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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Bilder aus dein Westen

in dem vorigen Raume die Tiere an der Kette in die Höhe gezogen wurden,
geschah hier der spaltende Beilschlag, und während ich, das scharfe Beil
bewundernd, die sechs Sekunden von einem zum audern Schlage zählte,
wanderten im Nebenraume schon die Fleischstücke unter die Wnrstmaschine,
sodaß man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, das Wurstfleisch müsse
uach deu paar Minuten, die seit dem Töten des Tieres verflossen waren, noch
Körperwärme haben.

So ging ununterbrochen das taktmäßige Klappklapp. Die Schneide
des haarscharfen langen Beiles funkelte in dem Sonnenstrahl, der sich crins
hier wieder durch einen Fensterritz in den halbdunkeln Raum verirrt hatte und
das der Länge nach gespaltene rosig schimmernde Rückenmark weißgolden auf¬
leuchten ließ.

Was ist kunstvoller, dachte ich, als der Bau der wunderbar verschlungnen
Nervenleitnngsbahnen von Hirn und Rückenmark, und hier werden sie mit
einem Schlage vernichtet! Wie viel Millionen von Jahrtausenden hat Mutter
Natur unermüdlich gearbeitet, dies nach Milliarden von fehlgeschlagnen Ver¬
suchen endlich zu Wege zu bringen! Wieviel solcher Versuche vom ersten
kleinen Zellentierchen im Urschlamm des Meeresgrundes bis zur ersten richtigen
Nervenzelle! Und welche Ewigkeit von Geduld gehörte erst dazu, aus den
Uranfängen der Hirn- und Nückenmarksbildung der niedersten Wirbeltiere
diese Verschlingung von zweckmäßig angeordneten Fasern und Strängen zu
schaffen, die sich kreuzen, sich vereinen, sich trennen, Leitungen und Ueber-
leitungen herstellen und schließlich im Hirn das vollendetste Kunstwerk zeigen!
Wer gab dem Menschen das Recht, hier so zerstörend einzugreifen? fragt man
sich unwillkürlich. Nicht die Natur. Denn es ist wider unsre Natur. Das
Recht des Stärker" ist nicht immer dem Gesetz der Natur entsprechend. Wird
sich wohl die Natur für diese Widernatürlichst einst am Menschengeschlecht
rächen? Beginnt vielleicht schon mit den Seuchen wie Trichinose und Akti-
nomykose im stillen dieses Rachewerk für die Abirrung von dem richtigen,
natürlichen Instinkt in unsrer Nahrungs- und Lebensweise?

Doch wohin gerate ich wieder von dem im Sonnenschein schimmernden
Nttckenmarksstrauge? Aufgemerkt! Mr. Twain teilt uns eben aus seinem Notiz¬
buch mit, daß sich in diesen Tagen die Zahl der täglich wirklich geschlach¬
teten Schweine auf 6664 belaufen hat, also über sechshundert in der Stunde
(bei Zehnstundeuarbeit), zehn in der Minute, was genau den sechs Sekunden
entsprach, die ich nach dem Sekundenzeiger meiner Taschenuhr zwischen den
Bcilschlägen abgemessen hatte.

Wo bleibt da Berlin? fragte ich mich und dachte an die gemütliche Art,
wie sich dort ein Mann mit einem Beil des Schlachtgeschäfts entledigte, indem
er an den Kober ging, wo vier oder fünf Tiere beisammen waren, einem
davon einen Schlag vor deu Kopf gab und, wenn es nicht umfallen wollte,


Grenzboten II 1893 62
Bilder aus dein Westen

in dem vorigen Raume die Tiere an der Kette in die Höhe gezogen wurden,
geschah hier der spaltende Beilschlag, und während ich, das scharfe Beil
bewundernd, die sechs Sekunden von einem zum audern Schlage zählte,
wanderten im Nebenraume schon die Fleischstücke unter die Wnrstmaschine,
sodaß man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, das Wurstfleisch müsse
uach deu paar Minuten, die seit dem Töten des Tieres verflossen waren, noch
Körperwärme haben.

So ging ununterbrochen das taktmäßige Klappklapp. Die Schneide
des haarscharfen langen Beiles funkelte in dem Sonnenstrahl, der sich crins
hier wieder durch einen Fensterritz in den halbdunkeln Raum verirrt hatte und
das der Länge nach gespaltene rosig schimmernde Rückenmark weißgolden auf¬
leuchten ließ.

Was ist kunstvoller, dachte ich, als der Bau der wunderbar verschlungnen
Nervenleitnngsbahnen von Hirn und Rückenmark, und hier werden sie mit
einem Schlage vernichtet! Wie viel Millionen von Jahrtausenden hat Mutter
Natur unermüdlich gearbeitet, dies nach Milliarden von fehlgeschlagnen Ver¬
suchen endlich zu Wege zu bringen! Wieviel solcher Versuche vom ersten
kleinen Zellentierchen im Urschlamm des Meeresgrundes bis zur ersten richtigen
Nervenzelle! Und welche Ewigkeit von Geduld gehörte erst dazu, aus den
Uranfängen der Hirn- und Nückenmarksbildung der niedersten Wirbeltiere
diese Verschlingung von zweckmäßig angeordneten Fasern und Strängen zu
schaffen, die sich kreuzen, sich vereinen, sich trennen, Leitungen und Ueber-
leitungen herstellen und schließlich im Hirn das vollendetste Kunstwerk zeigen!
Wer gab dem Menschen das Recht, hier so zerstörend einzugreifen? fragt man
sich unwillkürlich. Nicht die Natur. Denn es ist wider unsre Natur. Das
Recht des Stärker» ist nicht immer dem Gesetz der Natur entsprechend. Wird
sich wohl die Natur für diese Widernatürlichst einst am Menschengeschlecht
rächen? Beginnt vielleicht schon mit den Seuchen wie Trichinose und Akti-
nomykose im stillen dieses Rachewerk für die Abirrung von dem richtigen,
natürlichen Instinkt in unsrer Nahrungs- und Lebensweise?

Doch wohin gerate ich wieder von dem im Sonnenschein schimmernden
Nttckenmarksstrauge? Aufgemerkt! Mr. Twain teilt uns eben aus seinem Notiz¬
buch mit, daß sich in diesen Tagen die Zahl der täglich wirklich geschlach¬
teten Schweine auf 6664 belaufen hat, also über sechshundert in der Stunde
(bei Zehnstundeuarbeit), zehn in der Minute, was genau den sechs Sekunden
entsprach, die ich nach dem Sekundenzeiger meiner Taschenuhr zwischen den
Bcilschlägen abgemessen hatte.

Wo bleibt da Berlin? fragte ich mich und dachte an die gemütliche Art,
wie sich dort ein Mann mit einem Beil des Schlachtgeschäfts entledigte, indem
er an den Kober ging, wo vier oder fünf Tiere beisammen waren, einem
davon einen Schlag vor deu Kopf gab und, wenn es nicht umfallen wollte,


Grenzboten II 1893 62
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[0418] Bilder aus dein Westen in dem vorigen Raume die Tiere an der Kette in die Höhe gezogen wurden, geschah hier der spaltende Beilschlag, und während ich, das scharfe Beil bewundernd, die sechs Sekunden von einem zum audern Schlage zählte, wanderten im Nebenraume schon die Fleischstücke unter die Wnrstmaschine, sodaß man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, das Wurstfleisch müsse uach deu paar Minuten, die seit dem Töten des Tieres verflossen waren, noch Körperwärme haben. So ging ununterbrochen das taktmäßige Klappklapp. Die Schneide des haarscharfen langen Beiles funkelte in dem Sonnenstrahl, der sich crins hier wieder durch einen Fensterritz in den halbdunkeln Raum verirrt hatte und das der Länge nach gespaltene rosig schimmernde Rückenmark weißgolden auf¬ leuchten ließ. Was ist kunstvoller, dachte ich, als der Bau der wunderbar verschlungnen Nervenleitnngsbahnen von Hirn und Rückenmark, und hier werden sie mit einem Schlage vernichtet! Wie viel Millionen von Jahrtausenden hat Mutter Natur unermüdlich gearbeitet, dies nach Milliarden von fehlgeschlagnen Ver¬ suchen endlich zu Wege zu bringen! Wieviel solcher Versuche vom ersten kleinen Zellentierchen im Urschlamm des Meeresgrundes bis zur ersten richtigen Nervenzelle! Und welche Ewigkeit von Geduld gehörte erst dazu, aus den Uranfängen der Hirn- und Nückenmarksbildung der niedersten Wirbeltiere diese Verschlingung von zweckmäßig angeordneten Fasern und Strängen zu schaffen, die sich kreuzen, sich vereinen, sich trennen, Leitungen und Ueber- leitungen herstellen und schließlich im Hirn das vollendetste Kunstwerk zeigen! Wer gab dem Menschen das Recht, hier so zerstörend einzugreifen? fragt man sich unwillkürlich. Nicht die Natur. Denn es ist wider unsre Natur. Das Recht des Stärker» ist nicht immer dem Gesetz der Natur entsprechend. Wird sich wohl die Natur für diese Widernatürlichst einst am Menschengeschlecht rächen? Beginnt vielleicht schon mit den Seuchen wie Trichinose und Akti- nomykose im stillen dieses Rachewerk für die Abirrung von dem richtigen, natürlichen Instinkt in unsrer Nahrungs- und Lebensweise? Doch wohin gerate ich wieder von dem im Sonnenschein schimmernden Nttckenmarksstrauge? Aufgemerkt! Mr. Twain teilt uns eben aus seinem Notiz¬ buch mit, daß sich in diesen Tagen die Zahl der täglich wirklich geschlach¬ teten Schweine auf 6664 belaufen hat, also über sechshundert in der Stunde (bei Zehnstundeuarbeit), zehn in der Minute, was genau den sechs Sekunden entsprach, die ich nach dem Sekundenzeiger meiner Taschenuhr zwischen den Bcilschlägen abgemessen hatte. Wo bleibt da Berlin? fragte ich mich und dachte an die gemütliche Art, wie sich dort ein Mann mit einem Beil des Schlachtgeschäfts entledigte, indem er an den Kober ging, wo vier oder fünf Tiere beisammen waren, einem davon einen Schlag vor deu Kopf gab und, wenn es nicht umfallen wollte, Grenzboten II 1893 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/418>, abgerufen am 24.07.2024.