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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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proletarierdichter und Proletarierlieder

Er wurde, was sein Vater gewesen war, und suchte seine Natur ,,an die Aus¬
dünstungen des feuchten Tabaks, sowie an die mit Tabaksstaub geschwängerte
Luft" zu gewöhnen, ,,Übelkeit und Kopfschmerz verließen ihn nicht mehr/'
Stets ein höchst mittelmäßiger Arbeiter, kaufte er sich von seinen paar Spar¬
groschen Bücher, las und erwarb sich so, geistig regsam, wie es manche dieser
skrophulösen sind, "das wenige Wissen, das er besitzt/' Er fing an zu
agitiren, zu schreiben, zu dichten. Er erlaubte sich, eine Familie zu gründen
und das Elend fortzupflanzen, Krankheit und Nahrungssorgen waren der Lob"
dafür. Ein Augenleiden verwehrte ihm die weitere Ausübung seines Berufs,
er sah sich gezwungen, einen Waudcrgewerbeschein zu lösen. Den Tragkorb
auf dem Rücken, einen seiner Knaben vor dem Bauche, schleppt er sich im
Schweiße seines Angesichts durch die Dörfer und über die Landstraße, ,,ein
germanischer Zigeuner!" Seine Gedichte ans dieser Zeit sind ,,so schauerlich,
daß er Bedenken trägt, sie der Öffentlichkeit zu übergeben." Wahrscheinlich
sind sie "polizeiwidrig" geworden. Wie könnten sie auch anders sein? Statt
daß die Gesellschaft einem solchen Enterbten, der mehr als Cigarrenmacheu
versteht, unter die Arme griffe, stößt sie ihn von sich, sodaß er an Gott und
Welt verzweifelt und ihr die paar Zähne zeigt, die er noch hat. Er fand
keinen Verleger für seine Reimereien und entschloß sich, fein eigner Verleger
zu werden. Einige Arbeiterzeitungen lobten ihn, die "gesamte Presse Deutsch¬
lands" schwieg ihn natürlich tot. Die Honoratioren seines Wohnorts holten
sich sein Buch "zur Ansicht," damit sie im Kasino davon reden konnten, und
brachten es -- natürlich -- unaufgeschuitten zurück; sie könnten doch, meinten
sie, telum ausgesprochnen Gegner unterstützen, der sie in seinen Gedichten
heruntermacht.

Diese Lebensläufe sind nicht minder wichtig und interessant, als die von
so manchen Angehörigen der Bourgeoisie, die unsre illustrirten Blätter füllen.
Alle diese Dichter sind in gewisser Weise soll-ing.et'ö-tuon, begabte Köpfe, die
aus dem Proletariat hmausstrebten und dabei in die Arme der Sozialdemo¬
kratie gerieten. Warum sucht die Gesellschaft die wirklich befähigten unter den
Proletariern nicht in ihren eignen Dienst zu nehmen und anständig zu belohnen?

Es ist merkwürdig, welchen gewaltigen Eindruck auf diese strebenden
Geister die geniale Persönlichkeit Lassalles gemacht hat. Lassalle hat die Hasen¬
clever, Frohne, Kegel, Scheu und Lepp aufgeweckt. Das "Lied der deutschen
Arbeiter," das Autors auf ihn gedichtet hat, unter dessen Klängen jetzt die
Arbeiterbataillone marschiren, wird nicht ganz richtig "Deutsche Arbeitermar¬
seillaise" genannt; eher könnte es, wenn die Wvrteudung nicht so undeutsch
wäre, Lassallaise heißen, denn sein Refrain lautet:


proletarierdichter und Proletarierlieder

Er wurde, was sein Vater gewesen war, und suchte seine Natur ,,an die Aus¬
dünstungen des feuchten Tabaks, sowie an die mit Tabaksstaub geschwängerte
Luft" zu gewöhnen, ,,Übelkeit und Kopfschmerz verließen ihn nicht mehr/'
Stets ein höchst mittelmäßiger Arbeiter, kaufte er sich von seinen paar Spar¬
groschen Bücher, las und erwarb sich so, geistig regsam, wie es manche dieser
skrophulösen sind, „das wenige Wissen, das er besitzt/' Er fing an zu
agitiren, zu schreiben, zu dichten. Er erlaubte sich, eine Familie zu gründen
und das Elend fortzupflanzen, Krankheit und Nahrungssorgen waren der Lob»
dafür. Ein Augenleiden verwehrte ihm die weitere Ausübung seines Berufs,
er sah sich gezwungen, einen Waudcrgewerbeschein zu lösen. Den Tragkorb
auf dem Rücken, einen seiner Knaben vor dem Bauche, schleppt er sich im
Schweiße seines Angesichts durch die Dörfer und über die Landstraße, ,,ein
germanischer Zigeuner!" Seine Gedichte ans dieser Zeit sind ,,so schauerlich,
daß er Bedenken trägt, sie der Öffentlichkeit zu übergeben." Wahrscheinlich
sind sie „polizeiwidrig" geworden. Wie könnten sie auch anders sein? Statt
daß die Gesellschaft einem solchen Enterbten, der mehr als Cigarrenmacheu
versteht, unter die Arme griffe, stößt sie ihn von sich, sodaß er an Gott und
Welt verzweifelt und ihr die paar Zähne zeigt, die er noch hat. Er fand
keinen Verleger für seine Reimereien und entschloß sich, fein eigner Verleger
zu werden. Einige Arbeiterzeitungen lobten ihn, die „gesamte Presse Deutsch¬
lands" schwieg ihn natürlich tot. Die Honoratioren seines Wohnorts holten
sich sein Buch „zur Ansicht," damit sie im Kasino davon reden konnten, und
brachten es — natürlich — unaufgeschuitten zurück; sie könnten doch, meinten
sie, telum ausgesprochnen Gegner unterstützen, der sie in seinen Gedichten
heruntermacht.

Diese Lebensläufe sind nicht minder wichtig und interessant, als die von
so manchen Angehörigen der Bourgeoisie, die unsre illustrirten Blätter füllen.
Alle diese Dichter sind in gewisser Weise soll-ing.et'ö-tuon, begabte Köpfe, die
aus dem Proletariat hmausstrebten und dabei in die Arme der Sozialdemo¬
kratie gerieten. Warum sucht die Gesellschaft die wirklich befähigten unter den
Proletariern nicht in ihren eignen Dienst zu nehmen und anständig zu belohnen?

Es ist merkwürdig, welchen gewaltigen Eindruck auf diese strebenden
Geister die geniale Persönlichkeit Lassalles gemacht hat. Lassalle hat die Hasen¬
clever, Frohne, Kegel, Scheu und Lepp aufgeweckt. Das „Lied der deutschen
Arbeiter," das Autors auf ihn gedichtet hat, unter dessen Klängen jetzt die
Arbeiterbataillone marschiren, wird nicht ganz richtig „Deutsche Arbeitermar¬
seillaise" genannt; eher könnte es, wenn die Wvrteudung nicht so undeutsch
wäre, Lassallaise heißen, denn sein Refrain lautet:


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[0042] proletarierdichter und Proletarierlieder Er wurde, was sein Vater gewesen war, und suchte seine Natur ,,an die Aus¬ dünstungen des feuchten Tabaks, sowie an die mit Tabaksstaub geschwängerte Luft" zu gewöhnen, ,,Übelkeit und Kopfschmerz verließen ihn nicht mehr/' Stets ein höchst mittelmäßiger Arbeiter, kaufte er sich von seinen paar Spar¬ groschen Bücher, las und erwarb sich so, geistig regsam, wie es manche dieser skrophulösen sind, „das wenige Wissen, das er besitzt/' Er fing an zu agitiren, zu schreiben, zu dichten. Er erlaubte sich, eine Familie zu gründen und das Elend fortzupflanzen, Krankheit und Nahrungssorgen waren der Lob» dafür. Ein Augenleiden verwehrte ihm die weitere Ausübung seines Berufs, er sah sich gezwungen, einen Waudcrgewerbeschein zu lösen. Den Tragkorb auf dem Rücken, einen seiner Knaben vor dem Bauche, schleppt er sich im Schweiße seines Angesichts durch die Dörfer und über die Landstraße, ,,ein germanischer Zigeuner!" Seine Gedichte ans dieser Zeit sind ,,so schauerlich, daß er Bedenken trägt, sie der Öffentlichkeit zu übergeben." Wahrscheinlich sind sie „polizeiwidrig" geworden. Wie könnten sie auch anders sein? Statt daß die Gesellschaft einem solchen Enterbten, der mehr als Cigarrenmacheu versteht, unter die Arme griffe, stößt sie ihn von sich, sodaß er an Gott und Welt verzweifelt und ihr die paar Zähne zeigt, die er noch hat. Er fand keinen Verleger für seine Reimereien und entschloß sich, fein eigner Verleger zu werden. Einige Arbeiterzeitungen lobten ihn, die „gesamte Presse Deutsch¬ lands" schwieg ihn natürlich tot. Die Honoratioren seines Wohnorts holten sich sein Buch „zur Ansicht," damit sie im Kasino davon reden konnten, und brachten es — natürlich — unaufgeschuitten zurück; sie könnten doch, meinten sie, telum ausgesprochnen Gegner unterstützen, der sie in seinen Gedichten heruntermacht. Diese Lebensläufe sind nicht minder wichtig und interessant, als die von so manchen Angehörigen der Bourgeoisie, die unsre illustrirten Blätter füllen. Alle diese Dichter sind in gewisser Weise soll-ing.et'ö-tuon, begabte Köpfe, die aus dem Proletariat hmausstrebten und dabei in die Arme der Sozialdemo¬ kratie gerieten. Warum sucht die Gesellschaft die wirklich befähigten unter den Proletariern nicht in ihren eignen Dienst zu nehmen und anständig zu belohnen? Es ist merkwürdig, welchen gewaltigen Eindruck auf diese strebenden Geister die geniale Persönlichkeit Lassalles gemacht hat. Lassalle hat die Hasen¬ clever, Frohne, Kegel, Scheu und Lepp aufgeweckt. Das „Lied der deutschen Arbeiter," das Autors auf ihn gedichtet hat, unter dessen Klängen jetzt die Arbeiterbataillone marschiren, wird nicht ganz richtig „Deutsche Arbeitermar¬ seillaise" genannt; eher könnte es, wenn die Wvrteudung nicht so undeutsch wäre, Lassallaise heißen, denn sein Refrain lautet:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/42>, abgerufen am 23.07.2024.