Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Bücher über Politik

Das ist nun der Punkt, von dem aus der Verfasser die Arbeiterfrage be¬
urteilt, die sich, wie er ganz richtig bemerkt, nur durch die Zerstörung des
Bauern- und des Handwerkerstandes zur sozialen Frage erweitern kann. "Einige
hundert Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Großhändler auf der einen,
einige Millionen Lohnarbeiter und Gesinde auf der andern Seite sind gar keine
Nation; sie sind nur zwei zusammenhanglose Haufen von Reichen und von
Armen. Dagegen kann ein Volk, das nur aus Bauern, Handwerkern und
kleinen Krämern besteht, die erste Nation der Welt werden. Was unterscheidet
die Großindustrie vom Handwerk? Das eigentümliche der großen Unternehmen
ist die Unmöglichkeit persönlicher Beziehungen zwischen dem Oberhaupt und
seinen Leuten, während der Handwerksmeister, der kleine Kciufmcmn mit allen
seinen Untergebnen täglich und stündlich intim verkehrt. Die großen Unter¬
nehmer haben keine Fühlung mit ihrem eignen Personal und zu niemand
Beziehungen als zu eiuer meist ausländischen Kundschaft; einer engern Ver¬
bindung der Großindustriellen und Großhändler unter einander steht meistens
der Interessengegensatz im Wege. Daher können sie kein Material abgeben für
ein festes soziales Gefüge. Im Kleingewerbe dagegen sind die kleinen Kräfte,
je schwächer sie sich vereinzelt fühlen, desto mehr auf gegenseitige Unterstützung
angewiesen; Meister und Gehilfen fühlen sich solidarisch verbunden, beide ziehen
wechselseitig Vorteil von einander, vervollkommnen sich gegenseitig und schaffen
in Gemeinschaft mit allen übrigen Gewerbegenossen jene mächtigen örtlichen
Industrien, die durch die Vollendung ihrer Erzeugnisse aller Konkurrenz des
Auslandes trotzen." Der Verfasser hat hier ohne Zweifel das berühmte
Pariser Kleingewerbe vor Auge, das nach dem Zeugnis auch deutscher Kenner
bis vor kurzem diesen Charakter trug und sich nicht allein durch die Voll¬
kommenheit seiner Produkte, sondern auch durch ein musterhaftes Familien¬
leben und durch das schönste Verhältnis zwischen der Meistersfamilie und den
Lehrlingen auszeichnete. In den letzten Jahren jedoch sind diese trefflichen
Leute mehr und mehr von Unternehmern abhängig geworden; wie in Eng¬
land die Fabrik, so frißt in Frankreich, wie auch Funck ausführt, das Magazin
das Kleingewerbe auf; die tüchtigen Pariser Handwerker sinken zu "Haus-
iudustrielleu" nach Art der schlesischen Weber und der thüringischen Spielzeug¬
macher herab. "Diese wohlgefügte Masse -- sährt der Verfasser fort -- bildet
sowohl in wirtschaftlicher wie in sozialer Beziehung die eigentliche Grundlage
des nationalen Lebens." (S. 219 bis 220.) Genauer gesprochen: die Hälfte
der Grundlage; die andre Hälfte ist der Bauernstand. Daher gereicht es den
Völkern zum Verderben, daß die Lehrlingschaft mehr und mehr der Lohnarbeit
"jugendlicher Arbeiter" weicht. Die Lehrlingschaft bildet ein wichtiges Stück
der geschichtlichen Überlieferung. Wie in den Familien Sitten, Grundsätze und
Anschauungen vom Vater auf den Sohn, so werden in der Werkstatt mit den
Kenntnissen und Fertigkeiten auch Sitten und Grundsätze vom Meister auf den


Zwei Bücher über Politik

Das ist nun der Punkt, von dem aus der Verfasser die Arbeiterfrage be¬
urteilt, die sich, wie er ganz richtig bemerkt, nur durch die Zerstörung des
Bauern- und des Handwerkerstandes zur sozialen Frage erweitern kann. „Einige
hundert Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Großhändler auf der einen,
einige Millionen Lohnarbeiter und Gesinde auf der andern Seite sind gar keine
Nation; sie sind nur zwei zusammenhanglose Haufen von Reichen und von
Armen. Dagegen kann ein Volk, das nur aus Bauern, Handwerkern und
kleinen Krämern besteht, die erste Nation der Welt werden. Was unterscheidet
die Großindustrie vom Handwerk? Das eigentümliche der großen Unternehmen
ist die Unmöglichkeit persönlicher Beziehungen zwischen dem Oberhaupt und
seinen Leuten, während der Handwerksmeister, der kleine Kciufmcmn mit allen
seinen Untergebnen täglich und stündlich intim verkehrt. Die großen Unter¬
nehmer haben keine Fühlung mit ihrem eignen Personal und zu niemand
Beziehungen als zu eiuer meist ausländischen Kundschaft; einer engern Ver¬
bindung der Großindustriellen und Großhändler unter einander steht meistens
der Interessengegensatz im Wege. Daher können sie kein Material abgeben für
ein festes soziales Gefüge. Im Kleingewerbe dagegen sind die kleinen Kräfte,
je schwächer sie sich vereinzelt fühlen, desto mehr auf gegenseitige Unterstützung
angewiesen; Meister und Gehilfen fühlen sich solidarisch verbunden, beide ziehen
wechselseitig Vorteil von einander, vervollkommnen sich gegenseitig und schaffen
in Gemeinschaft mit allen übrigen Gewerbegenossen jene mächtigen örtlichen
Industrien, die durch die Vollendung ihrer Erzeugnisse aller Konkurrenz des
Auslandes trotzen." Der Verfasser hat hier ohne Zweifel das berühmte
Pariser Kleingewerbe vor Auge, das nach dem Zeugnis auch deutscher Kenner
bis vor kurzem diesen Charakter trug und sich nicht allein durch die Voll¬
kommenheit seiner Produkte, sondern auch durch ein musterhaftes Familien¬
leben und durch das schönste Verhältnis zwischen der Meistersfamilie und den
Lehrlingen auszeichnete. In den letzten Jahren jedoch sind diese trefflichen
Leute mehr und mehr von Unternehmern abhängig geworden; wie in Eng¬
land die Fabrik, so frißt in Frankreich, wie auch Funck ausführt, das Magazin
das Kleingewerbe auf; die tüchtigen Pariser Handwerker sinken zu „Haus-
iudustrielleu" nach Art der schlesischen Weber und der thüringischen Spielzeug¬
macher herab. „Diese wohlgefügte Masse — sährt der Verfasser fort — bildet
sowohl in wirtschaftlicher wie in sozialer Beziehung die eigentliche Grundlage
des nationalen Lebens." (S. 219 bis 220.) Genauer gesprochen: die Hälfte
der Grundlage; die andre Hälfte ist der Bauernstand. Daher gereicht es den
Völkern zum Verderben, daß die Lehrlingschaft mehr und mehr der Lohnarbeit
„jugendlicher Arbeiter" weicht. Die Lehrlingschaft bildet ein wichtiges Stück
der geschichtlichen Überlieferung. Wie in den Familien Sitten, Grundsätze und
Anschauungen vom Vater auf den Sohn, so werden in der Werkstatt mit den
Kenntnissen und Fertigkeiten auch Sitten und Grundsätze vom Meister auf den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214908"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei Bücher über Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1780" next="#ID_1781"> Das ist nun der Punkt, von dem aus der Verfasser die Arbeiterfrage be¬<lb/>
urteilt, die sich, wie er ganz richtig bemerkt, nur durch die Zerstörung des<lb/>
Bauern- und des Handwerkerstandes zur sozialen Frage erweitern kann. &#x201E;Einige<lb/>
hundert Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Großhändler auf der einen,<lb/>
einige Millionen Lohnarbeiter und Gesinde auf der andern Seite sind gar keine<lb/>
Nation; sie sind nur zwei zusammenhanglose Haufen von Reichen und von<lb/>
Armen. Dagegen kann ein Volk, das nur aus Bauern, Handwerkern und<lb/>
kleinen Krämern besteht, die erste Nation der Welt werden. Was unterscheidet<lb/>
die Großindustrie vom Handwerk? Das eigentümliche der großen Unternehmen<lb/>
ist die Unmöglichkeit persönlicher Beziehungen zwischen dem Oberhaupt und<lb/>
seinen Leuten, während der Handwerksmeister, der kleine Kciufmcmn mit allen<lb/>
seinen Untergebnen täglich und stündlich intim verkehrt. Die großen Unter¬<lb/>
nehmer haben keine Fühlung mit ihrem eignen Personal und zu niemand<lb/>
Beziehungen als zu eiuer meist ausländischen Kundschaft; einer engern Ver¬<lb/>
bindung der Großindustriellen und Großhändler unter einander steht meistens<lb/>
der Interessengegensatz im Wege. Daher können sie kein Material abgeben für<lb/>
ein festes soziales Gefüge. Im Kleingewerbe dagegen sind die kleinen Kräfte,<lb/>
je schwächer sie sich vereinzelt fühlen, desto mehr auf gegenseitige Unterstützung<lb/>
angewiesen; Meister und Gehilfen fühlen sich solidarisch verbunden, beide ziehen<lb/>
wechselseitig Vorteil von einander, vervollkommnen sich gegenseitig und schaffen<lb/>
in Gemeinschaft mit allen übrigen Gewerbegenossen jene mächtigen örtlichen<lb/>
Industrien, die durch die Vollendung ihrer Erzeugnisse aller Konkurrenz des<lb/>
Auslandes trotzen." Der Verfasser hat hier ohne Zweifel das berühmte<lb/>
Pariser Kleingewerbe vor Auge, das nach dem Zeugnis auch deutscher Kenner<lb/>
bis vor kurzem diesen Charakter trug und sich nicht allein durch die Voll¬<lb/>
kommenheit seiner Produkte, sondern auch durch ein musterhaftes Familien¬<lb/>
leben und durch das schönste Verhältnis zwischen der Meistersfamilie und den<lb/>
Lehrlingen auszeichnete. In den letzten Jahren jedoch sind diese trefflichen<lb/>
Leute mehr und mehr von Unternehmern abhängig geworden; wie in Eng¬<lb/>
land die Fabrik, so frißt in Frankreich, wie auch Funck ausführt, das Magazin<lb/>
das Kleingewerbe auf; die tüchtigen Pariser Handwerker sinken zu &#x201E;Haus-<lb/>
iudustrielleu" nach Art der schlesischen Weber und der thüringischen Spielzeug¬<lb/>
macher herab. &#x201E;Diese wohlgefügte Masse &#x2014; sährt der Verfasser fort &#x2014; bildet<lb/>
sowohl in wirtschaftlicher wie in sozialer Beziehung die eigentliche Grundlage<lb/>
des nationalen Lebens." (S. 219 bis 220.) Genauer gesprochen: die Hälfte<lb/>
der Grundlage; die andre Hälfte ist der Bauernstand. Daher gereicht es den<lb/>
Völkern zum Verderben, daß die Lehrlingschaft mehr und mehr der Lohnarbeit<lb/>
&#x201E;jugendlicher Arbeiter" weicht. Die Lehrlingschaft bildet ein wichtiges Stück<lb/>
der geschichtlichen Überlieferung. Wie in den Familien Sitten, Grundsätze und<lb/>
Anschauungen vom Vater auf den Sohn, so werden in der Werkstatt mit den<lb/>
Kenntnissen und Fertigkeiten auch Sitten und Grundsätze vom Meister auf den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0453] Zwei Bücher über Politik Das ist nun der Punkt, von dem aus der Verfasser die Arbeiterfrage be¬ urteilt, die sich, wie er ganz richtig bemerkt, nur durch die Zerstörung des Bauern- und des Handwerkerstandes zur sozialen Frage erweitern kann. „Einige hundert Großgrundbesitzer, Großindustrielle und Großhändler auf der einen, einige Millionen Lohnarbeiter und Gesinde auf der andern Seite sind gar keine Nation; sie sind nur zwei zusammenhanglose Haufen von Reichen und von Armen. Dagegen kann ein Volk, das nur aus Bauern, Handwerkern und kleinen Krämern besteht, die erste Nation der Welt werden. Was unterscheidet die Großindustrie vom Handwerk? Das eigentümliche der großen Unternehmen ist die Unmöglichkeit persönlicher Beziehungen zwischen dem Oberhaupt und seinen Leuten, während der Handwerksmeister, der kleine Kciufmcmn mit allen seinen Untergebnen täglich und stündlich intim verkehrt. Die großen Unter¬ nehmer haben keine Fühlung mit ihrem eignen Personal und zu niemand Beziehungen als zu eiuer meist ausländischen Kundschaft; einer engern Ver¬ bindung der Großindustriellen und Großhändler unter einander steht meistens der Interessengegensatz im Wege. Daher können sie kein Material abgeben für ein festes soziales Gefüge. Im Kleingewerbe dagegen sind die kleinen Kräfte, je schwächer sie sich vereinzelt fühlen, desto mehr auf gegenseitige Unterstützung angewiesen; Meister und Gehilfen fühlen sich solidarisch verbunden, beide ziehen wechselseitig Vorteil von einander, vervollkommnen sich gegenseitig und schaffen in Gemeinschaft mit allen übrigen Gewerbegenossen jene mächtigen örtlichen Industrien, die durch die Vollendung ihrer Erzeugnisse aller Konkurrenz des Auslandes trotzen." Der Verfasser hat hier ohne Zweifel das berühmte Pariser Kleingewerbe vor Auge, das nach dem Zeugnis auch deutscher Kenner bis vor kurzem diesen Charakter trug und sich nicht allein durch die Voll¬ kommenheit seiner Produkte, sondern auch durch ein musterhaftes Familien¬ leben und durch das schönste Verhältnis zwischen der Meistersfamilie und den Lehrlingen auszeichnete. In den letzten Jahren jedoch sind diese trefflichen Leute mehr und mehr von Unternehmern abhängig geworden; wie in Eng¬ land die Fabrik, so frißt in Frankreich, wie auch Funck ausführt, das Magazin das Kleingewerbe auf; die tüchtigen Pariser Handwerker sinken zu „Haus- iudustrielleu" nach Art der schlesischen Weber und der thüringischen Spielzeug¬ macher herab. „Diese wohlgefügte Masse — sährt der Verfasser fort — bildet sowohl in wirtschaftlicher wie in sozialer Beziehung die eigentliche Grundlage des nationalen Lebens." (S. 219 bis 220.) Genauer gesprochen: die Hälfte der Grundlage; die andre Hälfte ist der Bauernstand. Daher gereicht es den Völkern zum Verderben, daß die Lehrlingschaft mehr und mehr der Lohnarbeit „jugendlicher Arbeiter" weicht. Die Lehrlingschaft bildet ein wichtiges Stück der geschichtlichen Überlieferung. Wie in den Familien Sitten, Grundsätze und Anschauungen vom Vater auf den Sohn, so werden in der Werkstatt mit den Kenntnissen und Fertigkeiten auch Sitten und Grundsätze vom Meister auf den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/453
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/453>, abgerufen am 29.09.2024.