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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der Mangel an geschichtlichem Sinn

eigne Hand fährt! Und hat denn Bismarck selbst jemals die Bündnisse höher
gestellt als das eigne Schwert? Ist er es nicht, der das Wort von der
Vündnisfähigkeit erfunden hat, einem Begriff, der gleichbedeutend ist mit der
aufs äußerste angespannten Angriffs- und Wehrkraft eines Volkes?

Wenn solches am grünen Holze geschieht, was Wunder, wenn im Reichs¬
tage, wo die graue Theorie geradezu Orgien feiert, der Doktrinarismus Und
das Fraktionsinteresse fast jeden lebenskräftigen Trieb gleich beim ersten Ver¬
suche des Hervorbrechens wieder zurücktreibt. Einige der wenigen von kon¬
servativer und mittclparteilicher Seite zur Militärvvrlage gehaltenen Reden,
die einigermaßen den hohen staatsmännischen Schwung zeigten, der an bessere
Zeiten erinnerte, war die des Abgeordneten von Bennigsen; aber wie matt
und wie wenig lebensfreudig klangen seine Auslassungen gegen das heiße Pathos
seiner frühern Tage! Es war ein leise und melancholisch ausklingendes Echo
des hellen fröhlichen Schlachtrufs aus der Zeit, als der Begründer des Na¬
tionalvereins dem hannoverschen Welfenreiche das Rückgrat zerschlug. Es ist,
als ob sich die Männer von hente ihrer Thaten von damals schämten, nicht
zwar sie ausgeführt zu haben, sondern als wenn die sie tragende Begeisterung,
die doch das beste an ihnen war, zu jugendlich überschäumend gewesen wäre;
oder als wenn die Fragen der Gegenwart in einer andern, ruhigern Weise
gelöst werden könnten, als die, die vor einem Menschenalter die Gemüter be¬
schäftigten. Aber die Sprödigkeit und Härte des Stoffs verlangt dieselbe Glut,
um ihn zum Schmelzen zu bringen. Wie war es doch damals, als vor dreißig
Jahren in der schweren Zeit des Vcrfassungskonflikts die hannoverischen Libe¬
ralen denen des preußischen Abgeordnetenhauses zurufen durften, daß sie bessere
Preußen seien, als die Brandenburger und Pommern selbst? Wer will be¬
weisen, daß die nationale Not damals größer gewesen sei als jetzt, um die
Verfassungs- und andre Fragen vor ihr zurücktreten zu lassen? Die Um¬
stände mögen verschieden sein, aber im Grunde sind die Forderungen der
Zeit genau dieselben, wie sie es Anfang der sechziger Jahre waren. Man
sollte sich, um das zu erkennen, den ruhigen und klaren Blick dnrch das Ge¬
schrei und das Gekläff des Tages nicht trüben lassen, sondern je lauter dieses
wird, ihn um so mehr geschärft erhalten, damit er durch alle die Wirrnisse
und den absichtlich aufgewirbelten Staub in den Kern der Dinge hineinschaue.
Vor allein aber müßte man sich ans dieser Vertiefung die Wahrheit herauf¬
holen, daß bei aller Gleichheit dem Wesen nach die Zeit in ihrem Fortschreiten
insofern eine andre geworden ist, als die Volkszahl und die Volkskraft, die
letztere allein schon durch ihre Übung, eine ungewöhnliche Steigerung erfahren
haben, und daß damit auch der Anspruch auf vermehrte Leistung nicht bloß
berechtigt, sondern sogar notwendig ist. Welcher Statistiker aber wäre so ver¬
messen, über diese gesteigerte Leistungsfähigkeit, so weit sie nur von der Kraft'
übnng abhängig ist, in Zahlen annähernd richtige Angaben machen zu wollen?


Der Mangel an geschichtlichem Sinn

eigne Hand fährt! Und hat denn Bismarck selbst jemals die Bündnisse höher
gestellt als das eigne Schwert? Ist er es nicht, der das Wort von der
Vündnisfähigkeit erfunden hat, einem Begriff, der gleichbedeutend ist mit der
aufs äußerste angespannten Angriffs- und Wehrkraft eines Volkes?

Wenn solches am grünen Holze geschieht, was Wunder, wenn im Reichs¬
tage, wo die graue Theorie geradezu Orgien feiert, der Doktrinarismus Und
das Fraktionsinteresse fast jeden lebenskräftigen Trieb gleich beim ersten Ver¬
suche des Hervorbrechens wieder zurücktreibt. Einige der wenigen von kon¬
servativer und mittclparteilicher Seite zur Militärvvrlage gehaltenen Reden,
die einigermaßen den hohen staatsmännischen Schwung zeigten, der an bessere
Zeiten erinnerte, war die des Abgeordneten von Bennigsen; aber wie matt
und wie wenig lebensfreudig klangen seine Auslassungen gegen das heiße Pathos
seiner frühern Tage! Es war ein leise und melancholisch ausklingendes Echo
des hellen fröhlichen Schlachtrufs aus der Zeit, als der Begründer des Na¬
tionalvereins dem hannoverschen Welfenreiche das Rückgrat zerschlug. Es ist,
als ob sich die Männer von hente ihrer Thaten von damals schämten, nicht
zwar sie ausgeführt zu haben, sondern als wenn die sie tragende Begeisterung,
die doch das beste an ihnen war, zu jugendlich überschäumend gewesen wäre;
oder als wenn die Fragen der Gegenwart in einer andern, ruhigern Weise
gelöst werden könnten, als die, die vor einem Menschenalter die Gemüter be¬
schäftigten. Aber die Sprödigkeit und Härte des Stoffs verlangt dieselbe Glut,
um ihn zum Schmelzen zu bringen. Wie war es doch damals, als vor dreißig
Jahren in der schweren Zeit des Vcrfassungskonflikts die hannoverischen Libe¬
ralen denen des preußischen Abgeordnetenhauses zurufen durften, daß sie bessere
Preußen seien, als die Brandenburger und Pommern selbst? Wer will be¬
weisen, daß die nationale Not damals größer gewesen sei als jetzt, um die
Verfassungs- und andre Fragen vor ihr zurücktreten zu lassen? Die Um¬
stände mögen verschieden sein, aber im Grunde sind die Forderungen der
Zeit genau dieselben, wie sie es Anfang der sechziger Jahre waren. Man
sollte sich, um das zu erkennen, den ruhigen und klaren Blick dnrch das Ge¬
schrei und das Gekläff des Tages nicht trüben lassen, sondern je lauter dieses
wird, ihn um so mehr geschärft erhalten, damit er durch alle die Wirrnisse
und den absichtlich aufgewirbelten Staub in den Kern der Dinge hineinschaue.
Vor allein aber müßte man sich ans dieser Vertiefung die Wahrheit herauf¬
holen, daß bei aller Gleichheit dem Wesen nach die Zeit in ihrem Fortschreiten
insofern eine andre geworden ist, als die Volkszahl und die Volkskraft, die
letztere allein schon durch ihre Übung, eine ungewöhnliche Steigerung erfahren
haben, und daß damit auch der Anspruch auf vermehrte Leistung nicht bloß
berechtigt, sondern sogar notwendig ist. Welcher Statistiker aber wäre so ver¬
messen, über diese gesteigerte Leistungsfähigkeit, so weit sie nur von der Kraft'
übnng abhängig ist, in Zahlen annähernd richtige Angaben machen zu wollen?


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[0493] Der Mangel an geschichtlichem Sinn eigne Hand fährt! Und hat denn Bismarck selbst jemals die Bündnisse höher gestellt als das eigne Schwert? Ist er es nicht, der das Wort von der Vündnisfähigkeit erfunden hat, einem Begriff, der gleichbedeutend ist mit der aufs äußerste angespannten Angriffs- und Wehrkraft eines Volkes? Wenn solches am grünen Holze geschieht, was Wunder, wenn im Reichs¬ tage, wo die graue Theorie geradezu Orgien feiert, der Doktrinarismus Und das Fraktionsinteresse fast jeden lebenskräftigen Trieb gleich beim ersten Ver¬ suche des Hervorbrechens wieder zurücktreibt. Einige der wenigen von kon¬ servativer und mittclparteilicher Seite zur Militärvvrlage gehaltenen Reden, die einigermaßen den hohen staatsmännischen Schwung zeigten, der an bessere Zeiten erinnerte, war die des Abgeordneten von Bennigsen; aber wie matt und wie wenig lebensfreudig klangen seine Auslassungen gegen das heiße Pathos seiner frühern Tage! Es war ein leise und melancholisch ausklingendes Echo des hellen fröhlichen Schlachtrufs aus der Zeit, als der Begründer des Na¬ tionalvereins dem hannoverschen Welfenreiche das Rückgrat zerschlug. Es ist, als ob sich die Männer von hente ihrer Thaten von damals schämten, nicht zwar sie ausgeführt zu haben, sondern als wenn die sie tragende Begeisterung, die doch das beste an ihnen war, zu jugendlich überschäumend gewesen wäre; oder als wenn die Fragen der Gegenwart in einer andern, ruhigern Weise gelöst werden könnten, als die, die vor einem Menschenalter die Gemüter be¬ schäftigten. Aber die Sprödigkeit und Härte des Stoffs verlangt dieselbe Glut, um ihn zum Schmelzen zu bringen. Wie war es doch damals, als vor dreißig Jahren in der schweren Zeit des Vcrfassungskonflikts die hannoverischen Libe¬ ralen denen des preußischen Abgeordnetenhauses zurufen durften, daß sie bessere Preußen seien, als die Brandenburger und Pommern selbst? Wer will be¬ weisen, daß die nationale Not damals größer gewesen sei als jetzt, um die Verfassungs- und andre Fragen vor ihr zurücktreten zu lassen? Die Um¬ stände mögen verschieden sein, aber im Grunde sind die Forderungen der Zeit genau dieselben, wie sie es Anfang der sechziger Jahre waren. Man sollte sich, um das zu erkennen, den ruhigen und klaren Blick dnrch das Ge¬ schrei und das Gekläff des Tages nicht trüben lassen, sondern je lauter dieses wird, ihn um so mehr geschärft erhalten, damit er durch alle die Wirrnisse und den absichtlich aufgewirbelten Staub in den Kern der Dinge hineinschaue. Vor allein aber müßte man sich ans dieser Vertiefung die Wahrheit herauf¬ holen, daß bei aller Gleichheit dem Wesen nach die Zeit in ihrem Fortschreiten insofern eine andre geworden ist, als die Volkszahl und die Volkskraft, die letztere allein schon durch ihre Übung, eine ungewöhnliche Steigerung erfahren haben, und daß damit auch der Anspruch auf vermehrte Leistung nicht bloß berechtigt, sondern sogar notwendig ist. Welcher Statistiker aber wäre so ver¬ messen, über diese gesteigerte Leistungsfähigkeit, so weit sie nur von der Kraft' übnng abhängig ist, in Zahlen annähernd richtige Angaben machen zu wollen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/493>, abgerufen am 23.07.2024.