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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Sie Bornstcidler wmswkten

I, darauf hat mich ja der Kellner Biedermcyer gebracht. Der Halunke
ist der Dieb gewesen!

Ja, der Halunke! platzt der Amtsanwalt ganz unvvrschriftsmäßig heraus.
sein Schnurrbart zeigt ordentlich helle" Svimeuschein. Ich muß das Schuldig
beantragen, aber in Anbetracht der Jugend, des Hungers und des ausge-
standner Arrestes bitte ich uur auf einen Verweis z>l erkennen.

Das Schöffengericht zieht sich zur Beratung zurück und kehrt nach zwei
Minuten wieder. Das Urteil lautet überraschend; es ist auf Freisprechung
erkannt, und zwar, wie der Amtsrichter scharf betont: mit Stimmenmehrheit.
Die scharfe Hervorhebung hat ihren guten Grund; sie soll besagen: Ich, der
preußische Richter, habe mich dem Gesetze für das Schuldig gestimmt, aber die
Schöffen sind ihrem Gefühle gefolgt. Sie haben dem Jungen wegen der
Dummheit nicht einen Klex fürs ganze Leben anhängen wollen und haben mich
überstimmt.

Wer will sie deswegen tadeln?

Der Amtsrichter hat es nicht gethan und der Amtsanwalt hat nicht
appellirt. Er hat sich sogar herzlich gefreut, daß seine Milde noch über¬
trumpft worden ist, und dem braven Nehwald die Hand nebst einem
Thaler für Karl Pieper gegeben. Auch Frau Pieper und Marie Viermanu
sind nicht leer ausgegangen; die Schöffen haben ihnen ihre Reisediätcn ge¬
schenkt.

Hiermit schließen die Wurstakten beim Bornstädtcr Schöffengericht. Sie
sind im Register gelöscht, ebenso wie die Kohle", und mit dem Vermerk ver¬
sehen: Zu vernichten 1905.

Aber zum Stillleben im Repositorium sind sie doch nicht gekommen. Die
Herren bei der Staatscmwaltschcift haben zu früh gejubelt. Seit vier Woche"
siud die Wurstakten wieder dort, diesmal als "Adhibcnda" zu den neu ange¬
legten Akten wider den Kellner Fritz Biedermeyer wegen Diebstahls. Vou
Treuenbrietzen sind sie schon zurückgekommen und werden nun weiter ruhelos
durch Deutschland reisen, da der lebendige Biedermcyer immer etwas rascher
fährt als die toten Akten. Mögen noch recht viele Leser die endgiltige Weg¬
legung beider Akten erleben!




Sie Bornstcidler wmswkten

I, darauf hat mich ja der Kellner Biedermcyer gebracht. Der Halunke
ist der Dieb gewesen!

Ja, der Halunke! platzt der Amtsanwalt ganz unvvrschriftsmäßig heraus.
sein Schnurrbart zeigt ordentlich helle» Svimeuschein. Ich muß das Schuldig
beantragen, aber in Anbetracht der Jugend, des Hungers und des ausge-
standner Arrestes bitte ich uur auf einen Verweis z>l erkennen.

Das Schöffengericht zieht sich zur Beratung zurück und kehrt nach zwei
Minuten wieder. Das Urteil lautet überraschend; es ist auf Freisprechung
erkannt, und zwar, wie der Amtsrichter scharf betont: mit Stimmenmehrheit.
Die scharfe Hervorhebung hat ihren guten Grund; sie soll besagen: Ich, der
preußische Richter, habe mich dem Gesetze für das Schuldig gestimmt, aber die
Schöffen sind ihrem Gefühle gefolgt. Sie haben dem Jungen wegen der
Dummheit nicht einen Klex fürs ganze Leben anhängen wollen und haben mich
überstimmt.

Wer will sie deswegen tadeln?

Der Amtsrichter hat es nicht gethan und der Amtsanwalt hat nicht
appellirt. Er hat sich sogar herzlich gefreut, daß seine Milde noch über¬
trumpft worden ist, und dem braven Nehwald die Hand nebst einem
Thaler für Karl Pieper gegeben. Auch Frau Pieper und Marie Viermanu
sind nicht leer ausgegangen; die Schöffen haben ihnen ihre Reisediätcn ge¬
schenkt.

Hiermit schließen die Wurstakten beim Bornstädtcr Schöffengericht. Sie
sind im Register gelöscht, ebenso wie die Kohle», und mit dem Vermerk ver¬
sehen: Zu vernichten 1905.

Aber zum Stillleben im Repositorium sind sie doch nicht gekommen. Die
Herren bei der Staatscmwaltschcift haben zu früh gejubelt. Seit vier Woche»
siud die Wurstakten wieder dort, diesmal als „Adhibcnda" zu den neu ange¬
legten Akten wider den Kellner Fritz Biedermeyer wegen Diebstahls. Vou
Treuenbrietzen sind sie schon zurückgekommen und werden nun weiter ruhelos
durch Deutschland reisen, da der lebendige Biedermcyer immer etwas rascher
fährt als die toten Akten. Mögen noch recht viele Leser die endgiltige Weg¬
legung beider Akten erleben!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/433>, abgerufen am 23.07.2024.