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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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seinetwegen Vorsichtsmaßregeln geboten. Seine blauen Augen blicken ängst¬
lich ans die Veranstaltungen, deren Gegenstand er ist, aber ein böses Gewissen
bekunden sie nicht.

Der Amtsrichter zieht ein wohlbeleibtes Aktenheft näher: Die niederträch¬
tige Geschichte! Hundertmal hat man den Bettel schon in der Hand gehabt!

Der Herr übertreibt zwar, aber Recht hat er: eine Menge teurer Arbeit
liegt in dem Papierbüudcl ruhmlos begraben.

Unterrichten wir uns aus den Akten, ob unserm Karl Pieper die Tinten-
vergendung zur Last fällt. Solche Hefte sind oft sehr lehrreich, der Laie
glnnbt gar nicht, was alles darin steht. Aber man muß sie zu lesen wisse".
Ans Blatt 1 schreibt der Schenkwirt Klapper an die Staatsanwaltschaft, daß
ihm Wein und Fleischwaren gestohlen worden seien. Der Dieb habe eine
Fensterscheibe des Kellers zerschlagen und durch die Öffnung, vermutlich mit
einer Drahtschlinge, die Flaschen herausgeangelt. Mindestens ein Dutzend der
teuersten Sorte" würden vermißt. Der Lausbursche Pieper, bei dem Nachbar,
dem Apotheker Bläulich, im Dienst, habe die That zum Teil eingeräumt,
zweifellos aber alle Diebereien verübt.

Die Staatsanwaltschaft ducht die neue Sache und sendet sie an die Polizei-
Verwaltung des Städtchens zur Feststellung des Thatbestandes. Klapper wird
aufs Polizeibureau geladen und dort zu Protokoll vernommen. Er sagt das¬
selbe aus, was er schon angezeigt hat, und bezeichnet den Kellner Fritz Bieder¬
meyer als Zeugen. Karl Pieper hat uicht befragt werden können, da ihn sein
Dienstherr entlassen hat; er ist in sein Heimathdorf, Kleindewitz, zurückgekehrt.
Mit dieser Auskunft gehen die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück.

Dort werden sie wieder eingepackt und nach Meechow an den Nmtsvvr-
stand über Kleindewitz gesandt, um den Beschuldigten verantwortlich zu ver¬
nehmen. Der Amtsvorsteher ist ein vielbeschäftigter Landwirt; er denkt: Bote
des Gerichts bist dn nicht; die Herren mögen ihre Beamten schicken, sie haben
ja genug. Nach wiederholter Erinnerung antwortet er, der Junge sei jetzt in
Berlin, seine Wohnung nicht bekannt.

Der Stantscmwalt murrt jedoch nicht in den Akten -- über Kreis-
orduuug und Ehrenämter und läßt an den Gendarmen Schulz IV schreiben.
Da keine Citosachc vorliegt, dreht sich die Erde verschiedne male um ihre Achse,
bis das Schreiben durch Expedition, Kanzlei, Journal, Unterschriftsmappe und
Votenmeisterei läuft. Das ist so Geschäftsordnung.

Bei Schulz IV kommt Schneide dahinter; im Heere lernt man rasch und
pünktlich arbeiten. Er empfangt die Ordre morgens, reitet mittags nach Klein¬
dewitz und sendet mit dem Abendzuge die Adresse ub.

Acht Tage später wandern die Akten mich Berlin mit der Nandverfüguug:
Urschriftlich an das königliche Polizeipräsidium mit der Bitte um Vernehmung
des Beschuldigten gemäß meiner Neanisitivn an das Amt Meechow.


seinetwegen Vorsichtsmaßregeln geboten. Seine blauen Augen blicken ängst¬
lich ans die Veranstaltungen, deren Gegenstand er ist, aber ein böses Gewissen
bekunden sie nicht.

Der Amtsrichter zieht ein wohlbeleibtes Aktenheft näher: Die niederträch¬
tige Geschichte! Hundertmal hat man den Bettel schon in der Hand gehabt!

Der Herr übertreibt zwar, aber Recht hat er: eine Menge teurer Arbeit
liegt in dem Papierbüudcl ruhmlos begraben.

Unterrichten wir uns aus den Akten, ob unserm Karl Pieper die Tinten-
vergendung zur Last fällt. Solche Hefte sind oft sehr lehrreich, der Laie
glnnbt gar nicht, was alles darin steht. Aber man muß sie zu lesen wisse».
Ans Blatt 1 schreibt der Schenkwirt Klapper an die Staatsanwaltschaft, daß
ihm Wein und Fleischwaren gestohlen worden seien. Der Dieb habe eine
Fensterscheibe des Kellers zerschlagen und durch die Öffnung, vermutlich mit
einer Drahtschlinge, die Flaschen herausgeangelt. Mindestens ein Dutzend der
teuersten Sorte» würden vermißt. Der Lausbursche Pieper, bei dem Nachbar,
dem Apotheker Bläulich, im Dienst, habe die That zum Teil eingeräumt,
zweifellos aber alle Diebereien verübt.

Die Staatsanwaltschaft ducht die neue Sache und sendet sie an die Polizei-
Verwaltung des Städtchens zur Feststellung des Thatbestandes. Klapper wird
aufs Polizeibureau geladen und dort zu Protokoll vernommen. Er sagt das¬
selbe aus, was er schon angezeigt hat, und bezeichnet den Kellner Fritz Bieder¬
meyer als Zeugen. Karl Pieper hat uicht befragt werden können, da ihn sein
Dienstherr entlassen hat; er ist in sein Heimathdorf, Kleindewitz, zurückgekehrt.
Mit dieser Auskunft gehen die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück.

Dort werden sie wieder eingepackt und nach Meechow an den Nmtsvvr-
stand über Kleindewitz gesandt, um den Beschuldigten verantwortlich zu ver¬
nehmen. Der Amtsvorsteher ist ein vielbeschäftigter Landwirt; er denkt: Bote
des Gerichts bist dn nicht; die Herren mögen ihre Beamten schicken, sie haben
ja genug. Nach wiederholter Erinnerung antwortet er, der Junge sei jetzt in
Berlin, seine Wohnung nicht bekannt.

Der Stantscmwalt murrt jedoch nicht in den Akten — über Kreis-
orduuug und Ehrenämter und läßt an den Gendarmen Schulz IV schreiben.
Da keine Citosachc vorliegt, dreht sich die Erde verschiedne male um ihre Achse,
bis das Schreiben durch Expedition, Kanzlei, Journal, Unterschriftsmappe und
Votenmeisterei läuft. Das ist so Geschäftsordnung.

Bei Schulz IV kommt Schneide dahinter; im Heere lernt man rasch und
pünktlich arbeiten. Er empfangt die Ordre morgens, reitet mittags nach Klein¬
dewitz und sendet mit dem Abendzuge die Adresse ub.

Acht Tage später wandern die Akten mich Berlin mit der Nandverfüguug:
Urschriftlich an das königliche Polizeipräsidium mit der Bitte um Vernehmung
des Beschuldigten gemäß meiner Neanisitivn an das Amt Meechow.


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[0428] seinetwegen Vorsichtsmaßregeln geboten. Seine blauen Augen blicken ängst¬ lich ans die Veranstaltungen, deren Gegenstand er ist, aber ein böses Gewissen bekunden sie nicht. Der Amtsrichter zieht ein wohlbeleibtes Aktenheft näher: Die niederträch¬ tige Geschichte! Hundertmal hat man den Bettel schon in der Hand gehabt! Der Herr übertreibt zwar, aber Recht hat er: eine Menge teurer Arbeit liegt in dem Papierbüudcl ruhmlos begraben. Unterrichten wir uns aus den Akten, ob unserm Karl Pieper die Tinten- vergendung zur Last fällt. Solche Hefte sind oft sehr lehrreich, der Laie glnnbt gar nicht, was alles darin steht. Aber man muß sie zu lesen wisse». Ans Blatt 1 schreibt der Schenkwirt Klapper an die Staatsanwaltschaft, daß ihm Wein und Fleischwaren gestohlen worden seien. Der Dieb habe eine Fensterscheibe des Kellers zerschlagen und durch die Öffnung, vermutlich mit einer Drahtschlinge, die Flaschen herausgeangelt. Mindestens ein Dutzend der teuersten Sorte» würden vermißt. Der Lausbursche Pieper, bei dem Nachbar, dem Apotheker Bläulich, im Dienst, habe die That zum Teil eingeräumt, zweifellos aber alle Diebereien verübt. Die Staatsanwaltschaft ducht die neue Sache und sendet sie an die Polizei- Verwaltung des Städtchens zur Feststellung des Thatbestandes. Klapper wird aufs Polizeibureau geladen und dort zu Protokoll vernommen. Er sagt das¬ selbe aus, was er schon angezeigt hat, und bezeichnet den Kellner Fritz Bieder¬ meyer als Zeugen. Karl Pieper hat uicht befragt werden können, da ihn sein Dienstherr entlassen hat; er ist in sein Heimathdorf, Kleindewitz, zurückgekehrt. Mit dieser Auskunft gehen die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück. Dort werden sie wieder eingepackt und nach Meechow an den Nmtsvvr- stand über Kleindewitz gesandt, um den Beschuldigten verantwortlich zu ver¬ nehmen. Der Amtsvorsteher ist ein vielbeschäftigter Landwirt; er denkt: Bote des Gerichts bist dn nicht; die Herren mögen ihre Beamten schicken, sie haben ja genug. Nach wiederholter Erinnerung antwortet er, der Junge sei jetzt in Berlin, seine Wohnung nicht bekannt. Der Stantscmwalt murrt jedoch nicht in den Akten — über Kreis- orduuug und Ehrenämter und läßt an den Gendarmen Schulz IV schreiben. Da keine Citosachc vorliegt, dreht sich die Erde verschiedne male um ihre Achse, bis das Schreiben durch Expedition, Kanzlei, Journal, Unterschriftsmappe und Votenmeisterei läuft. Das ist so Geschäftsordnung. Bei Schulz IV kommt Schneide dahinter; im Heere lernt man rasch und pünktlich arbeiten. Er empfangt die Ordre morgens, reitet mittags nach Klein¬ dewitz und sendet mit dem Abendzuge die Adresse ub. Acht Tage später wandern die Akten mich Berlin mit der Nandverfüguug: Urschriftlich an das königliche Polizeipräsidium mit der Bitte um Vernehmung des Beschuldigten gemäß meiner Neanisitivn an das Amt Meechow.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/428>, abgerufen am 23.07.2024.