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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Neue Novellen

Eintönigkeit des Todes und der Mannichfaltigkeit seiner Wirkungen eins die
einstweilen Weiterlebenden ein. Unter diesen scheint uns die Skizze "Warum
weinen?" das stärkste Zeugnis von dem wirklichen Talent des Verfassers, die best¬
ausgeführte, menschlich ergreifendste seiner Erzählungen. "Gute Nacht, Mutter!"
ist ein lyrisches Gedicht in ungebundner Rede, ein paar andre ("Gesunden"
und "Einsamer Tod") hinterlassen den Eindruck, als ob sie zu den willkürlich
verkürzten Lebensbildern gehörten, die das moderne Nedaktionsbedürfnis auf
vier oder fünf Spalten zusammenpreßt. Die Geschichten "or. John Henry
Scellet" und "Mein Tod" gehören zur Gattung der gespenstischen Träume,
und namentlich die letzte weckt mehr ein Gefühl des Ekels als der Teilnahme.
Die Novelle LoA-ito, ergo 8um, in der sich ein Irrsinniger aus dem Fenster
stürzt und auf dem Steinpflaster zerschmettert, um gewiß zu werden, daß er
nicht träumt, entstammt jener modernen Lebensdarstellung, die gleichsam mit
unwiderstehlicher Gewalt von pathologischen Erscheinungen angezogen wird
und zwischen Armenhaus, Zuchthaus und Irrenhaus hin- und herpcndelt.
Dafür ist denn doch Ompteda zu gut und zu begabt. Auch in der Form er¬
hebt er sich da, wo er in warmen, lebendigen Fluß der Darstellung kommt,
hoch über die manieristischen Greuel der sogenannten exakten Beobachtung,
die die Atelierkunststücke naturalistischer Skizzenmaler in die Litteratur über¬
trägt, und die, wenn er ihr gelegentlich doch einmal huldigt, Stilproben wie
folgende erzeugt: "Man vernimmt einen Schritt auf dem Trottoir . . . Jemand
pfeift . . . Der Ton verklingt . . . Ein leiser Luftzug regt sich ... Es rauscht
in den Zweigen der Akazie schräg gegenüber . . . Dann hört der Wind ans. . .
Fallende Tropfen treffen einteilt, regelmäßig die Diele... Es rinnt vom
Tische herab . . . Immer seltner . . . Größer die Zwischenräume ... Es hört
auf. . . Atemlose Stille..."

Die Novellettensammlnng Zuletzt gelacht und andre Novelletten
von Jda Boy-Ed (Leipzig, Karl Reißner, 1893) verschafft uns die Bekannt¬
schaft einer neuerdings vielgenannten Schriftstellerin, die sogar schon mit
Marie Ebner-Eschenbach verglichen worden ist. Das ist nun freilich hoch ge¬
griffen. Aber frische Phantasie, Lebenskenntnis und Lebensfülle, die Fähig¬
keit, mit wenigen Zügen ein deutliches und charakteristisches Menschenbild vor
unser Auge zu stellen, auch ein feines Gefühl für die Widersprüche im Treiben
der Welt und im eignen Herzen, ein glücklicher Instinkt für jene ausgleichenden
Mächte des Lebens, durch die Mißgeschicke, Enttäuschungen und selbst bittere
Schmerzen überwunden werden, sind Jda Boy-Ed zu eigen. Neben dunkeln,
herzbeklemmenden Bildern aus der häßlichsten Wirklichkeit, wie es gleich die
Anfangsnovelle "Zuletzt gelacht" und weiterhin "Die Gnadenkapelle" sind,
stehen so hübsche Erfindungen und Einfälle, wie die Novellette "Xantippe," (sie?)
die wirkliche und wahrhaftige Xanthippe, des weisen Sokrates vielbernfne Ehe¬
gattin, die sich die keifende Stimme nur angewöhnt hat, weil sie ihren Philo-


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Eintönigkeit des Todes und der Mannichfaltigkeit seiner Wirkungen eins die
einstweilen Weiterlebenden ein. Unter diesen scheint uns die Skizze „Warum
weinen?" das stärkste Zeugnis von dem wirklichen Talent des Verfassers, die best¬
ausgeführte, menschlich ergreifendste seiner Erzählungen. „Gute Nacht, Mutter!"
ist ein lyrisches Gedicht in ungebundner Rede, ein paar andre („Gesunden"
und „Einsamer Tod") hinterlassen den Eindruck, als ob sie zu den willkürlich
verkürzten Lebensbildern gehörten, die das moderne Nedaktionsbedürfnis auf
vier oder fünf Spalten zusammenpreßt. Die Geschichten „or. John Henry
Scellet" und „Mein Tod" gehören zur Gattung der gespenstischen Träume,
und namentlich die letzte weckt mehr ein Gefühl des Ekels als der Teilnahme.
Die Novelle LoA-ito, ergo 8um, in der sich ein Irrsinniger aus dem Fenster
stürzt und auf dem Steinpflaster zerschmettert, um gewiß zu werden, daß er
nicht träumt, entstammt jener modernen Lebensdarstellung, die gleichsam mit
unwiderstehlicher Gewalt von pathologischen Erscheinungen angezogen wird
und zwischen Armenhaus, Zuchthaus und Irrenhaus hin- und herpcndelt.
Dafür ist denn doch Ompteda zu gut und zu begabt. Auch in der Form er¬
hebt er sich da, wo er in warmen, lebendigen Fluß der Darstellung kommt,
hoch über die manieristischen Greuel der sogenannten exakten Beobachtung,
die die Atelierkunststücke naturalistischer Skizzenmaler in die Litteratur über¬
trägt, und die, wenn er ihr gelegentlich doch einmal huldigt, Stilproben wie
folgende erzeugt: „Man vernimmt einen Schritt auf dem Trottoir . . . Jemand
pfeift . . . Der Ton verklingt . . . Ein leiser Luftzug regt sich ... Es rauscht
in den Zweigen der Akazie schräg gegenüber . . . Dann hört der Wind ans. . .
Fallende Tropfen treffen einteilt, regelmäßig die Diele... Es rinnt vom
Tische herab . . . Immer seltner . . . Größer die Zwischenräume ... Es hört
auf. . . Atemlose Stille..."

Die Novellettensammlnng Zuletzt gelacht und andre Novelletten
von Jda Boy-Ed (Leipzig, Karl Reißner, 1893) verschafft uns die Bekannt¬
schaft einer neuerdings vielgenannten Schriftstellerin, die sogar schon mit
Marie Ebner-Eschenbach verglichen worden ist. Das ist nun freilich hoch ge¬
griffen. Aber frische Phantasie, Lebenskenntnis und Lebensfülle, die Fähig¬
keit, mit wenigen Zügen ein deutliches und charakteristisches Menschenbild vor
unser Auge zu stellen, auch ein feines Gefühl für die Widersprüche im Treiben
der Welt und im eignen Herzen, ein glücklicher Instinkt für jene ausgleichenden
Mächte des Lebens, durch die Mißgeschicke, Enttäuschungen und selbst bittere
Schmerzen überwunden werden, sind Jda Boy-Ed zu eigen. Neben dunkeln,
herzbeklemmenden Bildern aus der häßlichsten Wirklichkeit, wie es gleich die
Anfangsnovelle „Zuletzt gelacht" und weiterhin „Die Gnadenkapelle" sind,
stehen so hübsche Erfindungen und Einfälle, wie die Novellette „Xantippe," (sie?)
die wirkliche und wahrhaftige Xanthippe, des weisen Sokrates vielbernfne Ehe¬
gattin, die sich die keifende Stimme nur angewöhnt hat, weil sie ihren Philo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/480>, abgerufen am 23.07.2024.