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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Eifer fallen sie da ein, bis das ganze Elend des angeblichen "Amüsements"
zu Tage kommt! Und wenn sie das erste mal'wirklich noch mit der Hoffnung,
sich zu "amüsiren," abgereist waren, das zweite mal ist kein Zweifel mehr,
daß auch sie bloß noch aus Mode reisen. Nur eine Klasse giebts, die sich
wirklich "amüsirt," das sind die, die unterwegs besser leben als zu Hause,
gern Bekanntschaften machen, Toiletten sehen, in die Konzerte gehen u. s. w.
Aber was hat das mit dem Reisen zu thun? Hier macht es eben die Ferien¬
stimmung und die etwas größere Opulenz einiger Wochen, und die gönnen
wir ihnen von Herzen.

Aber man sieht doch auf Reisen so viel schönes, großes, bedeutendes,
man muß doch etwas lernen! Nein; man sträubt sich mit Händen und Beinen
dagegen, etwas zu lernen, auch nur sehen zu lernen. Wo bliebe denn auch
die Bildung, wenn man der Frau, den Kindern, den Mitreisenden oder auch
bloß sich selber eingestehen müßte, daß man noch etwas lernen und neu an sich
erfahren könne? Das geht nicht. Das ist denn auch der Grund für das wider¬
wärtige Benehmen der meisten Reisenden. Darum tritt man allem bedeutenden,
das man sieht, mit bornirter Überlegenheit entgegen, witzelt um so eifriger
darüber, je ernsthaftere Anforderungen die Dinge stellen, und ist hinterher ge¬
rade so klug wie zuvor. Wie viel besser waren doch die Leute dran, die in
einer Zeit lebten, wo ihnen noch nicht Familienjournale, Wcmdervorträge und
ähnliche Lackirmittcl einen unklaren Schimmer von allem möglichen beigebracht
hatten, wo sie, wenn sie reisten, ohne Halbwisserei an das Einzelne wie das
Ganze hinantraten und sich stets von neuem freudig überrascht mit Ernst und
Liebe daran machten, zu verstehen und auf sich wirken zu lassen! Wie viel
tausendmal größer ist das Vergnügen, der Schilderung in den naiven Auf¬
zeichnungen eiues über Venedig gereisten ehrsamen Pilgers des fünfzehnten
Jahrhunderts zu lauschen, als den Erzählungen eines modernen "vielgereisten"
Kommerzicnsrats!

Wir können unsre Behauptung, daß es beim Reisen nicht mehr auf die
Erweiterung des Gesichtskreises ankomme, auch durch eine Art gelehrter Em¬
pirie begründen. Der Leser begleite uns einmal in die Räume einer größern
Bibliothek. Da stehen seit dem sechzehnten Jahrhundert alle die mehr oder
minder handlichen, gar nicht schlechten Anleitungen, wie man reisen soll
-- nicht, um gut durchzukommen, diese giebts natürlich anch --, sondern um
etwas dauerndes davon zu haben, von Zwingers Nstuoäus avoctsririoa und
der Nürnberger ^.rs xore^ring-neu an bis zu Haeffelins Oisoorirs av l'iu-
üueuczs ach pong'of sur los xroZ'rvL ach arts u. a. Über die Schwelle unsrer
Zeit haben sie sich nicht gewagt, nicht wagen dürfen. Denn Neumehers An¬
leitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen und Jssels Istrusiom
xer viaMmtori nebst den entsprechenden französischen Werken darf man nicht
hierher rechnen, das sind wuchtige Bücher zur Vorbereitung für Forschungs-


Eifer fallen sie da ein, bis das ganze Elend des angeblichen „Amüsements"
zu Tage kommt! Und wenn sie das erste mal'wirklich noch mit der Hoffnung,
sich zu „amüsiren," abgereist waren, das zweite mal ist kein Zweifel mehr,
daß auch sie bloß noch aus Mode reisen. Nur eine Klasse giebts, die sich
wirklich „amüsirt," das sind die, die unterwegs besser leben als zu Hause,
gern Bekanntschaften machen, Toiletten sehen, in die Konzerte gehen u. s. w.
Aber was hat das mit dem Reisen zu thun? Hier macht es eben die Ferien¬
stimmung und die etwas größere Opulenz einiger Wochen, und die gönnen
wir ihnen von Herzen.

Aber man sieht doch auf Reisen so viel schönes, großes, bedeutendes,
man muß doch etwas lernen! Nein; man sträubt sich mit Händen und Beinen
dagegen, etwas zu lernen, auch nur sehen zu lernen. Wo bliebe denn auch
die Bildung, wenn man der Frau, den Kindern, den Mitreisenden oder auch
bloß sich selber eingestehen müßte, daß man noch etwas lernen und neu an sich
erfahren könne? Das geht nicht. Das ist denn auch der Grund für das wider¬
wärtige Benehmen der meisten Reisenden. Darum tritt man allem bedeutenden,
das man sieht, mit bornirter Überlegenheit entgegen, witzelt um so eifriger
darüber, je ernsthaftere Anforderungen die Dinge stellen, und ist hinterher ge¬
rade so klug wie zuvor. Wie viel besser waren doch die Leute dran, die in
einer Zeit lebten, wo ihnen noch nicht Familienjournale, Wcmdervorträge und
ähnliche Lackirmittcl einen unklaren Schimmer von allem möglichen beigebracht
hatten, wo sie, wenn sie reisten, ohne Halbwisserei an das Einzelne wie das
Ganze hinantraten und sich stets von neuem freudig überrascht mit Ernst und
Liebe daran machten, zu verstehen und auf sich wirken zu lassen! Wie viel
tausendmal größer ist das Vergnügen, der Schilderung in den naiven Auf¬
zeichnungen eiues über Venedig gereisten ehrsamen Pilgers des fünfzehnten
Jahrhunderts zu lauschen, als den Erzählungen eines modernen „vielgereisten"
Kommerzicnsrats!

Wir können unsre Behauptung, daß es beim Reisen nicht mehr auf die
Erweiterung des Gesichtskreises ankomme, auch durch eine Art gelehrter Em¬
pirie begründen. Der Leser begleite uns einmal in die Räume einer größern
Bibliothek. Da stehen seit dem sechzehnten Jahrhundert alle die mehr oder
minder handlichen, gar nicht schlechten Anleitungen, wie man reisen soll
— nicht, um gut durchzukommen, diese giebts natürlich anch —, sondern um
etwas dauerndes davon zu haben, von Zwingers Nstuoäus avoctsririoa und
der Nürnberger ^.rs xore^ring-neu an bis zu Haeffelins Oisoorirs av l'iu-
üueuczs ach pong'of sur los xroZ'rvL ach arts u. a. Über die Schwelle unsrer
Zeit haben sie sich nicht gewagt, nicht wagen dürfen. Denn Neumehers An¬
leitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen und Jssels Istrusiom
xer viaMmtori nebst den entsprechenden französischen Werken darf man nicht
hierher rechnen, das sind wuchtige Bücher zur Vorbereitung für Forschungs-


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[0469] Eifer fallen sie da ein, bis das ganze Elend des angeblichen „Amüsements" zu Tage kommt! Und wenn sie das erste mal'wirklich noch mit der Hoffnung, sich zu „amüsiren," abgereist waren, das zweite mal ist kein Zweifel mehr, daß auch sie bloß noch aus Mode reisen. Nur eine Klasse giebts, die sich wirklich „amüsirt," das sind die, die unterwegs besser leben als zu Hause, gern Bekanntschaften machen, Toiletten sehen, in die Konzerte gehen u. s. w. Aber was hat das mit dem Reisen zu thun? Hier macht es eben die Ferien¬ stimmung und die etwas größere Opulenz einiger Wochen, und die gönnen wir ihnen von Herzen. Aber man sieht doch auf Reisen so viel schönes, großes, bedeutendes, man muß doch etwas lernen! Nein; man sträubt sich mit Händen und Beinen dagegen, etwas zu lernen, auch nur sehen zu lernen. Wo bliebe denn auch die Bildung, wenn man der Frau, den Kindern, den Mitreisenden oder auch bloß sich selber eingestehen müßte, daß man noch etwas lernen und neu an sich erfahren könne? Das geht nicht. Das ist denn auch der Grund für das wider¬ wärtige Benehmen der meisten Reisenden. Darum tritt man allem bedeutenden, das man sieht, mit bornirter Überlegenheit entgegen, witzelt um so eifriger darüber, je ernsthaftere Anforderungen die Dinge stellen, und ist hinterher ge¬ rade so klug wie zuvor. Wie viel besser waren doch die Leute dran, die in einer Zeit lebten, wo ihnen noch nicht Familienjournale, Wcmdervorträge und ähnliche Lackirmittcl einen unklaren Schimmer von allem möglichen beigebracht hatten, wo sie, wenn sie reisten, ohne Halbwisserei an das Einzelne wie das Ganze hinantraten und sich stets von neuem freudig überrascht mit Ernst und Liebe daran machten, zu verstehen und auf sich wirken zu lassen! Wie viel tausendmal größer ist das Vergnügen, der Schilderung in den naiven Auf¬ zeichnungen eiues über Venedig gereisten ehrsamen Pilgers des fünfzehnten Jahrhunderts zu lauschen, als den Erzählungen eines modernen „vielgereisten" Kommerzicnsrats! Wir können unsre Behauptung, daß es beim Reisen nicht mehr auf die Erweiterung des Gesichtskreises ankomme, auch durch eine Art gelehrter Em¬ pirie begründen. Der Leser begleite uns einmal in die Räume einer größern Bibliothek. Da stehen seit dem sechzehnten Jahrhundert alle die mehr oder minder handlichen, gar nicht schlechten Anleitungen, wie man reisen soll — nicht, um gut durchzukommen, diese giebts natürlich anch —, sondern um etwas dauerndes davon zu haben, von Zwingers Nstuoäus avoctsririoa und der Nürnberger ^.rs xore^ring-neu an bis zu Haeffelins Oisoorirs av l'iu- üueuczs ach pong'of sur los xroZ'rvL ach arts u. a. Über die Schwelle unsrer Zeit haben sie sich nicht gewagt, nicht wagen dürfen. Denn Neumehers An¬ leitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen und Jssels Istrusiom xer viaMmtori nebst den entsprechenden französischen Werken darf man nicht hierher rechnen, das sind wuchtige Bücher zur Vorbereitung für Forschungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/469>, abgerufen am 29.09.2024.