Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Mangel an geschichtlichem Sinn

Es wäre ein Unterfangen, wie wenn der Physiker das Mehr der nach allen
Seiten ausgeübten Manneskraft -- es ist hier aber nicht die physische ge¬
meint -- vor der des sich noch entwickelnden Jünglings durch Analyse oder
dnrch Messen und Wägen feststellen wollte. Die Wahrheit dieser Satze liegt
auf der Hand. Aber so einleuchtend ihr Inhalt auch sein mag, so würde sich,
wenn die Probe gemacht werden könnte, doch herausstellen, daß nur ein ganz
geringer Prozentsatz selbst der sogenannten denkenden Menschen nicht über die
bloß theoretische Anerkennung dieses Inhalts hinausgedrungen ist. Es ist
eben etwas andres, die formale Richtigkeit eines Satzes zuzugeben, und etwas
andres, seine Wahrheit von innen heraus anzuschauen und sie gleichsam an
sich selbst zu erleben. Das ist es ja, was man den Mangel an geschicht¬
lichem Sinn nennen konnte, ein Maugel, der vielleicht gut und vernünftig
ist, wie alles im Haushalte der Natur. Denn wäre es nicht so, so müßte
der Fortschritt der Menschheit ein rasender sein; er geht aber so langsam,
daß die neuere Philosophie die Entwicklung des Vernunfterkennens überhaupt
leugnet.

Die Geschichte ist nicht da, um den wenn auch noch so langsamen Fort¬
schritt der Ideen zu verzeichnen, sondern sie bedeutet höchstens "den Lärm
um die letzten Neuigkeiten." Mit diesen Worten hat irgendwo Friedrich
Nietzsche den Grad der Achtung festgestellt, in dem gewöhnlich historische Vor¬
gänge in der Menschenwelt stehen. Freilich ist es das entsetzliche Grau des
nahenden Wahnsinns, was dieses und vieles andre dem unglücklichen Manne
in die Feder diktirt hat, aber es ist doch etwas wahres daran. Es wird der
Schule zum Borwurf gemacht, daß sie mit den Ereignissen und den Daten
der Geschichte nur klappere, es ist aber außerhalb ihrer Wände nicht anders.
In unserm Parlamenten ist die Klage laut geworden, daß die Lehrerschaft
den wissensdurstigeu Söhnen der Nation Steine statt des Brotes gebe, aber
was verabreichen sie denn selber dem Volke? Der deutsche Philister weiß
ganz genau, wie es in der Schule mit der Geschichte gemacht werden müßte,
aber wenn man ihm selber ein Bild aus der Vergangenheit zur Selbstspieglung
vorhält, dann weiß er mit derselben Unfehlbarkeit, daß "das nicht hierher
gehört," und ruft: "Zur Sache!"

Die Philister" ist es vor allein, die der Philosophie den Beweis liefert,
daß es keine Freiheit des Willens giebt. Denn die Reize, die auf die Be¬
gierden gehen, haben jeden Augenblick die erstaunlichste Wirkung, während die
Vorhaltungen der Vernunft gerade im Alltagslaufe des Lebens überall zu be¬
weisen scheinen, daß Wollen nicht gelernt werden könne. Und doch so wenig
erkennbar für den Augenblick und so langsam das vernunftmäßige Erkennen
vorwärts schreitet, so häufig wir uns getäuscht, ja an uns selber getäuscht
sehen, sollte" wir deshalb jemals aufhören, an seiner Förderung mit allen
Kräften thätig zu sein? Der Hohn, vielleicht das Mitleid einer anspruchs-


Der Mangel an geschichtlichem Sinn

Es wäre ein Unterfangen, wie wenn der Physiker das Mehr der nach allen
Seiten ausgeübten Manneskraft — es ist hier aber nicht die physische ge¬
meint — vor der des sich noch entwickelnden Jünglings durch Analyse oder
dnrch Messen und Wägen feststellen wollte. Die Wahrheit dieser Satze liegt
auf der Hand. Aber so einleuchtend ihr Inhalt auch sein mag, so würde sich,
wenn die Probe gemacht werden könnte, doch herausstellen, daß nur ein ganz
geringer Prozentsatz selbst der sogenannten denkenden Menschen nicht über die
bloß theoretische Anerkennung dieses Inhalts hinausgedrungen ist. Es ist
eben etwas andres, die formale Richtigkeit eines Satzes zuzugeben, und etwas
andres, seine Wahrheit von innen heraus anzuschauen und sie gleichsam an
sich selbst zu erleben. Das ist es ja, was man den Mangel an geschicht¬
lichem Sinn nennen konnte, ein Maugel, der vielleicht gut und vernünftig
ist, wie alles im Haushalte der Natur. Denn wäre es nicht so, so müßte
der Fortschritt der Menschheit ein rasender sein; er geht aber so langsam,
daß die neuere Philosophie die Entwicklung des Vernunfterkennens überhaupt
leugnet.

Die Geschichte ist nicht da, um den wenn auch noch so langsamen Fort¬
schritt der Ideen zu verzeichnen, sondern sie bedeutet höchstens „den Lärm
um die letzten Neuigkeiten." Mit diesen Worten hat irgendwo Friedrich
Nietzsche den Grad der Achtung festgestellt, in dem gewöhnlich historische Vor¬
gänge in der Menschenwelt stehen. Freilich ist es das entsetzliche Grau des
nahenden Wahnsinns, was dieses und vieles andre dem unglücklichen Manne
in die Feder diktirt hat, aber es ist doch etwas wahres daran. Es wird der
Schule zum Borwurf gemacht, daß sie mit den Ereignissen und den Daten
der Geschichte nur klappere, es ist aber außerhalb ihrer Wände nicht anders.
In unserm Parlamenten ist die Klage laut geworden, daß die Lehrerschaft
den wissensdurstigeu Söhnen der Nation Steine statt des Brotes gebe, aber
was verabreichen sie denn selber dem Volke? Der deutsche Philister weiß
ganz genau, wie es in der Schule mit der Geschichte gemacht werden müßte,
aber wenn man ihm selber ein Bild aus der Vergangenheit zur Selbstspieglung
vorhält, dann weiß er mit derselben Unfehlbarkeit, daß „das nicht hierher
gehört," und ruft: „Zur Sache!"

Die Philister« ist es vor allein, die der Philosophie den Beweis liefert,
daß es keine Freiheit des Willens giebt. Denn die Reize, die auf die Be¬
gierden gehen, haben jeden Augenblick die erstaunlichste Wirkung, während die
Vorhaltungen der Vernunft gerade im Alltagslaufe des Lebens überall zu be¬
weisen scheinen, daß Wollen nicht gelernt werden könne. Und doch so wenig
erkennbar für den Augenblick und so langsam das vernunftmäßige Erkennen
vorwärts schreitet, so häufig wir uns getäuscht, ja an uns selber getäuscht
sehen, sollte» wir deshalb jemals aufhören, an seiner Förderung mit allen
Kräften thätig zu sein? Der Hohn, vielleicht das Mitleid einer anspruchs-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0494" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214949"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Mangel an geschichtlichem Sinn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1895" prev="#ID_1894"> Es wäre ein Unterfangen, wie wenn der Physiker das Mehr der nach allen<lb/>
Seiten ausgeübten Manneskraft &#x2014; es ist hier aber nicht die physische ge¬<lb/>
meint &#x2014; vor der des sich noch entwickelnden Jünglings durch Analyse oder<lb/>
dnrch Messen und Wägen feststellen wollte. Die Wahrheit dieser Satze liegt<lb/>
auf der Hand. Aber so einleuchtend ihr Inhalt auch sein mag, so würde sich,<lb/>
wenn die Probe gemacht werden könnte, doch herausstellen, daß nur ein ganz<lb/>
geringer Prozentsatz selbst der sogenannten denkenden Menschen nicht über die<lb/>
bloß theoretische Anerkennung dieses Inhalts hinausgedrungen ist. Es ist<lb/>
eben etwas andres, die formale Richtigkeit eines Satzes zuzugeben, und etwas<lb/>
andres, seine Wahrheit von innen heraus anzuschauen und sie gleichsam an<lb/>
sich selbst zu erleben. Das ist es ja, was man den Mangel an geschicht¬<lb/>
lichem Sinn nennen konnte, ein Maugel, der vielleicht gut und vernünftig<lb/>
ist, wie alles im Haushalte der Natur. Denn wäre es nicht so, so müßte<lb/>
der Fortschritt der Menschheit ein rasender sein; er geht aber so langsam,<lb/>
daß die neuere Philosophie die Entwicklung des Vernunfterkennens überhaupt<lb/>
leugnet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1896"> Die Geschichte ist nicht da, um den wenn auch noch so langsamen Fort¬<lb/>
schritt der Ideen zu verzeichnen, sondern sie bedeutet höchstens &#x201E;den Lärm<lb/>
um die letzten Neuigkeiten." Mit diesen Worten hat irgendwo Friedrich<lb/>
Nietzsche den Grad der Achtung festgestellt, in dem gewöhnlich historische Vor¬<lb/>
gänge in der Menschenwelt stehen. Freilich ist es das entsetzliche Grau des<lb/>
nahenden Wahnsinns, was dieses und vieles andre dem unglücklichen Manne<lb/>
in die Feder diktirt hat, aber es ist doch etwas wahres daran. Es wird der<lb/>
Schule zum Borwurf gemacht, daß sie mit den Ereignissen und den Daten<lb/>
der Geschichte nur klappere, es ist aber außerhalb ihrer Wände nicht anders.<lb/>
In unserm Parlamenten ist die Klage laut geworden, daß die Lehrerschaft<lb/>
den wissensdurstigeu Söhnen der Nation Steine statt des Brotes gebe, aber<lb/>
was verabreichen sie denn selber dem Volke? Der deutsche Philister weiß<lb/>
ganz genau, wie es in der Schule mit der Geschichte gemacht werden müßte,<lb/>
aber wenn man ihm selber ein Bild aus der Vergangenheit zur Selbstspieglung<lb/>
vorhält, dann weiß er mit derselben Unfehlbarkeit, daß &#x201E;das nicht hierher<lb/>
gehört," und ruft: &#x201E;Zur Sache!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1897" next="#ID_1898"> Die Philister« ist es vor allein, die der Philosophie den Beweis liefert,<lb/>
daß es keine Freiheit des Willens giebt. Denn die Reize, die auf die Be¬<lb/>
gierden gehen, haben jeden Augenblick die erstaunlichste Wirkung, während die<lb/>
Vorhaltungen der Vernunft gerade im Alltagslaufe des Lebens überall zu be¬<lb/>
weisen scheinen, daß Wollen nicht gelernt werden könne. Und doch so wenig<lb/>
erkennbar für den Augenblick und so langsam das vernunftmäßige Erkennen<lb/>
vorwärts schreitet, so häufig wir uns getäuscht, ja an uns selber getäuscht<lb/>
sehen, sollte» wir deshalb jemals aufhören, an seiner Förderung mit allen<lb/>
Kräften thätig zu sein?  Der Hohn, vielleicht das Mitleid einer anspruchs-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0494] Der Mangel an geschichtlichem Sinn Es wäre ein Unterfangen, wie wenn der Physiker das Mehr der nach allen Seiten ausgeübten Manneskraft — es ist hier aber nicht die physische ge¬ meint — vor der des sich noch entwickelnden Jünglings durch Analyse oder dnrch Messen und Wägen feststellen wollte. Die Wahrheit dieser Satze liegt auf der Hand. Aber so einleuchtend ihr Inhalt auch sein mag, so würde sich, wenn die Probe gemacht werden könnte, doch herausstellen, daß nur ein ganz geringer Prozentsatz selbst der sogenannten denkenden Menschen nicht über die bloß theoretische Anerkennung dieses Inhalts hinausgedrungen ist. Es ist eben etwas andres, die formale Richtigkeit eines Satzes zuzugeben, und etwas andres, seine Wahrheit von innen heraus anzuschauen und sie gleichsam an sich selbst zu erleben. Das ist es ja, was man den Mangel an geschicht¬ lichem Sinn nennen konnte, ein Maugel, der vielleicht gut und vernünftig ist, wie alles im Haushalte der Natur. Denn wäre es nicht so, so müßte der Fortschritt der Menschheit ein rasender sein; er geht aber so langsam, daß die neuere Philosophie die Entwicklung des Vernunfterkennens überhaupt leugnet. Die Geschichte ist nicht da, um den wenn auch noch so langsamen Fort¬ schritt der Ideen zu verzeichnen, sondern sie bedeutet höchstens „den Lärm um die letzten Neuigkeiten." Mit diesen Worten hat irgendwo Friedrich Nietzsche den Grad der Achtung festgestellt, in dem gewöhnlich historische Vor¬ gänge in der Menschenwelt stehen. Freilich ist es das entsetzliche Grau des nahenden Wahnsinns, was dieses und vieles andre dem unglücklichen Manne in die Feder diktirt hat, aber es ist doch etwas wahres daran. Es wird der Schule zum Borwurf gemacht, daß sie mit den Ereignissen und den Daten der Geschichte nur klappere, es ist aber außerhalb ihrer Wände nicht anders. In unserm Parlamenten ist die Klage laut geworden, daß die Lehrerschaft den wissensdurstigeu Söhnen der Nation Steine statt des Brotes gebe, aber was verabreichen sie denn selber dem Volke? Der deutsche Philister weiß ganz genau, wie es in der Schule mit der Geschichte gemacht werden müßte, aber wenn man ihm selber ein Bild aus der Vergangenheit zur Selbstspieglung vorhält, dann weiß er mit derselben Unfehlbarkeit, daß „das nicht hierher gehört," und ruft: „Zur Sache!" Die Philister« ist es vor allein, die der Philosophie den Beweis liefert, daß es keine Freiheit des Willens giebt. Denn die Reize, die auf die Be¬ gierden gehen, haben jeden Augenblick die erstaunlichste Wirkung, während die Vorhaltungen der Vernunft gerade im Alltagslaufe des Lebens überall zu be¬ weisen scheinen, daß Wollen nicht gelernt werden könne. Und doch so wenig erkennbar für den Augenblick und so langsam das vernunftmäßige Erkennen vorwärts schreitet, so häufig wir uns getäuscht, ja an uns selber getäuscht sehen, sollte» wir deshalb jemals aufhören, an seiner Förderung mit allen Kräften thätig zu sein? Der Hohn, vielleicht das Mitleid einer anspruchs-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/494
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/494>, abgerufen am 23.07.2024.