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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die versammlimg deutscher Historiker in München

zweckmäßig sein möchte, wenigstens der Jugend die Vorstellung zu geben, als
ob sie das große Buch mit den sieben Siegeln durch die Vortrefflichkeit unsrer
Uuterrichtseinrichtungen wirklich in Empfang genommen hätte. Aber Täuschungen
dieser Art können nicht bestehen. Die Menschen werden ihrer überdrüssig und
sind es zum großen Teil schon heute. Deshalb erschien es auch als ein Be¬
dürfnis der Zeit, daß sich die Historiker versammelten, um gerade über diese
Dinge ihre Stimme vernehmen zu lassei?. Überall hat man gehört, daß der
Unterricht in der Geschichte reformbedürftig sei, daß man hier zu ändern, da
hinzuzusetzen habe; es wird nur merkwürdigerweise von keiner Seite der eigent¬
liche Schade ehrlich bezeichnet, nämlich die thörichte Forderung, sich eine ge¬
schichtliche Kenntnis anzueignen, die in keinem Verhältnis zu der dazu ein¬
geräumten Zeit steht. Die Pädagogen reiten auf ihren Steckenpferden einher,
und niemand wagt es, ihnen ins Gesicht zu sagen, daß sie selber die "welt¬
geschichtliche Wissenschaft" in dem angeblich gelehrten Umfang nicht entfernt
besitzen und beherrschen und wahrscheinlich in den meisten Fällen nicht sehr,
glücklich mit den Schillern konkurriren könnten, wenn sich ein wirklich so all¬
wissender Welthistvriker, sdie ihn die pädagogische Phantasie aufstellt, mit ihnen
in einem Examen beschäftigen wollte. In der deutschen Nation und ihrer Jugend
aber entsteht mehr und mehr das Gefühl, daß, wenn man von ihr die Kenntnis
der Geschichte von Assyriern und Babyloniern bis auf den Tod Kaiser Wil¬
helms verlangt, dies doch nur eine schwindelhafte Forderung sein könne. Die
Mittelschule behauptet imstande zu sein, ihren Schülern diese zweifelhafte
Wissenschaft mit auf den Lebensweg geben zu können; bleibt aber der Unter-
richtsthrann bei seiner Forderung stehen, so wird es eben gehen wie mit den
sibyllinischen Büchern, man wird drei verbrennen und wieder drei, und schlie߬
lich wird sich die Welt daran erinnern, daß Goethe gesagt hat: "Eigentlich
kann ja doch niemand aus der Geschichte etwas lernen, denn sie enthält ja nur
eine Masse von Thorheiten und Schlechtigkeiten."

Wenn mau die verschiednen Teile der sogenannten Weltgeschichte zeitlich
und räumlich trennt und unterscheidet, so kann man sich nicht darüber täuschen,
daß in dem Unterricht aller Nationen stets eine sehr starke Auswahl des
Stoffes getroffen worden ist. In frühern Zeiten ist es niemandem eingefallen,
i" den mittlern Schulen mehr als die alte Geschichte darzubieten. Seitdem
man aber die Unwissenheit der Jugend in Bezug auf die Geschichte der neuern
Volker zu beklagen begonnen hat, erschallt auf einmal der entgegengesetzte Ruf.
Um von der alten Praxis eines ausgiebigen Unterrichts in der alten Geschichte
nicht abgehen zu müssen, wird nun behauptet, wir erfüllten jetzt mit vortreff¬
lichem Erfolg und in derselben Zeit die gesteigerten Forderungen unsrer Tage,
und unsre Abiturienten wüßten die Weltgeschichte von Moses bis zu Kaiser
Wilhelm am Schnürchen. Wäre man konsequent geblieben und hätte den alten
Grundsatz verteidigt, lieber weniger, aber das wenige ernstlich zu treiben, so Hütte


Die versammlimg deutscher Historiker in München

zweckmäßig sein möchte, wenigstens der Jugend die Vorstellung zu geben, als
ob sie das große Buch mit den sieben Siegeln durch die Vortrefflichkeit unsrer
Uuterrichtseinrichtungen wirklich in Empfang genommen hätte. Aber Täuschungen
dieser Art können nicht bestehen. Die Menschen werden ihrer überdrüssig und
sind es zum großen Teil schon heute. Deshalb erschien es auch als ein Be¬
dürfnis der Zeit, daß sich die Historiker versammelten, um gerade über diese
Dinge ihre Stimme vernehmen zu lassei?. Überall hat man gehört, daß der
Unterricht in der Geschichte reformbedürftig sei, daß man hier zu ändern, da
hinzuzusetzen habe; es wird nur merkwürdigerweise von keiner Seite der eigent¬
liche Schade ehrlich bezeichnet, nämlich die thörichte Forderung, sich eine ge¬
schichtliche Kenntnis anzueignen, die in keinem Verhältnis zu der dazu ein¬
geräumten Zeit steht. Die Pädagogen reiten auf ihren Steckenpferden einher,
und niemand wagt es, ihnen ins Gesicht zu sagen, daß sie selber die „welt¬
geschichtliche Wissenschaft" in dem angeblich gelehrten Umfang nicht entfernt
besitzen und beherrschen und wahrscheinlich in den meisten Fällen nicht sehr,
glücklich mit den Schillern konkurriren könnten, wenn sich ein wirklich so all¬
wissender Welthistvriker, sdie ihn die pädagogische Phantasie aufstellt, mit ihnen
in einem Examen beschäftigen wollte. In der deutschen Nation und ihrer Jugend
aber entsteht mehr und mehr das Gefühl, daß, wenn man von ihr die Kenntnis
der Geschichte von Assyriern und Babyloniern bis auf den Tod Kaiser Wil¬
helms verlangt, dies doch nur eine schwindelhafte Forderung sein könne. Die
Mittelschule behauptet imstande zu sein, ihren Schülern diese zweifelhafte
Wissenschaft mit auf den Lebensweg geben zu können; bleibt aber der Unter-
richtsthrann bei seiner Forderung stehen, so wird es eben gehen wie mit den
sibyllinischen Büchern, man wird drei verbrennen und wieder drei, und schlie߬
lich wird sich die Welt daran erinnern, daß Goethe gesagt hat: „Eigentlich
kann ja doch niemand aus der Geschichte etwas lernen, denn sie enthält ja nur
eine Masse von Thorheiten und Schlechtigkeiten."

Wenn mau die verschiednen Teile der sogenannten Weltgeschichte zeitlich
und räumlich trennt und unterscheidet, so kann man sich nicht darüber täuschen,
daß in dem Unterricht aller Nationen stets eine sehr starke Auswahl des
Stoffes getroffen worden ist. In frühern Zeiten ist es niemandem eingefallen,
i» den mittlern Schulen mehr als die alte Geschichte darzubieten. Seitdem
man aber die Unwissenheit der Jugend in Bezug auf die Geschichte der neuern
Volker zu beklagen begonnen hat, erschallt auf einmal der entgegengesetzte Ruf.
Um von der alten Praxis eines ausgiebigen Unterrichts in der alten Geschichte
nicht abgehen zu müssen, wird nun behauptet, wir erfüllten jetzt mit vortreff¬
lichem Erfolg und in derselben Zeit die gesteigerten Forderungen unsrer Tage,
und unsre Abiturienten wüßten die Weltgeschichte von Moses bis zu Kaiser
Wilhelm am Schnürchen. Wäre man konsequent geblieben und hätte den alten
Grundsatz verteidigt, lieber weniger, aber das wenige ernstlich zu treiben, so Hütte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/400>, abgerufen am 26.08.2024.