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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein kurioser Kciuz ist Dr. R. von Kocher, wenigstens wie er uns in der
Schrift: DieLebensfrage, eine erkenntnis-theoretische Studie (Leipzig, W. Friedrich),
erscheint. Mit einer feurigen Verteidigung des echten Kant, wie ihn E. von Hart-
mann versteht, gegen die Neukantianer, zu denen sich, nebenbei bemerkt, auch Fritz
Schnitze rechnet, sängt er an, und mit Gespenstergeschichten, über die Kant gelacht
haben würde, hört er auf. Ich glaube an kein Gespenst, hat der Weise von
Königsberg gesagt, denn, glaube ich erst an ein Gespenst, so muß ich an alle
Gespenster glauben. Übrigens teilen wir Kochers Glauben an die Wirklichkeit so¬
wohl der diesseitigen wie der jenseitigen Welt, wenn wir auch Gespenstergeschichten
zur Stützung dieses Glaubens nicht für notwendig halten.

Schließen wir gleich noch zwei Schriftchen an, die mehr ethischen als Psycho¬
logischen Inhalts sind: Der sittliche Mensch, aus seinem psychologischen Gesetz
entwickelt von Rudolf Wilhelm! (Leipzig, Otto Wigand, 1391) und Modernes
Seelenleben von Richard Gumprecht (Leipzig, W. Friedrich). Wilhelm!
findet, wie manche andre Leute auch, daß die sogenannten Sittengesetze der Juden
und Christe", als Überbleibsel früherer Kulturstufen, Nieder Sinn noch Berechtigung
mehr haben, und nur noch ein Hindernis bilden für die wahre Sittlichkeit. Diese
sei nichts andres, als erleuchteter Egoismus. Unter Sittlichkeit versteht er "nicht
die Befolgung waltender Gebräuche," sondern null "damit nur formal das Be¬
dürfnis des geselligen Menschen nach ungestörter Eintracht bezeichnen," also etwa,
wenn wirs recht verstehen, das Bedürfnis uach eiuer Ehe ohne Schwiegermutter.
"Das sittliche Leben der Menschen ist freier Gütertausch." Das läßt sich hören,
ist aber keineswegs so nen, wie der Verfasser meint. Was bisher immer noch
zur Verwirklichung dieser utilitarischen Moral fehlte, war eine Juteresseuharmoine.
die einen allerseits ganz freien Gütertnnsch ermöglicht hätte. Der Verfasser soll
einmal erst deutsche und französische Chauvius, oft- und westdeutsche Agrarier,
Agrarier und jüdische Kapitalisten, deutsche und italienische Weinbauern, die Schnaps¬
brenner, die Schnapstrinker und den Fiskus, Miquel und die Kölnische Zeitung,
die Jungen und die Alten, Thümmel und die Jesuiten unter einen Hut bringen,
und dann wollen wir nach seiner Art moralisch sein, daß es eine Lust ist. Viel¬
leicht verhelfen uns die Sozinldemokraten dazu, an die er übrigens, so nahe es
lag, nicht gedacht zu haben scheint. Gumprecht will,,dem Pessimismus nicht das
große Wort lassen," wenn aber trotzdem sein Buch "einen bittern Nachgeschmack
hinterläßt," so glaubt er den Grund darin zu finde", daß "die Nachtseiten in
unsrer Seele" in Wahrheit stärker entwickelt seien, als ihre Lichtseiten. Was er
giebt, sind feuilletonistische Skizzen im Geiste und Tone Mnx Nordnus. "Da
möchten wir nnr wissen, was wir an der Gesellschaft noch moralisch zu vergiften
finden sollten!" würden die Jesuiten ausrufen, wenn sie das Büchlein lasen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ein kurioser Kciuz ist Dr. R. von Kocher, wenigstens wie er uns in der
Schrift: DieLebensfrage, eine erkenntnis-theoretische Studie (Leipzig, W. Friedrich),
erscheint. Mit einer feurigen Verteidigung des echten Kant, wie ihn E. von Hart-
mann versteht, gegen die Neukantianer, zu denen sich, nebenbei bemerkt, auch Fritz
Schnitze rechnet, sängt er an, und mit Gespenstergeschichten, über die Kant gelacht
haben würde, hört er auf. Ich glaube an kein Gespenst, hat der Weise von
Königsberg gesagt, denn, glaube ich erst an ein Gespenst, so muß ich an alle
Gespenster glauben. Übrigens teilen wir Kochers Glauben an die Wirklichkeit so¬
wohl der diesseitigen wie der jenseitigen Welt, wenn wir auch Gespenstergeschichten
zur Stützung dieses Glaubens nicht für notwendig halten.

Schließen wir gleich noch zwei Schriftchen an, die mehr ethischen als Psycho¬
logischen Inhalts sind: Der sittliche Mensch, aus seinem psychologischen Gesetz
entwickelt von Rudolf Wilhelm! (Leipzig, Otto Wigand, 1391) und Modernes
Seelenleben von Richard Gumprecht (Leipzig, W. Friedrich). Wilhelm!
findet, wie manche andre Leute auch, daß die sogenannten Sittengesetze der Juden
und Christe», als Überbleibsel früherer Kulturstufen, Nieder Sinn noch Berechtigung
mehr haben, und nur noch ein Hindernis bilden für die wahre Sittlichkeit. Diese
sei nichts andres, als erleuchteter Egoismus. Unter Sittlichkeit versteht er „nicht
die Befolgung waltender Gebräuche," sondern null „damit nur formal das Be¬
dürfnis des geselligen Menschen nach ungestörter Eintracht bezeichnen," also etwa,
wenn wirs recht verstehen, das Bedürfnis uach eiuer Ehe ohne Schwiegermutter.
„Das sittliche Leben der Menschen ist freier Gütertausch." Das läßt sich hören,
ist aber keineswegs so nen, wie der Verfasser meint. Was bisher immer noch
zur Verwirklichung dieser utilitarischen Moral fehlte, war eine Juteresseuharmoine.
die einen allerseits ganz freien Gütertnnsch ermöglicht hätte. Der Verfasser soll
einmal erst deutsche und französische Chauvius, oft- und westdeutsche Agrarier,
Agrarier und jüdische Kapitalisten, deutsche und italienische Weinbauern, die Schnaps¬
brenner, die Schnapstrinker und den Fiskus, Miquel und die Kölnische Zeitung,
die Jungen und die Alten, Thümmel und die Jesuiten unter einen Hut bringen,
und dann wollen wir nach seiner Art moralisch sein, daß es eine Lust ist. Viel¬
leicht verhelfen uns die Sozinldemokraten dazu, an die er übrigens, so nahe es
lag, nicht gedacht zu haben scheint. Gumprecht will,,dem Pessimismus nicht das
große Wort lassen," wenn aber trotzdem sein Buch „einen bittern Nachgeschmack
hinterläßt," so glaubt er den Grund darin zu finde», daß „die Nachtseiten in
unsrer Seele" in Wahrheit stärker entwickelt seien, als ihre Lichtseiten. Was er
giebt, sind feuilletonistische Skizzen im Geiste und Tone Mnx Nordnus. „Da
möchten wir nnr wissen, was wir an der Gesellschaft noch moralisch zu vergiften
finden sollten!" würden die Jesuiten ausrufen, wenn sie das Büchlein lasen.




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[0438] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ein kurioser Kciuz ist Dr. R. von Kocher, wenigstens wie er uns in der Schrift: DieLebensfrage, eine erkenntnis-theoretische Studie (Leipzig, W. Friedrich), erscheint. Mit einer feurigen Verteidigung des echten Kant, wie ihn E. von Hart- mann versteht, gegen die Neukantianer, zu denen sich, nebenbei bemerkt, auch Fritz Schnitze rechnet, sängt er an, und mit Gespenstergeschichten, über die Kant gelacht haben würde, hört er auf. Ich glaube an kein Gespenst, hat der Weise von Königsberg gesagt, denn, glaube ich erst an ein Gespenst, so muß ich an alle Gespenster glauben. Übrigens teilen wir Kochers Glauben an die Wirklichkeit so¬ wohl der diesseitigen wie der jenseitigen Welt, wenn wir auch Gespenstergeschichten zur Stützung dieses Glaubens nicht für notwendig halten. Schließen wir gleich noch zwei Schriftchen an, die mehr ethischen als Psycho¬ logischen Inhalts sind: Der sittliche Mensch, aus seinem psychologischen Gesetz entwickelt von Rudolf Wilhelm! (Leipzig, Otto Wigand, 1391) und Modernes Seelenleben von Richard Gumprecht (Leipzig, W. Friedrich). Wilhelm! findet, wie manche andre Leute auch, daß die sogenannten Sittengesetze der Juden und Christe», als Überbleibsel früherer Kulturstufen, Nieder Sinn noch Berechtigung mehr haben, und nur noch ein Hindernis bilden für die wahre Sittlichkeit. Diese sei nichts andres, als erleuchteter Egoismus. Unter Sittlichkeit versteht er „nicht die Befolgung waltender Gebräuche," sondern null „damit nur formal das Be¬ dürfnis des geselligen Menschen nach ungestörter Eintracht bezeichnen," also etwa, wenn wirs recht verstehen, das Bedürfnis uach eiuer Ehe ohne Schwiegermutter. „Das sittliche Leben der Menschen ist freier Gütertausch." Das läßt sich hören, ist aber keineswegs so nen, wie der Verfasser meint. Was bisher immer noch zur Verwirklichung dieser utilitarischen Moral fehlte, war eine Juteresseuharmoine. die einen allerseits ganz freien Gütertnnsch ermöglicht hätte. Der Verfasser soll einmal erst deutsche und französische Chauvius, oft- und westdeutsche Agrarier, Agrarier und jüdische Kapitalisten, deutsche und italienische Weinbauern, die Schnaps¬ brenner, die Schnapstrinker und den Fiskus, Miquel und die Kölnische Zeitung, die Jungen und die Alten, Thümmel und die Jesuiten unter einen Hut bringen, und dann wollen wir nach seiner Art moralisch sein, daß es eine Lust ist. Viel¬ leicht verhelfen uns die Sozinldemokraten dazu, an die er übrigens, so nahe es lag, nicht gedacht zu haben scheint. Gumprecht will,,dem Pessimismus nicht das große Wort lassen," wenn aber trotzdem sein Buch „einen bittern Nachgeschmack hinterläßt," so glaubt er den Grund darin zu finde», daß „die Nachtseiten in unsrer Seele" in Wahrheit stärker entwickelt seien, als ihre Lichtseiten. Was er giebt, sind feuilletonistische Skizzen im Geiste und Tone Mnx Nordnus. „Da möchten wir nnr wissen, was wir an der Gesellschaft noch moralisch zu vergiften finden sollten!" würden die Jesuiten ausrufen, wenn sie das Büchlein lasen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/438>, abgerufen am 23.07.2024.