaut, „verhüllt weinend sich bei jenem Anblick"
Was begriff sie denn? Hören wir ihre Mahnung:
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