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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Neue Novellen

eine Verfasserin?) nicht. Von den vier Geschichten des Bandes "Allein zu
Hause/' "Englische Zöglinge/' "Meine Tante Urgemütlich," "Das Weihnachts¬
wunder" ist die zweite und längste (die durch das Prokrustesbett keiner Re¬
daktion hindurchgegangen zu sein scheint) zugleich die beste und lebensvollste,
was bekanntlich nicht immer zusammentrifft. Die Novelle "Englische Zög¬
linge" ist eines jener Bilder aus der alleranspruchlosesten Wirklichkeit, die
durch warme, frische Empfindung und lebendigen Humor doppelt verklärt und
damit überaus wirksam sind. Niemand, der die Erzählung liest und nicht bloß
anblättert, wird das Rektorhaus mit seiner lebendigen Kinderwelt, die Gestalten
von Mr. Hodgkinson junior und Miß Lucy Millins und den gloriosen Verlauf
des Versuchs, englische Goldströme in ein deutsches Schulmeisterheim zu leiten,
je wieder vergessen, und eine Geschichte, deren Erfindung in die Erinnerung
übergeht, muß einen tüchtigen Kern enthalten.

Ans ganz anderm Geiste geboren, vornehmer und feiner geschrieben, der
modernen Grundstimmung des Ekels am Leben und des trübseligen Verzagens
an der Kraft des Herzens viel näher verwandt, zeigen sich die beiden No-
vcllensammlungen Überall dasselbe, Novellen von Villamaria Merlin,
Gebrüder Paetel, 1892), und Welle Blatter. Novellen von Franz Wolff
(mit Randzeichnuugen von Leopold Bürger; Leipzig, Oswald Mütze, 1893).
Um die Grundstimmung, aus der die Dichter das Leben sehen und darstellen,
läßt sich schlecht mit ihnen rechten, nnr das eine steht von vornherein fest,
daß auch die elegische Auffassung und Weltspiegelung nicht immer aus der
wahren Natur eines Dichters oder Erzählers stammt, sondern, wie die opti¬
mistische, die gottvertrauende und jede andre eine Sache der Mode, der Über¬
lieferung, der Nachahmung sein kann. Villamaria versieht ihre Novellen mit
dem resignirten Vorwort: "Überall dasselbe im eignen Leben und in der Welt
um uns her: Für treues Erinnern -- Gleichgiltigkeit und Vergessen. Für
selbstlose opferfreudige Liebe -- Verrat und Untreue. Statt des Rechtes --
Willkür. So war es. und so wird es sein: Überall dasselbe." Franz Wolff
aber schickt den "Welken Blättern" eine Hcrbsttagsstimmung voraus: "Die
Landschaft lag im sin dem!j goldnen Lichte gebadet, welches sdasdie Herbst¬
sonne über sie ausgoß. Die letzten Schmetterlinge wiegten sich über den spär¬
lichen Wiesenblumen, unter denen die Herbstzeitlose prangte. Über der Erde
lag der Zauber der im Entschlafen begriffnen Natur. Tiefe Stille, uur der
Wind rauschte durch die hochragenden Waldbänme und sang seine urewigen
Lieder. Welle Blätter, die er auf seiner raschen Wanderung gepflückt schatte^,
wirbelten vorüber, sanken zu Boden, um im Moose zu modern, wurden empor¬
getrieben zu schwindelnder Höhe, um in blauer Luft zu verschwinden; wie das
Menschenleben im Strome des gewaltigen Schicksals. Und es rannte und
flüsterte in klagenden und jauchzenden Tönen, alle die Blätter erzählten, was
sie geschaut shattens. Jedes Blatt die Geschichte eines Menschenlebens." Schon


Neue Novellen

eine Verfasserin?) nicht. Von den vier Geschichten des Bandes „Allein zu
Hause/' „Englische Zöglinge/' „Meine Tante Urgemütlich," „Das Weihnachts¬
wunder" ist die zweite und längste (die durch das Prokrustesbett keiner Re¬
daktion hindurchgegangen zu sein scheint) zugleich die beste und lebensvollste,
was bekanntlich nicht immer zusammentrifft. Die Novelle „Englische Zög¬
linge" ist eines jener Bilder aus der alleranspruchlosesten Wirklichkeit, die
durch warme, frische Empfindung und lebendigen Humor doppelt verklärt und
damit überaus wirksam sind. Niemand, der die Erzählung liest und nicht bloß
anblättert, wird das Rektorhaus mit seiner lebendigen Kinderwelt, die Gestalten
von Mr. Hodgkinson junior und Miß Lucy Millins und den gloriosen Verlauf
des Versuchs, englische Goldströme in ein deutsches Schulmeisterheim zu leiten,
je wieder vergessen, und eine Geschichte, deren Erfindung in die Erinnerung
übergeht, muß einen tüchtigen Kern enthalten.

Ans ganz anderm Geiste geboren, vornehmer und feiner geschrieben, der
modernen Grundstimmung des Ekels am Leben und des trübseligen Verzagens
an der Kraft des Herzens viel näher verwandt, zeigen sich die beiden No-
vcllensammlungen Überall dasselbe, Novellen von Villamaria Merlin,
Gebrüder Paetel, 1892), und Welle Blatter. Novellen von Franz Wolff
(mit Randzeichnuugen von Leopold Bürger; Leipzig, Oswald Mütze, 1893).
Um die Grundstimmung, aus der die Dichter das Leben sehen und darstellen,
läßt sich schlecht mit ihnen rechten, nnr das eine steht von vornherein fest,
daß auch die elegische Auffassung und Weltspiegelung nicht immer aus der
wahren Natur eines Dichters oder Erzählers stammt, sondern, wie die opti¬
mistische, die gottvertrauende und jede andre eine Sache der Mode, der Über¬
lieferung, der Nachahmung sein kann. Villamaria versieht ihre Novellen mit
dem resignirten Vorwort: „Überall dasselbe im eignen Leben und in der Welt
um uns her: Für treues Erinnern — Gleichgiltigkeit und Vergessen. Für
selbstlose opferfreudige Liebe — Verrat und Untreue. Statt des Rechtes —
Willkür. So war es. und so wird es sein: Überall dasselbe." Franz Wolff
aber schickt den „Welken Blättern" eine Hcrbsttagsstimmung voraus: „Die
Landschaft lag im sin dem!j goldnen Lichte gebadet, welches sdasdie Herbst¬
sonne über sie ausgoß. Die letzten Schmetterlinge wiegten sich über den spär¬
lichen Wiesenblumen, unter denen die Herbstzeitlose prangte. Über der Erde
lag der Zauber der im Entschlafen begriffnen Natur. Tiefe Stille, uur der
Wind rauschte durch die hochragenden Waldbänme und sang seine urewigen
Lieder. Welle Blätter, die er auf seiner raschen Wanderung gepflückt schatte^,
wirbelten vorüber, sanken zu Boden, um im Moose zu modern, wurden empor¬
getrieben zu schwindelnder Höhe, um in blauer Luft zu verschwinden; wie das
Menschenleben im Strome des gewaltigen Schicksals. Und es rannte und
flüsterte in klagenden und jauchzenden Tönen, alle die Blätter erzählten, was
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[0478] Neue Novellen eine Verfasserin?) nicht. Von den vier Geschichten des Bandes „Allein zu Hause/' „Englische Zöglinge/' „Meine Tante Urgemütlich," „Das Weihnachts¬ wunder" ist die zweite und längste (die durch das Prokrustesbett keiner Re¬ daktion hindurchgegangen zu sein scheint) zugleich die beste und lebensvollste, was bekanntlich nicht immer zusammentrifft. Die Novelle „Englische Zög¬ linge" ist eines jener Bilder aus der alleranspruchlosesten Wirklichkeit, die durch warme, frische Empfindung und lebendigen Humor doppelt verklärt und damit überaus wirksam sind. Niemand, der die Erzählung liest und nicht bloß anblättert, wird das Rektorhaus mit seiner lebendigen Kinderwelt, die Gestalten von Mr. Hodgkinson junior und Miß Lucy Millins und den gloriosen Verlauf des Versuchs, englische Goldströme in ein deutsches Schulmeisterheim zu leiten, je wieder vergessen, und eine Geschichte, deren Erfindung in die Erinnerung übergeht, muß einen tüchtigen Kern enthalten. Ans ganz anderm Geiste geboren, vornehmer und feiner geschrieben, der modernen Grundstimmung des Ekels am Leben und des trübseligen Verzagens an der Kraft des Herzens viel näher verwandt, zeigen sich die beiden No- vcllensammlungen Überall dasselbe, Novellen von Villamaria Merlin, Gebrüder Paetel, 1892), und Welle Blatter. Novellen von Franz Wolff (mit Randzeichnuugen von Leopold Bürger; Leipzig, Oswald Mütze, 1893). Um die Grundstimmung, aus der die Dichter das Leben sehen und darstellen, läßt sich schlecht mit ihnen rechten, nnr das eine steht von vornherein fest, daß auch die elegische Auffassung und Weltspiegelung nicht immer aus der wahren Natur eines Dichters oder Erzählers stammt, sondern, wie die opti¬ mistische, die gottvertrauende und jede andre eine Sache der Mode, der Über¬ lieferung, der Nachahmung sein kann. Villamaria versieht ihre Novellen mit dem resignirten Vorwort: „Überall dasselbe im eignen Leben und in der Welt um uns her: Für treues Erinnern — Gleichgiltigkeit und Vergessen. Für selbstlose opferfreudige Liebe — Verrat und Untreue. Statt des Rechtes — Willkür. So war es. und so wird es sein: Überall dasselbe." Franz Wolff aber schickt den „Welken Blättern" eine Hcrbsttagsstimmung voraus: „Die Landschaft lag im sin dem!j goldnen Lichte gebadet, welches sdasdie Herbst¬ sonne über sie ausgoß. Die letzten Schmetterlinge wiegten sich über den spär¬ lichen Wiesenblumen, unter denen die Herbstzeitlose prangte. Über der Erde lag der Zauber der im Entschlafen begriffnen Natur. Tiefe Stille, uur der Wind rauschte durch die hochragenden Waldbänme und sang seine urewigen Lieder. Welle Blätter, die er auf seiner raschen Wanderung gepflückt schatte^, wirbelten vorüber, sanken zu Boden, um im Moose zu modern, wurden empor¬ getrieben zu schwindelnder Höhe, um in blauer Luft zu verschwinden; wie das Menschenleben im Strome des gewaltigen Schicksals. Und es rannte und flüsterte in klagenden und jauchzenden Tönen, alle die Blätter erzählten, was sie geschaut shattens. Jedes Blatt die Geschichte eines Menschenlebens." Schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/478>, abgerufen am 03.07.2024.