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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

ein so häßlicher Schandfleck am modernen Staat, wie an der ehemaligen Re¬
publik Venedig ihre berüchtigten Staatsgefüngnisse, ja ein noch häßlicherer.
Denn das Opfer barbarischer Rechtspflege oder Staatskunst früherer Zeiten
ward, wenn ihm das Glück der Befreiung noch einmal zu teil wurde, als
Märtyrer geehrt, unsre heutige Strafjustiz aber macht alljährlich tausende von
Menschen zu Verbrechern und Auswürflingen, die es noch nicht waren, als
sie ihr in die Hände fielen. Von dem vor zwanzig Jahren verstorbnen Bey
von Tunis erzählt man, er habe allwöchentlich selbst Gericht abgehalten in
folgender Weise. Der Delinquent wurde vorgeführt, und ein Beamter trug
den Fall vor, und zwar ganz kurz. Darauf sprach der Bey das Urteil, oder
vielmehr er sprach gar nichts, sondern machte eine von drei Handbewegungen.
Entweder er fuhr sich über den Hals oder machte die Bewegung des Geld-
aufzählens oder die Haubewegung. Die Kopfbewegung machte er nur selten,
fast regelmäßig wurden den Armen Prügel, den Reichen Geldstrafen zudiktirt,
und da alles sehr rasch ging, so wurde der Bey an einem Vormittage mit
allen Delinquenten der Woche bequem fertig. Ob wir Europäer es wohl mit
unsrer verwickelten, unbequemen und kostspieligen Rechtspflege viel weiter bringen
als dieser alte Türke mit seiner einfachen, billigen und bequemen, und ob wir
uns wohler dabei befinden als die Tunesier bei der ihren?

Aber kehren wir zu Röscher zurück und vernehmen wir noch kurz, was
er zu den Schwierigkeiten meint, die den modernen Staat oder vielmehr die
Staatsbürger am meisten bedrängen. Grundsätzlich befinden wir uns in vollster
Übereinstimmung mit ihm; die Heilmittel gegen soziale und wirtschaftliche
Schäden, die er empfiehlt, sind die auch von uns schon oft empfohlenen, und
folgendes Programm einer Unigestaltung unsrer Staats- und Gesellschafts-
verfassung ist auch das unsrige: "Es gehört zu den vornehmsten ^ Be¬
dingungen eines gesunden Volkslebens, daß die einzelnen nicht bloß durch das
weite, rücksichtslose, eben darum nur zu leicht entweder kalte oder drückende
Band des Staates im allgemeinen als ein unübersehlicher Haufe zusammen¬
gefaßt werden, sondern zugleich innerhalb desselben zu eben so viel lebendigen
Gruppen organisirt, wie es besondre, mehreren von ihnen gemeinsame Interessen
giebt. Solche Gruppen stärken und sichern nicht bloß den in seiner Jsolirung
meist so schwachen, so vergänglichen Einzelmenschen, sondern sie bilden auch
ein wichtiges Volkserziehungsmittel sür Erwachsene: durch die nahe und doch
wegen ihrer Gegenseitigkeit freiheitliche Beaufsichtigung der Mitglieder, so wie
durch ihre, im kleinen Kreise beginnende, stete Übung von Rechten und
Pflichten." (S. 570.)

Diese Übereinstimmung in den Grundsätzen aber darf uns nicht abhalten,
ein paar Mängel in der Darstellung der Thatsachen hervorzuheben, die schon
an sich sehr schwer wiegen, doppelt schwer aber bei einem Manne von solcher
Autorität und Objektivität. In der -- all zu kurzen -- Kritik des Haupt-


Zwei Bücher über Politik

ein so häßlicher Schandfleck am modernen Staat, wie an der ehemaligen Re¬
publik Venedig ihre berüchtigten Staatsgefüngnisse, ja ein noch häßlicherer.
Denn das Opfer barbarischer Rechtspflege oder Staatskunst früherer Zeiten
ward, wenn ihm das Glück der Befreiung noch einmal zu teil wurde, als
Märtyrer geehrt, unsre heutige Strafjustiz aber macht alljährlich tausende von
Menschen zu Verbrechern und Auswürflingen, die es noch nicht waren, als
sie ihr in die Hände fielen. Von dem vor zwanzig Jahren verstorbnen Bey
von Tunis erzählt man, er habe allwöchentlich selbst Gericht abgehalten in
folgender Weise. Der Delinquent wurde vorgeführt, und ein Beamter trug
den Fall vor, und zwar ganz kurz. Darauf sprach der Bey das Urteil, oder
vielmehr er sprach gar nichts, sondern machte eine von drei Handbewegungen.
Entweder er fuhr sich über den Hals oder machte die Bewegung des Geld-
aufzählens oder die Haubewegung. Die Kopfbewegung machte er nur selten,
fast regelmäßig wurden den Armen Prügel, den Reichen Geldstrafen zudiktirt,
und da alles sehr rasch ging, so wurde der Bey an einem Vormittage mit
allen Delinquenten der Woche bequem fertig. Ob wir Europäer es wohl mit
unsrer verwickelten, unbequemen und kostspieligen Rechtspflege viel weiter bringen
als dieser alte Türke mit seiner einfachen, billigen und bequemen, und ob wir
uns wohler dabei befinden als die Tunesier bei der ihren?

Aber kehren wir zu Röscher zurück und vernehmen wir noch kurz, was
er zu den Schwierigkeiten meint, die den modernen Staat oder vielmehr die
Staatsbürger am meisten bedrängen. Grundsätzlich befinden wir uns in vollster
Übereinstimmung mit ihm; die Heilmittel gegen soziale und wirtschaftliche
Schäden, die er empfiehlt, sind die auch von uns schon oft empfohlenen, und
folgendes Programm einer Unigestaltung unsrer Staats- und Gesellschafts-
verfassung ist auch das unsrige: „Es gehört zu den vornehmsten ^ Be¬
dingungen eines gesunden Volkslebens, daß die einzelnen nicht bloß durch das
weite, rücksichtslose, eben darum nur zu leicht entweder kalte oder drückende
Band des Staates im allgemeinen als ein unübersehlicher Haufe zusammen¬
gefaßt werden, sondern zugleich innerhalb desselben zu eben so viel lebendigen
Gruppen organisirt, wie es besondre, mehreren von ihnen gemeinsame Interessen
giebt. Solche Gruppen stärken und sichern nicht bloß den in seiner Jsolirung
meist so schwachen, so vergänglichen Einzelmenschen, sondern sie bilden auch
ein wichtiges Volkserziehungsmittel sür Erwachsene: durch die nahe und doch
wegen ihrer Gegenseitigkeit freiheitliche Beaufsichtigung der Mitglieder, so wie
durch ihre, im kleinen Kreise beginnende, stete Übung von Rechten und
Pflichten." (S. 570.)

Diese Übereinstimmung in den Grundsätzen aber darf uns nicht abhalten,
ein paar Mängel in der Darstellung der Thatsachen hervorzuheben, die schon
an sich sehr schwer wiegen, doppelt schwer aber bei einem Manne von solcher
Autorität und Objektivität. In der — all zu kurzen — Kritik des Haupt-


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[0445] Zwei Bücher über Politik ein so häßlicher Schandfleck am modernen Staat, wie an der ehemaligen Re¬ publik Venedig ihre berüchtigten Staatsgefüngnisse, ja ein noch häßlicherer. Denn das Opfer barbarischer Rechtspflege oder Staatskunst früherer Zeiten ward, wenn ihm das Glück der Befreiung noch einmal zu teil wurde, als Märtyrer geehrt, unsre heutige Strafjustiz aber macht alljährlich tausende von Menschen zu Verbrechern und Auswürflingen, die es noch nicht waren, als sie ihr in die Hände fielen. Von dem vor zwanzig Jahren verstorbnen Bey von Tunis erzählt man, er habe allwöchentlich selbst Gericht abgehalten in folgender Weise. Der Delinquent wurde vorgeführt, und ein Beamter trug den Fall vor, und zwar ganz kurz. Darauf sprach der Bey das Urteil, oder vielmehr er sprach gar nichts, sondern machte eine von drei Handbewegungen. Entweder er fuhr sich über den Hals oder machte die Bewegung des Geld- aufzählens oder die Haubewegung. Die Kopfbewegung machte er nur selten, fast regelmäßig wurden den Armen Prügel, den Reichen Geldstrafen zudiktirt, und da alles sehr rasch ging, so wurde der Bey an einem Vormittage mit allen Delinquenten der Woche bequem fertig. Ob wir Europäer es wohl mit unsrer verwickelten, unbequemen und kostspieligen Rechtspflege viel weiter bringen als dieser alte Türke mit seiner einfachen, billigen und bequemen, und ob wir uns wohler dabei befinden als die Tunesier bei der ihren? Aber kehren wir zu Röscher zurück und vernehmen wir noch kurz, was er zu den Schwierigkeiten meint, die den modernen Staat oder vielmehr die Staatsbürger am meisten bedrängen. Grundsätzlich befinden wir uns in vollster Übereinstimmung mit ihm; die Heilmittel gegen soziale und wirtschaftliche Schäden, die er empfiehlt, sind die auch von uns schon oft empfohlenen, und folgendes Programm einer Unigestaltung unsrer Staats- und Gesellschafts- verfassung ist auch das unsrige: „Es gehört zu den vornehmsten ^ Be¬ dingungen eines gesunden Volkslebens, daß die einzelnen nicht bloß durch das weite, rücksichtslose, eben darum nur zu leicht entweder kalte oder drückende Band des Staates im allgemeinen als ein unübersehlicher Haufe zusammen¬ gefaßt werden, sondern zugleich innerhalb desselben zu eben so viel lebendigen Gruppen organisirt, wie es besondre, mehreren von ihnen gemeinsame Interessen giebt. Solche Gruppen stärken und sichern nicht bloß den in seiner Jsolirung meist so schwachen, so vergänglichen Einzelmenschen, sondern sie bilden auch ein wichtiges Volkserziehungsmittel sür Erwachsene: durch die nahe und doch wegen ihrer Gegenseitigkeit freiheitliche Beaufsichtigung der Mitglieder, so wie durch ihre, im kleinen Kreise beginnende, stete Übung von Rechten und Pflichten." (S. 570.) Diese Übereinstimmung in den Grundsätzen aber darf uns nicht abhalten, ein paar Mängel in der Darstellung der Thatsachen hervorzuheben, die schon an sich sehr schwer wiegen, doppelt schwer aber bei einem Manne von solcher Autorität und Objektivität. In der — all zu kurzen — Kritik des Haupt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/445>, abgerufen am 29.09.2024.