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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

Wirksamkeit einzelner Moralgrundsätze entspringt, nun hinwiederum die Auf¬
gabe habe, die Menschen tugendhaft zu machen. Kein Mensch hat ein Recht,
vom andern Nachsicht oder Selbstverleugnung oder Aufopferung zu fordern;
Tugenden lassen sich nicht durch Befehl erzwingen; wie das Genie, so ent¬
zieht sich auch die Tugend der öffentlichen Gewalt. (S. 16.) Diesen Zusammen¬
hang zu verstehen, darauf kommt in der Politik alles an. Dieses Verständnis
aber ist mehr Sache natürlicher Begabung als sorgfältiger Schulung. "Ein
Schenkmädchen, wie Katharina die Zweite, hat das Zeug zu einem Staats¬
mann ersten Ranges, während kenntnisreiche Männer als Minister nichts
als Dummheiten machen." (S. 37.) Der Verfasser hat da die erste mit der
zweiten Katharina verwechselt, wie denn solche kleine thatsächliche Irrtümer,
namentlich wo es sich um Deutschland handelt, bei ihm nichts seltnes sind, aber
mit dem, was das verunglückte Beispiel zeigen soll, hat es trotzdem seine
Nichtigkeit. Es ist nach Funck vorzugsweise das Verkennen dieser einfachen
Verhältnisse, was die verzwickte und unhaltbare Lage der heutigen europäischen
Menschheit verschuldet; von diesem Standpunkte aus kritisirt er nun die
Leistungen des modernen Staats auf den verschiednen Gebieten seiner Thätig¬
keit und macht Reformvorschläge. Er behandelt, immer vorzugsweise mit Rück¬
sicht auf Frankreich, die Gesetzgebung, die Kongresse (der Antisklavereikongreß
wird mit dem Hohn gegeißelt, den er verdient", die Arbeiterfrage, die soziale
Frage, die Krisen der Industrie und des Handels, die Finanzen, das Unter¬
richtswesen, die Verarmung der mittlern und das Elend der untern Klassen,
das Steuer- und Zollwesen, die Staatsschuld (deren Tilgung gehört zu den
Forderungen Funcks, von denen er sagt, daß wenn sie nicht erfüllt würden,
man den Völkern lasomts ogni sxsrgn^Ä zurufen dürfe), die Beziehungen des
Staats zu Religion und Kirche, die Beziehungen der europäischen Staaten
unter einander und die Kvlvuinlpvlitik; den Schluß bildet das Kapitel: "Die
sozialen und die politischen Hilfsquellen Frankreichs."

Der Reichtum des Buches an treffenden Beobachtungen und glücklichen,
praktisch verwertbaren Gedanken ist so groß, daß eine Auslese schwer fällt.
Wer würde Funck z. B. nicht beipflichten, wenn er auf S. 101 sagt: "Unter
allen Formen des Wahlrechts ist das allgemeine, geheime und direkte un¬
streitig das beste, weil es die Wünsche des Volks am klarsten zum Ausdruck
bringt. Aber diese Wünsche auf dem Wege der Gesetzgebung erfüllen zu wollen,
würde unter allen Arten von Politik die allerschlechteste sein." Nicht die oft
unverständigen Wünsche und Forderungen von Volksmassen und Interessenten-
gruppen habe der Gesetzgeber zu erfülle", sondern seine Aufgabe sei es, die
Ursachen zu erforschen, aus deuen ihre Nöte und ihre Unzufriedenheit ent-
springen, und diese Ursachen zu beseitigen. Nur an dreien der von Funck be¬
handelten Gegenstände wollen wir zeigen, wie er den politischen Fragen gegen¬
übersteht.


Zwei Bücher über Politik

Wirksamkeit einzelner Moralgrundsätze entspringt, nun hinwiederum die Auf¬
gabe habe, die Menschen tugendhaft zu machen. Kein Mensch hat ein Recht,
vom andern Nachsicht oder Selbstverleugnung oder Aufopferung zu fordern;
Tugenden lassen sich nicht durch Befehl erzwingen; wie das Genie, so ent¬
zieht sich auch die Tugend der öffentlichen Gewalt. (S. 16.) Diesen Zusammen¬
hang zu verstehen, darauf kommt in der Politik alles an. Dieses Verständnis
aber ist mehr Sache natürlicher Begabung als sorgfältiger Schulung. „Ein
Schenkmädchen, wie Katharina die Zweite, hat das Zeug zu einem Staats¬
mann ersten Ranges, während kenntnisreiche Männer als Minister nichts
als Dummheiten machen." (S. 37.) Der Verfasser hat da die erste mit der
zweiten Katharina verwechselt, wie denn solche kleine thatsächliche Irrtümer,
namentlich wo es sich um Deutschland handelt, bei ihm nichts seltnes sind, aber
mit dem, was das verunglückte Beispiel zeigen soll, hat es trotzdem seine
Nichtigkeit. Es ist nach Funck vorzugsweise das Verkennen dieser einfachen
Verhältnisse, was die verzwickte und unhaltbare Lage der heutigen europäischen
Menschheit verschuldet; von diesem Standpunkte aus kritisirt er nun die
Leistungen des modernen Staats auf den verschiednen Gebieten seiner Thätig¬
keit und macht Reformvorschläge. Er behandelt, immer vorzugsweise mit Rück¬
sicht auf Frankreich, die Gesetzgebung, die Kongresse (der Antisklavereikongreß
wird mit dem Hohn gegeißelt, den er verdient», die Arbeiterfrage, die soziale
Frage, die Krisen der Industrie und des Handels, die Finanzen, das Unter¬
richtswesen, die Verarmung der mittlern und das Elend der untern Klassen,
das Steuer- und Zollwesen, die Staatsschuld (deren Tilgung gehört zu den
Forderungen Funcks, von denen er sagt, daß wenn sie nicht erfüllt würden,
man den Völkern lasomts ogni sxsrgn^Ä zurufen dürfe), die Beziehungen des
Staats zu Religion und Kirche, die Beziehungen der europäischen Staaten
unter einander und die Kvlvuinlpvlitik; den Schluß bildet das Kapitel: „Die
sozialen und die politischen Hilfsquellen Frankreichs."

Der Reichtum des Buches an treffenden Beobachtungen und glücklichen,
praktisch verwertbaren Gedanken ist so groß, daß eine Auslese schwer fällt.
Wer würde Funck z. B. nicht beipflichten, wenn er auf S. 101 sagt: „Unter
allen Formen des Wahlrechts ist das allgemeine, geheime und direkte un¬
streitig das beste, weil es die Wünsche des Volks am klarsten zum Ausdruck
bringt. Aber diese Wünsche auf dem Wege der Gesetzgebung erfüllen zu wollen,
würde unter allen Arten von Politik die allerschlechteste sein." Nicht die oft
unverständigen Wünsche und Forderungen von Volksmassen und Interessenten-
gruppen habe der Gesetzgeber zu erfülle», sondern seine Aufgabe sei es, die
Ursachen zu erforschen, aus deuen ihre Nöte und ihre Unzufriedenheit ent-
springen, und diese Ursachen zu beseitigen. Nur an dreien der von Funck be¬
handelten Gegenstände wollen wir zeigen, wie er den politischen Fragen gegen¬
übersteht.


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[0451] Zwei Bücher über Politik Wirksamkeit einzelner Moralgrundsätze entspringt, nun hinwiederum die Auf¬ gabe habe, die Menschen tugendhaft zu machen. Kein Mensch hat ein Recht, vom andern Nachsicht oder Selbstverleugnung oder Aufopferung zu fordern; Tugenden lassen sich nicht durch Befehl erzwingen; wie das Genie, so ent¬ zieht sich auch die Tugend der öffentlichen Gewalt. (S. 16.) Diesen Zusammen¬ hang zu verstehen, darauf kommt in der Politik alles an. Dieses Verständnis aber ist mehr Sache natürlicher Begabung als sorgfältiger Schulung. „Ein Schenkmädchen, wie Katharina die Zweite, hat das Zeug zu einem Staats¬ mann ersten Ranges, während kenntnisreiche Männer als Minister nichts als Dummheiten machen." (S. 37.) Der Verfasser hat da die erste mit der zweiten Katharina verwechselt, wie denn solche kleine thatsächliche Irrtümer, namentlich wo es sich um Deutschland handelt, bei ihm nichts seltnes sind, aber mit dem, was das verunglückte Beispiel zeigen soll, hat es trotzdem seine Nichtigkeit. Es ist nach Funck vorzugsweise das Verkennen dieser einfachen Verhältnisse, was die verzwickte und unhaltbare Lage der heutigen europäischen Menschheit verschuldet; von diesem Standpunkte aus kritisirt er nun die Leistungen des modernen Staats auf den verschiednen Gebieten seiner Thätig¬ keit und macht Reformvorschläge. Er behandelt, immer vorzugsweise mit Rück¬ sicht auf Frankreich, die Gesetzgebung, die Kongresse (der Antisklavereikongreß wird mit dem Hohn gegeißelt, den er verdient», die Arbeiterfrage, die soziale Frage, die Krisen der Industrie und des Handels, die Finanzen, das Unter¬ richtswesen, die Verarmung der mittlern und das Elend der untern Klassen, das Steuer- und Zollwesen, die Staatsschuld (deren Tilgung gehört zu den Forderungen Funcks, von denen er sagt, daß wenn sie nicht erfüllt würden, man den Völkern lasomts ogni sxsrgn^Ä zurufen dürfe), die Beziehungen des Staats zu Religion und Kirche, die Beziehungen der europäischen Staaten unter einander und die Kvlvuinlpvlitik; den Schluß bildet das Kapitel: „Die sozialen und die politischen Hilfsquellen Frankreichs." Der Reichtum des Buches an treffenden Beobachtungen und glücklichen, praktisch verwertbaren Gedanken ist so groß, daß eine Auslese schwer fällt. Wer würde Funck z. B. nicht beipflichten, wenn er auf S. 101 sagt: „Unter allen Formen des Wahlrechts ist das allgemeine, geheime und direkte un¬ streitig das beste, weil es die Wünsche des Volks am klarsten zum Ausdruck bringt. Aber diese Wünsche auf dem Wege der Gesetzgebung erfüllen zu wollen, würde unter allen Arten von Politik die allerschlechteste sein." Nicht die oft unverständigen Wünsche und Forderungen von Volksmassen und Interessenten- gruppen habe der Gesetzgeber zu erfülle», sondern seine Aufgabe sei es, die Ursachen zu erforschen, aus deuen ihre Nöte und ihre Unzufriedenheit ent- springen, und diese Ursachen zu beseitigen. Nur an dreien der von Funck be¬ handelten Gegenstände wollen wir zeigen, wie er den politischen Fragen gegen¬ übersteht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/451>, abgerufen am 29.09.2024.