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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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hängt heute in tausenden von Hütten." Karl Frohne, ein katholischer Han¬
noveraner, zog sich als Maschinenbauer eine schwere Verletzung zu, bildete
sich während der aufgezwungnen Muße eifrig weiter, war bereits in seinem
achtzehnten Jahre Schriftführer des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins,
redete, agitirte, redigirte und schriftstellerte, ist gegenwärtig Redakteur des
"Hamburger Echos" und Reichstagsabgeordneter. Max Kegel, ein Dresdner,
der Sohn einer armen Nähterin, lernte während seiner Schuljahre und während
seiner fünfjährigen Buchdruckerlehrc alle Bitterkeiten der tiefsten Armut kennen,
unterrichtete sich durch Selbststudium, wurde Mitarbeiter demokratischer Blätter
und ist seit Anfang der siebziger Jahre "im Dienste der Sozialdemokratie"
journalistisch thätig, gegenwärtig litterarischer Mitarbeiter der bedeutendsten
Verlagsbuchhandlung und Mitredakteur des hervorragendsten Witzblattes seiner
Partei. Andreas Scheu, ein Wiener, katholisch erzogen, machte eine vierjährige
Lehrzeit in der Werkstätte eines Vergolders durch, wo er "Arbeit genug, aber
wenig Unterricht" bekam, bildete sich in einer Gewerbeschule fort, wurde in
einer Fabrik Zeichner und Modelleur, erhielt ein Stipendium zum Besuche der
Pariser Weltausstellung, wurde in den Strudel der Arbeiterbewegung hinein-
gerissen, vernachlässigte seine Geschäfte und widmete sich immer mehr den
"Pflichten" des Parteitampfcs, wurde Redakteur, wanderte, da er als Sozial¬
demokrat in Österreich kein Unterkommen mehr fand, nach England aus und
ist jetzt Vertreter ausländischer Firmen in London, ohne jedoch im Auslande
den Zielen seiner Partei im geringsten untreu geworden zu sein. Der sechste,
Jakob Autors, ist wieder ein Norddeutscher, ein Hamburger, der bekannte, d. h.
den Arbeitern als solcher bekannte Verfasser der sogenannten deutschen-Arbeiter¬
marseillaise. Es ist ihm ähnlich gegangen wie den vorigen: er besuchte eine
Armenschule, arbeitete in der Schmiede und am Schraubstock, erweiterte seine
Kenntnisse im Hamburger Arbeiterbildungsverein und trat dann in die "Be¬
wegung" ein. Nachdem er als Geschäftsreisender ganz Rußland kennen gelernt
und eine Russin geheiratet hatte, ließ er sich in Hamburg nieder, um sich nur
der journalistischen und litterarischen Thätigkeit zu widmen. Eifriger Sozial-
demokrat, ist er doch "gut deutsch, ja gut norddeutsch" geblieben. Der
Cigarrenmacher Lepp, den wir als siebenten und letzten nannten, ist wirklich
von allen der letzte. Er ist der ärmste, ein Hungerleider, der sich selbst "als
Proletar in des Wortes verwegenster Bedeutung" bezeichnet. Seine Selbst¬
biographie entrollt ein trauriges Bild von Prvletarierelend mit dem ganzen
Selbstbewußtsein .des Elends. In einer Prvletarierstraße zu Halberstadt ist
er in dem Hungerjahre 1847 zur Welt gekommen, ans Lebenszeit "ein Mit¬
glied des skrophulösen Gesindels." Er und so und so viel Geschwister verloren,
als er neun Jahre zählte, den Vater; "freudlos war seine Kindheit." Mit
seinem "von der Stubenatmosphäre entnervten Körper" mußte er den Kampf
ums Dasein "in der großen Hetzjagd der bürgerlichen Gesellschaft" aufnehmen.


hängt heute in tausenden von Hütten." Karl Frohne, ein katholischer Han¬
noveraner, zog sich als Maschinenbauer eine schwere Verletzung zu, bildete
sich während der aufgezwungnen Muße eifrig weiter, war bereits in seinem
achtzehnten Jahre Schriftführer des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins,
redete, agitirte, redigirte und schriftstellerte, ist gegenwärtig Redakteur des
„Hamburger Echos" und Reichstagsabgeordneter. Max Kegel, ein Dresdner,
der Sohn einer armen Nähterin, lernte während seiner Schuljahre und während
seiner fünfjährigen Buchdruckerlehrc alle Bitterkeiten der tiefsten Armut kennen,
unterrichtete sich durch Selbststudium, wurde Mitarbeiter demokratischer Blätter
und ist seit Anfang der siebziger Jahre „im Dienste der Sozialdemokratie"
journalistisch thätig, gegenwärtig litterarischer Mitarbeiter der bedeutendsten
Verlagsbuchhandlung und Mitredakteur des hervorragendsten Witzblattes seiner
Partei. Andreas Scheu, ein Wiener, katholisch erzogen, machte eine vierjährige
Lehrzeit in der Werkstätte eines Vergolders durch, wo er „Arbeit genug, aber
wenig Unterricht" bekam, bildete sich in einer Gewerbeschule fort, wurde in
einer Fabrik Zeichner und Modelleur, erhielt ein Stipendium zum Besuche der
Pariser Weltausstellung, wurde in den Strudel der Arbeiterbewegung hinein-
gerissen, vernachlässigte seine Geschäfte und widmete sich immer mehr den
„Pflichten" des Parteitampfcs, wurde Redakteur, wanderte, da er als Sozial¬
demokrat in Österreich kein Unterkommen mehr fand, nach England aus und
ist jetzt Vertreter ausländischer Firmen in London, ohne jedoch im Auslande
den Zielen seiner Partei im geringsten untreu geworden zu sein. Der sechste,
Jakob Autors, ist wieder ein Norddeutscher, ein Hamburger, der bekannte, d. h.
den Arbeitern als solcher bekannte Verfasser der sogenannten deutschen-Arbeiter¬
marseillaise. Es ist ihm ähnlich gegangen wie den vorigen: er besuchte eine
Armenschule, arbeitete in der Schmiede und am Schraubstock, erweiterte seine
Kenntnisse im Hamburger Arbeiterbildungsverein und trat dann in die „Be¬
wegung" ein. Nachdem er als Geschäftsreisender ganz Rußland kennen gelernt
und eine Russin geheiratet hatte, ließ er sich in Hamburg nieder, um sich nur
der journalistischen und litterarischen Thätigkeit zu widmen. Eifriger Sozial-
demokrat, ist er doch „gut deutsch, ja gut norddeutsch" geblieben. Der
Cigarrenmacher Lepp, den wir als siebenten und letzten nannten, ist wirklich
von allen der letzte. Er ist der ärmste, ein Hungerleider, der sich selbst „als
Proletar in des Wortes verwegenster Bedeutung" bezeichnet. Seine Selbst¬
biographie entrollt ein trauriges Bild von Prvletarierelend mit dem ganzen
Selbstbewußtsein .des Elends. In einer Prvletarierstraße zu Halberstadt ist
er in dem Hungerjahre 1847 zur Welt gekommen, ans Lebenszeit „ein Mit¬
glied des skrophulösen Gesindels." Er und so und so viel Geschwister verloren,
als er neun Jahre zählte, den Vater; „freudlos war seine Kindheit." Mit
seinem „von der Stubenatmosphäre entnervten Körper" mußte er den Kampf
ums Dasein „in der großen Hetzjagd der bürgerlichen Gesellschaft" aufnehmen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/41>, abgerufen am 23.07.2024.