Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Zwei Bücher über Politik Wesen, überhaupt die eigentümlich entwickelten Begriffe von Standesehre, das Zwei Bücher über Politik Wesen, überhaupt die eigentümlich entwickelten Begriffe von Standesehre, das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0444" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214899"/> <fw type="header" place="top"> Zwei Bücher über Politik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1762" prev="#ID_1761" next="#ID_1763"> Wesen, überhaupt die eigentümlich entwickelten Begriffe von Standesehre, das<lb/> Verbot der Ziviltracht u. s. w. wesentlich aus diesem Gesichtspunkt zu be¬<lb/> trachten." In einer Anmerkung wird hinzugefügt: „Viele von diesen Einrich¬<lb/> tungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bestrebungen der römischen<lb/> Kirche, in unsrer standeslosen ^vielmehr ftündelosen^ Zeit einen geistlichen<lb/> Stand wieder herzustellen, auch hier mit dem strengsten Gehorsam gegenüber<lb/> den Standesvorgesetzten. So entsprechen z. V. den Kadettenkorps die Knaben¬<lb/> seminare, dein strengen Heiratskonsense der Cölibat. In beiden Fällen<lb/> privilegirte Gerichtsbarkeit >die aber für die katholische Geistlichkeit nur<lb/> beansprucht, nicht zugestanden wird^, stete Uniformirung, womöglich gemein¬<lb/> sames Wohnen und Speisen." Hier hätte sich auch noch zeigen lassen, wie<lb/> sich die im Jesuitenorden gipfelnde absolutistische und zentralisirende Gestal¬<lb/> tung des römischen Kirchenwesens erst seit dem sechzehnten Jahrhundert und<lb/> durchaus in Wechselwirkung mit der entsprechenden Umgestaltung der Staaten<lb/> entwickelt hat, und zwischen dem Jesuitenorden und manchen ihm innerlich ver¬<lb/> wandten Erscheinungen des preußischen Wesens eine Parallele ziehen lassen. Wie<lb/> wenig im Völkerleben die Staatsverfnssnng bedeutet, wie viel, ja wie alles<lb/> auf Land und Leute ankommt, das tritt recht anschaulich in der Beschreibung<lb/> der schweizer Demokratie hervor. Einrichtungen, die einen Großstaat mit ver¬<lb/> wickelter Kultur binnen zehn Jahren zu Grunde richten würden, haben dem<lb/> Hirtenvölkchen der Urkantone nichts geschadet und den jahrhundertelangen<lb/> ruhigen Bestand seines Gemeinwesens nicht im mindesten gefährdet. Mit vier¬<lb/> zehn Jahren ist der Bub in Nicdwalden zu wählen, in Zug und Uri sogar<lb/> zur Teilnahme an der gesetzgebenden Versammlung berechtigt, natürlich auch<lb/> heiratsfähig. Für die absolute Gleichheit hätte Röscher noch die Anekdote an¬<lb/> führen können, daß, als einmal bei der Tagsatzung, die bekanntlich im Freien<lb/> abgehalten wird, der Landammcm seinen Regenschirm aufspannte, ein Bauer<lb/> vortrat und sagte: Du, thu dei Negedach abe, wir han an keins. Wenn<lb/> Röscher das gänzliche Fehlen von Strafanstalten in den Urkantonen, und daß<lb/> man in Schwyz Verbrecher manchmal nur darum geköpft habe, weil man sie<lb/> nicht einsperren konnte, zu den Schattenseiten jener urzustüudlichcn Kleinstaaten<lb/> rechnet, so sind wir andrer Meinung. Die Einsperrung ist für den richtigen<lb/> Mann eine weit härtere Strafe als der Tod, und wenn sich der durchschnitt¬<lb/> liche Deutsche von heute geduldig einsperren läßt, so ist damit eben bloß be¬<lb/> wiesen, daß es in Deutschland keine echten Germanen mehr giebt; mit dem<lb/> bloßen Singen von „Deutschland, Deutschland über alles" oder mit dem Re-<lb/> nommirknüppel wird das erstorbne Urgermanentum kaum wieder lebendig ge¬<lb/> macht werden können. Daß ein Mensch, der sich aus Not oder Unbesonnenheit<lb/> oder Leidenschaft eines Vergehens schuldig gemacht hat, zeitlebens das Brandmal:<lb/> „hat schon gesessen" mit sich herumschleppen muß, ist vollends Barbarei. Die<lb/> Gefängnisse und Zuchthäuser, die zahllosen Gestalten in Sträflingsjacken sind</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0444]
Zwei Bücher über Politik
Wesen, überhaupt die eigentümlich entwickelten Begriffe von Standesehre, das
Verbot der Ziviltracht u. s. w. wesentlich aus diesem Gesichtspunkt zu be¬
trachten." In einer Anmerkung wird hinzugefügt: „Viele von diesen Einrich¬
tungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bestrebungen der römischen
Kirche, in unsrer standeslosen ^vielmehr ftündelosen^ Zeit einen geistlichen
Stand wieder herzustellen, auch hier mit dem strengsten Gehorsam gegenüber
den Standesvorgesetzten. So entsprechen z. V. den Kadettenkorps die Knaben¬
seminare, dein strengen Heiratskonsense der Cölibat. In beiden Fällen
privilegirte Gerichtsbarkeit >die aber für die katholische Geistlichkeit nur
beansprucht, nicht zugestanden wird^, stete Uniformirung, womöglich gemein¬
sames Wohnen und Speisen." Hier hätte sich auch noch zeigen lassen, wie
sich die im Jesuitenorden gipfelnde absolutistische und zentralisirende Gestal¬
tung des römischen Kirchenwesens erst seit dem sechzehnten Jahrhundert und
durchaus in Wechselwirkung mit der entsprechenden Umgestaltung der Staaten
entwickelt hat, und zwischen dem Jesuitenorden und manchen ihm innerlich ver¬
wandten Erscheinungen des preußischen Wesens eine Parallele ziehen lassen. Wie
wenig im Völkerleben die Staatsverfnssnng bedeutet, wie viel, ja wie alles
auf Land und Leute ankommt, das tritt recht anschaulich in der Beschreibung
der schweizer Demokratie hervor. Einrichtungen, die einen Großstaat mit ver¬
wickelter Kultur binnen zehn Jahren zu Grunde richten würden, haben dem
Hirtenvölkchen der Urkantone nichts geschadet und den jahrhundertelangen
ruhigen Bestand seines Gemeinwesens nicht im mindesten gefährdet. Mit vier¬
zehn Jahren ist der Bub in Nicdwalden zu wählen, in Zug und Uri sogar
zur Teilnahme an der gesetzgebenden Versammlung berechtigt, natürlich auch
heiratsfähig. Für die absolute Gleichheit hätte Röscher noch die Anekdote an¬
führen können, daß, als einmal bei der Tagsatzung, die bekanntlich im Freien
abgehalten wird, der Landammcm seinen Regenschirm aufspannte, ein Bauer
vortrat und sagte: Du, thu dei Negedach abe, wir han an keins. Wenn
Röscher das gänzliche Fehlen von Strafanstalten in den Urkantonen, und daß
man in Schwyz Verbrecher manchmal nur darum geköpft habe, weil man sie
nicht einsperren konnte, zu den Schattenseiten jener urzustüudlichcn Kleinstaaten
rechnet, so sind wir andrer Meinung. Die Einsperrung ist für den richtigen
Mann eine weit härtere Strafe als der Tod, und wenn sich der durchschnitt¬
liche Deutsche von heute geduldig einsperren läßt, so ist damit eben bloß be¬
wiesen, daß es in Deutschland keine echten Germanen mehr giebt; mit dem
bloßen Singen von „Deutschland, Deutschland über alles" oder mit dem Re-
nommirknüppel wird das erstorbne Urgermanentum kaum wieder lebendig ge¬
macht werden können. Daß ein Mensch, der sich aus Not oder Unbesonnenheit
oder Leidenschaft eines Vergehens schuldig gemacht hat, zeitlebens das Brandmal:
„hat schon gesessen" mit sich herumschleppen muß, ist vollends Barbarei. Die
Gefängnisse und Zuchthäuser, die zahllosen Gestalten in Sträflingsjacken sind
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