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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Proletarierdichter und Proletarierlieder

so wenig vorhanden sind die sieben Dichter, die sich uns in diesen Bänden
mit den Erzeugnissen ihrer proletarischen Muse vorstellen, in der zünftigen
Litteraturgeschichte, Wer kennt ihre Namen, wer weiß etwas von den Schick¬
salen ihrer Träger? Ihre Namen siud in der Litteratur unbekannt oder werden
höchstens, wenn ein Buch recht vollständig zu sein beabsichtigt, in einer ab¬
gelegnen Ecke mitgenannt. Die Partei mag ihr Verdienst in Ehren halten,
aber das "Publikum," oder was man so nennt, hört und sieht sie kaum. Der
eine, und zwar der bedeutendste unter den sieben, hat deshalb sogar darauf
verzichtet, seinen Namen auf das Titelblatt zu setzen, er hat sich begnügt, das
Vorwort mit den Buchstaben R. L. zu unterzeichnen. Der Gedanke -- sagt
er -- habe ihm nie eine schlaflose Stunde bereitet, ob ihn die zünftige Litte¬
raturgeschichte jemals in irgend einem ihrer vielen Fächer mit mehr als einer
bloßen Namensnennung unterbringen werde, er möchte die "Perücken" selbst
um dieses magere Vergnügen prellen. Er zeigt damit, daß er ein echtes Kind
seiner Zeit ist; denn was ist heute ein Name! Selbst die Namen, die auf
dem großen Markte des Gesellschaftslebens lärmend aufgeschrien werden und
sich allbekannt machen, wie rasch fallen sie der Vergessenheit anheim! Wie
schwer ist es, in einer Zeit, wo das Schwergewicht in der Zahl und in
der Masse liegt, als einzelner etwas zu gelten! Überdies ist der namenlose
Verfasser ein Proletarier, und ein Proletarier ist ohne Namen, weil er nichts
als einer unter vielen ist.

Unbestreitbar sind aber auch die sechs, die sich nennen und von ihren
Lebensschicksalen etwas verlauten lassen, echte und rechte Proletarier. In ihren
Lebenslüufeu zeigen sich manche gemeinsame Züge. Sie stammen alle aus
dem "Volke," sie haben alle ein Gewerbe gelernt, um sich mit ihrer Hände
Arbeit durch die Welt zu schlagen. Sie waren selbst einige von den zahl¬
losen "Händen," die das Riesenräderwerk der modernen Industrie beschäftigt.
Ehe sie ans Dichten dachten, waren sie "Arbeiter": Hasenelever war Loh¬
gerber, Frohne Maschinenbauer, Kegel Buchdrucker, Scheu Vergolder,
Autors Schlosser und Lepp Cigarrenmacher. Die Verbindung von Dichter
und Arbeiter wäre in keiner frühern Zeit möglich gewesen, und fürwahr, das
allein genügt, die ganze Bedeutung des vierte" Standes zu veranschaulichen.
Alle sechs siud Autodidakten und haben das gemeinsam, daß sie einen andern
"Beruf" ergriffen haben, aber was für einen? Sie sind berufsmäßige Sozial¬
demokraten, "Führer" des Proletariats geworden.

Wilhelm Hasenelever, ein Westfale, ist der einzige, der nicht mehr am
Leben ist. Aus einem Lohgerber wurde er 1862 Redakteur, dann "Agitator,"
Präsident des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und Reichstagsabgeordneter.
Er starb geisteskrank in einer Heilanstalt zu Schöneberg bei Berlin im Jahre
1889. "Die Berliner Arbeiter -- heißt es in seiner Biographie -- ehrten
ihn, indem sie ihn 15 000 Mann stark zu Grabe geleiteten. Sein Bild


Proletarierdichter und Proletarierlieder

so wenig vorhanden sind die sieben Dichter, die sich uns in diesen Bänden
mit den Erzeugnissen ihrer proletarischen Muse vorstellen, in der zünftigen
Litteraturgeschichte, Wer kennt ihre Namen, wer weiß etwas von den Schick¬
salen ihrer Träger? Ihre Namen siud in der Litteratur unbekannt oder werden
höchstens, wenn ein Buch recht vollständig zu sein beabsichtigt, in einer ab¬
gelegnen Ecke mitgenannt. Die Partei mag ihr Verdienst in Ehren halten,
aber das „Publikum," oder was man so nennt, hört und sieht sie kaum. Der
eine, und zwar der bedeutendste unter den sieben, hat deshalb sogar darauf
verzichtet, seinen Namen auf das Titelblatt zu setzen, er hat sich begnügt, das
Vorwort mit den Buchstaben R. L. zu unterzeichnen. Der Gedanke — sagt
er — habe ihm nie eine schlaflose Stunde bereitet, ob ihn die zünftige Litte¬
raturgeschichte jemals in irgend einem ihrer vielen Fächer mit mehr als einer
bloßen Namensnennung unterbringen werde, er möchte die „Perücken" selbst
um dieses magere Vergnügen prellen. Er zeigt damit, daß er ein echtes Kind
seiner Zeit ist; denn was ist heute ein Name! Selbst die Namen, die auf
dem großen Markte des Gesellschaftslebens lärmend aufgeschrien werden und
sich allbekannt machen, wie rasch fallen sie der Vergessenheit anheim! Wie
schwer ist es, in einer Zeit, wo das Schwergewicht in der Zahl und in
der Masse liegt, als einzelner etwas zu gelten! Überdies ist der namenlose
Verfasser ein Proletarier, und ein Proletarier ist ohne Namen, weil er nichts
als einer unter vielen ist.

Unbestreitbar sind aber auch die sechs, die sich nennen und von ihren
Lebensschicksalen etwas verlauten lassen, echte und rechte Proletarier. In ihren
Lebenslüufeu zeigen sich manche gemeinsame Züge. Sie stammen alle aus
dem „Volke," sie haben alle ein Gewerbe gelernt, um sich mit ihrer Hände
Arbeit durch die Welt zu schlagen. Sie waren selbst einige von den zahl¬
losen „Händen," die das Riesenräderwerk der modernen Industrie beschäftigt.
Ehe sie ans Dichten dachten, waren sie „Arbeiter": Hasenelever war Loh¬
gerber, Frohne Maschinenbauer, Kegel Buchdrucker, Scheu Vergolder,
Autors Schlosser und Lepp Cigarrenmacher. Die Verbindung von Dichter
und Arbeiter wäre in keiner frühern Zeit möglich gewesen, und fürwahr, das
allein genügt, die ganze Bedeutung des vierte» Standes zu veranschaulichen.
Alle sechs siud Autodidakten und haben das gemeinsam, daß sie einen andern
„Beruf" ergriffen haben, aber was für einen? Sie sind berufsmäßige Sozial¬
demokraten, „Führer" des Proletariats geworden.

Wilhelm Hasenelever, ein Westfale, ist der einzige, der nicht mehr am
Leben ist. Aus einem Lohgerber wurde er 1862 Redakteur, dann „Agitator,"
Präsident des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und Reichstagsabgeordneter.
Er starb geisteskrank in einer Heilanstalt zu Schöneberg bei Berlin im Jahre
1889. „Die Berliner Arbeiter — heißt es in seiner Biographie — ehrten
ihn, indem sie ihn 15 000 Mann stark zu Grabe geleiteten. Sein Bild


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[0040] Proletarierdichter und Proletarierlieder so wenig vorhanden sind die sieben Dichter, die sich uns in diesen Bänden mit den Erzeugnissen ihrer proletarischen Muse vorstellen, in der zünftigen Litteraturgeschichte, Wer kennt ihre Namen, wer weiß etwas von den Schick¬ salen ihrer Träger? Ihre Namen siud in der Litteratur unbekannt oder werden höchstens, wenn ein Buch recht vollständig zu sein beabsichtigt, in einer ab¬ gelegnen Ecke mitgenannt. Die Partei mag ihr Verdienst in Ehren halten, aber das „Publikum," oder was man so nennt, hört und sieht sie kaum. Der eine, und zwar der bedeutendste unter den sieben, hat deshalb sogar darauf verzichtet, seinen Namen auf das Titelblatt zu setzen, er hat sich begnügt, das Vorwort mit den Buchstaben R. L. zu unterzeichnen. Der Gedanke — sagt er — habe ihm nie eine schlaflose Stunde bereitet, ob ihn die zünftige Litte¬ raturgeschichte jemals in irgend einem ihrer vielen Fächer mit mehr als einer bloßen Namensnennung unterbringen werde, er möchte die „Perücken" selbst um dieses magere Vergnügen prellen. Er zeigt damit, daß er ein echtes Kind seiner Zeit ist; denn was ist heute ein Name! Selbst die Namen, die auf dem großen Markte des Gesellschaftslebens lärmend aufgeschrien werden und sich allbekannt machen, wie rasch fallen sie der Vergessenheit anheim! Wie schwer ist es, in einer Zeit, wo das Schwergewicht in der Zahl und in der Masse liegt, als einzelner etwas zu gelten! Überdies ist der namenlose Verfasser ein Proletarier, und ein Proletarier ist ohne Namen, weil er nichts als einer unter vielen ist. Unbestreitbar sind aber auch die sechs, die sich nennen und von ihren Lebensschicksalen etwas verlauten lassen, echte und rechte Proletarier. In ihren Lebenslüufeu zeigen sich manche gemeinsame Züge. Sie stammen alle aus dem „Volke," sie haben alle ein Gewerbe gelernt, um sich mit ihrer Hände Arbeit durch die Welt zu schlagen. Sie waren selbst einige von den zahl¬ losen „Händen," die das Riesenräderwerk der modernen Industrie beschäftigt. Ehe sie ans Dichten dachten, waren sie „Arbeiter": Hasenelever war Loh¬ gerber, Frohne Maschinenbauer, Kegel Buchdrucker, Scheu Vergolder, Autors Schlosser und Lepp Cigarrenmacher. Die Verbindung von Dichter und Arbeiter wäre in keiner frühern Zeit möglich gewesen, und fürwahr, das allein genügt, die ganze Bedeutung des vierte» Standes zu veranschaulichen. Alle sechs siud Autodidakten und haben das gemeinsam, daß sie einen andern „Beruf" ergriffen haben, aber was für einen? Sie sind berufsmäßige Sozial¬ demokraten, „Führer" des Proletariats geworden. Wilhelm Hasenelever, ein Westfale, ist der einzige, der nicht mehr am Leben ist. Aus einem Lohgerber wurde er 1862 Redakteur, dann „Agitator," Präsident des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins und Reichstagsabgeordneter. Er starb geisteskrank in einer Heilanstalt zu Schöneberg bei Berlin im Jahre 1889. „Die Berliner Arbeiter — heißt es in seiner Biographie — ehrten ihn, indem sie ihn 15 000 Mann stark zu Grabe geleiteten. Sein Bild

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/40>, abgerufen am 23.07.2024.