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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die menschliche Vernunft, so läßt sich ein andrer vernehmen (Zur Herr¬
schaft der Seele. Ein Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des
Menschengeschlechts von Paul Robert. Leipzig, Otto Wigand, 1892) ist "eine
werdende Seele, und auch die menschliche Seele ist nnr eine Sprosse auf der
Stufenleiter, die zu Gottes unendlicher Höhe den Geist hinanführt. In jenem Er-
iösuugskmupfe, der jsichlj im Weltall sich abspielt, erscheint das Bestreben des
menschlichen Geistes, Islas!s der Herrschaft der Materie sich zu entwinde", nnr als
ein verbindendes Glied in einer unabsehbaren Kette, die für die menschliche Er¬
kenntnis weder eine" Anfang noch ein Ende hat. Das Endziel dieses Befreiungs¬
prozesses ist die Entgeistignng der Materie." Da hätten wir die alten gnostischen
Systeme wieder: Zweck und Endziel des Weltprozesses ist die Erlösung des vo-se,'
aus der ihn umklammernden in deren Umarmung er sich verirrt hat. "Das
zeitliche Leben des Menschen -- heißt es dann S. 30 -- enthält die Summe der
im Vorlebe" vernachlässigten Pflichten, die jsichij der Seele nach ihrer Wieder¬
verkörperung von neuem sich nahm."") Seele ist "Geist, der zur Klarheit gelaugt
ist. Die Seele sucht und findet ihre Genesung nnr in Gott." Daher predigt der
Verfasser Entsagung, namentlich mit Rücksicht auf die grobe Diesseitigkeit des
sozialdeinoirntischen Ideals. Doch erkennt er das Streben der untern Klassen nach
Besserung ihrer Lage als berechtigt an und fordert eine Reform des Erbrechts,
von der er die Besserung erwartet.

Wenn wir, lediglich der Seelenwanderung wegen, hier die Vergleichende
Seelenkunde von Fritz Schnitze (Leipzig, Ernst Günther, 1892) anreihen, so
müssen wir den Verfasser, der Professor der Philosophie an der technischen Hoch¬
schule zu Dresden ist, ausdrücklich um Entschuldigung bitten; denn während die
vorgenannten und die uoch zu erwähnenden kleinen Schriften nur 'Dilettanten-
nrbeiten sind, haben wir es hier mit einem wertvollen wissenschaftlichen Werke zu
thun. Die vorliegende erste Hälfte des ersten Bandes enthält die physiologische
Psychologie, deren Ergebnisse selbstverständlich im Großen und Ganzen mit denen
von Wundt zusammentreffen. Die folgenden Hefte sollen behandeln: Die Psycho¬
logie der Pflanzen und Tiere, die Psychologie der Naturvölker, die Psychologie des
Kindes, die Psychologie des Kulturmenschen und die Psychvpatholvgie. Steht nach
Robert die Seele über dem Geiste, so nach Schultze der Geist über der Seele.
Seine Ansicht von der Seelenwanderung entwickelt er irr zehnten Kapitel, das
überschrieben ist: "Der Tod und die Unsterblichkeitslehre des biologischen Monis¬
mus. Eine metaphysische Phantasie." Einsam, sagt er, stehe dieses Kapitel nnter
den übrigen, die sich streng auf empirischem Gebiete hielten; man könne es über¬
schlagen, ohne daß dadurch das Verständnis des nachfolgenden beeinträchtigt würde.
Die'Grundzüge der Hypothese, die er darin aufstellt, sind folgende. Das Welt¬
ganze besteht aus ewigen, nnerschnffneu und unvergänglichen Atomen und aus eben
solchen Seelenkeimen, die er Psychaden nennt. Beide sind verschieden von ein-



*) DaS sich setzt der Verfasser beharrlich um die falsche Stelle.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die menschliche Vernunft, so läßt sich ein andrer vernehmen (Zur Herr¬
schaft der Seele. Ein Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des
Menschengeschlechts von Paul Robert. Leipzig, Otto Wigand, 1892) ist „eine
werdende Seele, und auch die menschliche Seele ist nnr eine Sprosse auf der
Stufenleiter, die zu Gottes unendlicher Höhe den Geist hinanführt. In jenem Er-
iösuugskmupfe, der jsichlj im Weltall sich abspielt, erscheint das Bestreben des
menschlichen Geistes, Islas!s der Herrschaft der Materie sich zu entwinde», nnr als
ein verbindendes Glied in einer unabsehbaren Kette, die für die menschliche Er¬
kenntnis weder eine» Anfang noch ein Ende hat. Das Endziel dieses Befreiungs¬
prozesses ist die Entgeistignng der Materie." Da hätten wir die alten gnostischen
Systeme wieder: Zweck und Endziel des Weltprozesses ist die Erlösung des vo-se,'
aus der ihn umklammernden in deren Umarmung er sich verirrt hat. „Das
zeitliche Leben des Menschen — heißt es dann S. 30 — enthält die Summe der
im Vorlebe» vernachlässigten Pflichten, die jsichij der Seele nach ihrer Wieder¬
verkörperung von neuem sich nahm."") Seele ist „Geist, der zur Klarheit gelaugt
ist. Die Seele sucht und findet ihre Genesung nnr in Gott." Daher predigt der
Verfasser Entsagung, namentlich mit Rücksicht auf die grobe Diesseitigkeit des
sozialdeinoirntischen Ideals. Doch erkennt er das Streben der untern Klassen nach
Besserung ihrer Lage als berechtigt an und fordert eine Reform des Erbrechts,
von der er die Besserung erwartet.

Wenn wir, lediglich der Seelenwanderung wegen, hier die Vergleichende
Seelenkunde von Fritz Schnitze (Leipzig, Ernst Günther, 1892) anreihen, so
müssen wir den Verfasser, der Professor der Philosophie an der technischen Hoch¬
schule zu Dresden ist, ausdrücklich um Entschuldigung bitten; denn während die
vorgenannten und die uoch zu erwähnenden kleinen Schriften nur 'Dilettanten-
nrbeiten sind, haben wir es hier mit einem wertvollen wissenschaftlichen Werke zu
thun. Die vorliegende erste Hälfte des ersten Bandes enthält die physiologische
Psychologie, deren Ergebnisse selbstverständlich im Großen und Ganzen mit denen
von Wundt zusammentreffen. Die folgenden Hefte sollen behandeln: Die Psycho¬
logie der Pflanzen und Tiere, die Psychologie der Naturvölker, die Psychologie des
Kindes, die Psychologie des Kulturmenschen und die Psychvpatholvgie. Steht nach
Robert die Seele über dem Geiste, so nach Schultze der Geist über der Seele.
Seine Ansicht von der Seelenwanderung entwickelt er irr zehnten Kapitel, das
überschrieben ist: „Der Tod und die Unsterblichkeitslehre des biologischen Monis¬
mus. Eine metaphysische Phantasie." Einsam, sagt er, stehe dieses Kapitel nnter
den übrigen, die sich streng auf empirischem Gebiete hielten; man könne es über¬
schlagen, ohne daß dadurch das Verständnis des nachfolgenden beeinträchtigt würde.
Die'Grundzüge der Hypothese, die er darin aufstellt, sind folgende. Das Welt¬
ganze besteht aus ewigen, nnerschnffneu und unvergänglichen Atomen und aus eben
solchen Seelenkeimen, die er Psychaden nennt. Beide sind verschieden von ein-



*) DaS sich setzt der Verfasser beharrlich um die falsche Stelle.
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[0436] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die menschliche Vernunft, so läßt sich ein andrer vernehmen (Zur Herr¬ schaft der Seele. Ein Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschengeschlechts von Paul Robert. Leipzig, Otto Wigand, 1892) ist „eine werdende Seele, und auch die menschliche Seele ist nnr eine Sprosse auf der Stufenleiter, die zu Gottes unendlicher Höhe den Geist hinanführt. In jenem Er- iösuugskmupfe, der jsichlj im Weltall sich abspielt, erscheint das Bestreben des menschlichen Geistes, Islas!s der Herrschaft der Materie sich zu entwinde», nnr als ein verbindendes Glied in einer unabsehbaren Kette, die für die menschliche Er¬ kenntnis weder eine» Anfang noch ein Ende hat. Das Endziel dieses Befreiungs¬ prozesses ist die Entgeistignng der Materie." Da hätten wir die alten gnostischen Systeme wieder: Zweck und Endziel des Weltprozesses ist die Erlösung des vo-se,' aus der ihn umklammernden in deren Umarmung er sich verirrt hat. „Das zeitliche Leben des Menschen — heißt es dann S. 30 — enthält die Summe der im Vorlebe» vernachlässigten Pflichten, die jsichij der Seele nach ihrer Wieder¬ verkörperung von neuem sich nahm."") Seele ist „Geist, der zur Klarheit gelaugt ist. Die Seele sucht und findet ihre Genesung nnr in Gott." Daher predigt der Verfasser Entsagung, namentlich mit Rücksicht auf die grobe Diesseitigkeit des sozialdeinoirntischen Ideals. Doch erkennt er das Streben der untern Klassen nach Besserung ihrer Lage als berechtigt an und fordert eine Reform des Erbrechts, von der er die Besserung erwartet. Wenn wir, lediglich der Seelenwanderung wegen, hier die Vergleichende Seelenkunde von Fritz Schnitze (Leipzig, Ernst Günther, 1892) anreihen, so müssen wir den Verfasser, der Professor der Philosophie an der technischen Hoch¬ schule zu Dresden ist, ausdrücklich um Entschuldigung bitten; denn während die vorgenannten und die uoch zu erwähnenden kleinen Schriften nur 'Dilettanten- nrbeiten sind, haben wir es hier mit einem wertvollen wissenschaftlichen Werke zu thun. Die vorliegende erste Hälfte des ersten Bandes enthält die physiologische Psychologie, deren Ergebnisse selbstverständlich im Großen und Ganzen mit denen von Wundt zusammentreffen. Die folgenden Hefte sollen behandeln: Die Psycho¬ logie der Pflanzen und Tiere, die Psychologie der Naturvölker, die Psychologie des Kindes, die Psychologie des Kulturmenschen und die Psychvpatholvgie. Steht nach Robert die Seele über dem Geiste, so nach Schultze der Geist über der Seele. Seine Ansicht von der Seelenwanderung entwickelt er irr zehnten Kapitel, das überschrieben ist: „Der Tod und die Unsterblichkeitslehre des biologischen Monis¬ mus. Eine metaphysische Phantasie." Einsam, sagt er, stehe dieses Kapitel nnter den übrigen, die sich streng auf empirischem Gebiete hielten; man könne es über¬ schlagen, ohne daß dadurch das Verständnis des nachfolgenden beeinträchtigt würde. Die'Grundzüge der Hypothese, die er darin aufstellt, sind folgende. Das Welt¬ ganze besteht aus ewigen, nnerschnffneu und unvergänglichen Atomen und aus eben solchen Seelenkeimen, die er Psychaden nennt. Beide sind verschieden von ein- *) DaS sich setzt der Verfasser beharrlich um die falsche Stelle.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/436>, abgerufen am 23.07.2024.