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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

mögen, denn sonst Hütte er bei dem Worte "Unmenschen" doch nicht an Frank¬
reich, sondern zu allererst an die englischen Fabrikungeheuer und ihre nach
taufenden zählenden Kinderopfer gedacht, Hütte an die Grubenbesitzer gedacht,
die sich gegen das Verlangen der Bergleute, für ihre Kinder Schulen errichten
zu dürfen, mit Händen und Füßen gewehrt haben, oder wenn es sich bloß
um Kassen handelt, an den erbitterten Kampf des gesamten Unternehmertums
gegen alle Arbeiterkassen, und wie noch am 16. Januar 1867 ein hoher Staats¬
beamter, der Oberrichter Lord Cockburn, die Arbeiter ausdrücklich darauf hin¬
gewiesen hat, daß die Gewerkvereine keine Korporationsrechte besäßen, demnach
auch kein gesetzmüßiges Eigentum erwerben könnten, Diebstahl an den Vereins-
kasfen also -- kein Diebstahl und nicht strafbar sein würde. Dieses Loch in
der Landkarte halten wir für bedeutend schlimmer als das Übersehen des Par¬
lamentarismus. Denn seine Soldaten bekommt der König von Preußen mit
oder ohne Reichs- und Landtag jederzeit und auf alle Fülle, und ob bei dem
fortwährenden Anschreiben unsrer Gesetzesbibliothek den Geheimräten ein paar
hundert Abgeordnete helfen oder nicht, ist ziemlich gleichgiltig. Aber die Volks¬
wirtschaft bleibt die unentbehrliche Grundlage für das politische Leben wie für
alle höhere Kultur. Darum find die volkswirtschaftlichen Fragen von ent¬
scheidender Bedeutung für das Schicksal der Staaten und Völker, das moderne
Wirtschaftsleben aber ist ohne die genaue Kenntnis des englischen gar nicht
zu verstehen.

Diese entschiedne Abwendung des Blickes von England macht dem Alt¬
meister der deutschen Nationalökonomie jenen Optimismus in der Beurteilung
der Zustände des niedern Volks möglich, der so charakteristisch für den mo¬
dernen Liberalismus ist. Von diesem optimistischen Standpunkte aus pole-
misirt er auf S. 568 gegen einen "gefährlichen prinzipiellen Irrtum" H. Leos.
Dieser "redet davon, daß sich ganz unvermeidlich sehr vieles Elend auf Erden
finde, vorzugsweise für die niedern Klaffen und in den großen Städten. Gewiß!
Nun habe zum Glück die Macht der Gewohnheit alle diejenigen, die fort¬
während durch dieses Elend berührt werden, mit einer heilsamen Schwielen¬
haut versehen, wodurch sie eine Menge von Dingen, die uns andern uner¬
träglich sind, leicht ertragen. Auch wahr! Diese Schwielenhaut ihnen abzu¬
ziehen, sei die ärgste Grausamkeit. Hier liegt der Irrtum. Wäre jenes Elend
gänzlich ohne Hoffnung des Besferwerdens, so hätte Leo Recht." Und hier
liegt nun wiederum Noschers Irrtum, daß diese Hoffnung allgemein vor¬
handen sei. Nehmen wir einen Fall, wo die Schwielenhaut in der allerkörper-
lichsten Bedeutung nötig ist. Ende April brachte das Berliner Tageblatt fol¬
genden Bericht, gegen den keine Einwendung erhoben worden ist, der also
wahr und genau sein wird, zumal da ihn die in 130000 Exemplaren ver¬
breitete Berliner Morgenzeitung und der Vorwärts abgedruckt haben: "In
Vukow auf dem Rittergute werden etwa 40 polnische Weiber, sogenannte


Zwei Bücher über Politik

mögen, denn sonst Hütte er bei dem Worte „Unmenschen" doch nicht an Frank¬
reich, sondern zu allererst an die englischen Fabrikungeheuer und ihre nach
taufenden zählenden Kinderopfer gedacht, Hütte an die Grubenbesitzer gedacht,
die sich gegen das Verlangen der Bergleute, für ihre Kinder Schulen errichten
zu dürfen, mit Händen und Füßen gewehrt haben, oder wenn es sich bloß
um Kassen handelt, an den erbitterten Kampf des gesamten Unternehmertums
gegen alle Arbeiterkassen, und wie noch am 16. Januar 1867 ein hoher Staats¬
beamter, der Oberrichter Lord Cockburn, die Arbeiter ausdrücklich darauf hin¬
gewiesen hat, daß die Gewerkvereine keine Korporationsrechte besäßen, demnach
auch kein gesetzmüßiges Eigentum erwerben könnten, Diebstahl an den Vereins-
kasfen also — kein Diebstahl und nicht strafbar sein würde. Dieses Loch in
der Landkarte halten wir für bedeutend schlimmer als das Übersehen des Par¬
lamentarismus. Denn seine Soldaten bekommt der König von Preußen mit
oder ohne Reichs- und Landtag jederzeit und auf alle Fülle, und ob bei dem
fortwährenden Anschreiben unsrer Gesetzesbibliothek den Geheimräten ein paar
hundert Abgeordnete helfen oder nicht, ist ziemlich gleichgiltig. Aber die Volks¬
wirtschaft bleibt die unentbehrliche Grundlage für das politische Leben wie für
alle höhere Kultur. Darum find die volkswirtschaftlichen Fragen von ent¬
scheidender Bedeutung für das Schicksal der Staaten und Völker, das moderne
Wirtschaftsleben aber ist ohne die genaue Kenntnis des englischen gar nicht
zu verstehen.

Diese entschiedne Abwendung des Blickes von England macht dem Alt¬
meister der deutschen Nationalökonomie jenen Optimismus in der Beurteilung
der Zustände des niedern Volks möglich, der so charakteristisch für den mo¬
dernen Liberalismus ist. Von diesem optimistischen Standpunkte aus pole-
misirt er auf S. 568 gegen einen „gefährlichen prinzipiellen Irrtum" H. Leos.
Dieser „redet davon, daß sich ganz unvermeidlich sehr vieles Elend auf Erden
finde, vorzugsweise für die niedern Klaffen und in den großen Städten. Gewiß!
Nun habe zum Glück die Macht der Gewohnheit alle diejenigen, die fort¬
während durch dieses Elend berührt werden, mit einer heilsamen Schwielen¬
haut versehen, wodurch sie eine Menge von Dingen, die uns andern uner¬
träglich sind, leicht ertragen. Auch wahr! Diese Schwielenhaut ihnen abzu¬
ziehen, sei die ärgste Grausamkeit. Hier liegt der Irrtum. Wäre jenes Elend
gänzlich ohne Hoffnung des Besferwerdens, so hätte Leo Recht." Und hier
liegt nun wiederum Noschers Irrtum, daß diese Hoffnung allgemein vor¬
handen sei. Nehmen wir einen Fall, wo die Schwielenhaut in der allerkörper-
lichsten Bedeutung nötig ist. Ende April brachte das Berliner Tageblatt fol¬
genden Bericht, gegen den keine Einwendung erhoben worden ist, der also
wahr und genau sein wird, zumal da ihn die in 130000 Exemplaren ver¬
breitete Berliner Morgenzeitung und der Vorwärts abgedruckt haben: „In
Vukow auf dem Rittergute werden etwa 40 polnische Weiber, sogenannte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/447>, abgerufen am 29.09.2024.