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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Philologenversammlung in Wien

n dem Lärm des Wahlkampfs hat man in Deutschland kaum
Zeit gehabt, auf eine festliche Verunstaltung zu achte", die das
benachbarte und verbündete Österreich während der Pfingstwoche
bot, und die auch aus allen Teilen des deutschen Reiches zahl¬
reiche Teilnehmer angezogen hatte: die zweinndvierzigste Ver¬
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien. Während die
großen Wiener Blätter jeden Tag spaltenlangc Berichte darüber brachten, be¬
gegnete man in den deutschen Zeitungen außerhalb Österreichs kaum einer
flüchtigen Bemerkung. Und doch verdient diese Versammlung eine besondre
Beachtung, weil sie unter den Zusammenkünften dieser Art in der That nach dem
allgemeinen Urteile derer, die ihr beigewohnt haben, bei weitem die eigentüm¬
lichste und glänzendste gewesen ist. Zwar die Zahl der Teilnehmer (917) ist wohl
von der Leipziger Versammlung von 1872 noch um etwas übertroffen worden,
was bei der sehr viel günstigern Lage Leipzigs nicht zu verwundern ist. Da¬
für hat diese Veranstaltung niemals so zahlreiche fremde, nichtdentsche Teil¬
nehmer mit den Dentschen diesseits und jenseits der Reichsgrenze friedlich
vereinigt, wie in Wien. Während die Tschechen aus Böhmen und Mähren
allerdings nur spärlich vertreten waren, hatten andre Kronländer der west¬
lichen wie der östlichen Reichshälfte zahlreiche Teilnehmer gesandt. In be¬
trächtlicher Stärke waren die Polen aus Galizien, die Kroaten und auch die
Ungar" herbeigekommen; selbst die Serben, Bulgaren und Rumänen fehlten
nicht ganz. Aufs lebendigste trat hierin nicht nur die Vielheit der Völker des
habsburgischen Reiches hervor, sondern auch die einigende Macht der Wissen¬
schaft und die führende Stellung, die trotz aller politischen Selbständigkeits-
bcstrebungeu die deutsche Wissenschaft in dein vielsprachigen Österreich und
weit über seine Grenzen hinaus die ganze untere Donau entlang und bis tief
in die Balkanhalbinsel hinein behauptet. Nicht Rußland beherrscht in dieser
Beziehung die Balkanvölker, sondern die deutsche, durch Österreich vermittelte
Bildung, und nicht Budapest ist der geistige Mittelpunkt dieses weiten Länder¬
kreises, sondern das deutsche Wien. Das trat auch darin zu Tage, daß in
den Verhandlungen und Festschriften nirgends eine andre lebende Sprache zu
Worte kam als die deutsche. Nur der Vertreter der Universität Budapest


Grenzboten 1l 1893 62


Die deutsche Philologenversammlung in Wien

n dem Lärm des Wahlkampfs hat man in Deutschland kaum
Zeit gehabt, auf eine festliche Verunstaltung zu achte», die das
benachbarte und verbündete Österreich während der Pfingstwoche
bot, und die auch aus allen Teilen des deutschen Reiches zahl¬
reiche Teilnehmer angezogen hatte: die zweinndvierzigste Ver¬
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien. Während die
großen Wiener Blätter jeden Tag spaltenlangc Berichte darüber brachten, be¬
gegnete man in den deutschen Zeitungen außerhalb Österreichs kaum einer
flüchtigen Bemerkung. Und doch verdient diese Versammlung eine besondre
Beachtung, weil sie unter den Zusammenkünften dieser Art in der That nach dem
allgemeinen Urteile derer, die ihr beigewohnt haben, bei weitem die eigentüm¬
lichste und glänzendste gewesen ist. Zwar die Zahl der Teilnehmer (917) ist wohl
von der Leipziger Versammlung von 1872 noch um etwas übertroffen worden,
was bei der sehr viel günstigern Lage Leipzigs nicht zu verwundern ist. Da¬
für hat diese Veranstaltung niemals so zahlreiche fremde, nichtdentsche Teil¬
nehmer mit den Dentschen diesseits und jenseits der Reichsgrenze friedlich
vereinigt, wie in Wien. Während die Tschechen aus Böhmen und Mähren
allerdings nur spärlich vertreten waren, hatten andre Kronländer der west¬
lichen wie der östlichen Reichshälfte zahlreiche Teilnehmer gesandt. In be¬
trächtlicher Stärke waren die Polen aus Galizien, die Kroaten und auch die
Ungar» herbeigekommen; selbst die Serben, Bulgaren und Rumänen fehlten
nicht ganz. Aufs lebendigste trat hierin nicht nur die Vielheit der Völker des
habsburgischen Reiches hervor, sondern auch die einigende Macht der Wissen¬
schaft und die führende Stellung, die trotz aller politischen Selbständigkeits-
bcstrebungeu die deutsche Wissenschaft in dein vielsprachigen Österreich und
weit über seine Grenzen hinaus die ganze untere Donau entlang und bis tief
in die Balkanhalbinsel hinein behauptet. Nicht Rußland beherrscht in dieser
Beziehung die Balkanvölker, sondern die deutsche, durch Österreich vermittelte
Bildung, und nicht Budapest ist der geistige Mittelpunkt dieses weiten Länder¬
kreises, sondern das deutsche Wien. Das trat auch darin zu Tage, daß in
den Verhandlungen und Festschriften nirgends eine andre lebende Sprache zu
Worte kam als die deutsche. Nur der Vertreter der Universität Budapest


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[0498] [Abbildung] Die deutsche Philologenversammlung in Wien n dem Lärm des Wahlkampfs hat man in Deutschland kaum Zeit gehabt, auf eine festliche Verunstaltung zu achte», die das benachbarte und verbündete Österreich während der Pfingstwoche bot, und die auch aus allen Teilen des deutschen Reiches zahl¬ reiche Teilnehmer angezogen hatte: die zweinndvierzigste Ver¬ sammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Wien. Während die großen Wiener Blätter jeden Tag spaltenlangc Berichte darüber brachten, be¬ gegnete man in den deutschen Zeitungen außerhalb Österreichs kaum einer flüchtigen Bemerkung. Und doch verdient diese Versammlung eine besondre Beachtung, weil sie unter den Zusammenkünften dieser Art in der That nach dem allgemeinen Urteile derer, die ihr beigewohnt haben, bei weitem die eigentüm¬ lichste und glänzendste gewesen ist. Zwar die Zahl der Teilnehmer (917) ist wohl von der Leipziger Versammlung von 1872 noch um etwas übertroffen worden, was bei der sehr viel günstigern Lage Leipzigs nicht zu verwundern ist. Da¬ für hat diese Veranstaltung niemals so zahlreiche fremde, nichtdentsche Teil¬ nehmer mit den Dentschen diesseits und jenseits der Reichsgrenze friedlich vereinigt, wie in Wien. Während die Tschechen aus Böhmen und Mähren allerdings nur spärlich vertreten waren, hatten andre Kronländer der west¬ lichen wie der östlichen Reichshälfte zahlreiche Teilnehmer gesandt. In be¬ trächtlicher Stärke waren die Polen aus Galizien, die Kroaten und auch die Ungar» herbeigekommen; selbst die Serben, Bulgaren und Rumänen fehlten nicht ganz. Aufs lebendigste trat hierin nicht nur die Vielheit der Völker des habsburgischen Reiches hervor, sondern auch die einigende Macht der Wissen¬ schaft und die führende Stellung, die trotz aller politischen Selbständigkeits- bcstrebungeu die deutsche Wissenschaft in dein vielsprachigen Österreich und weit über seine Grenzen hinaus die ganze untere Donau entlang und bis tief in die Balkanhalbinsel hinein behauptet. Nicht Rußland beherrscht in dieser Beziehung die Balkanvölker, sondern die deutsche, durch Österreich vermittelte Bildung, und nicht Budapest ist der geistige Mittelpunkt dieses weiten Länder¬ kreises, sondern das deutsche Wien. Das trat auch darin zu Tage, daß in den Verhandlungen und Festschriften nirgends eine andre lebende Sprache zu Worte kam als die deutsche. Nur der Vertreter der Universität Budapest Grenzboten 1l 1893 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/498>, abgerufen am 23.07.2024.