Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich von Flotow und Otto Nicolcn

Besitz dieser oder jener Persönlichkeit ein Recht habe. Daran Pflegen sich dann
Untersuchungen über intime Beziehungen und Zustände dieser Persönlichkeiten
zu schließen. Wir meinen, daß vielmehr umgekehrt gesagt werden sollte: jeder
einzelne hat das Recht, in seinen persönlichsten Angelegenheiten von der Ge¬
sellschaft geschützt und geschont zu werden. Es ist nicht alles für alle. Irgend
eil, Asyl muß auch in unserm gegen früher so gründlich veränderten sozialen
Leben jeder haben, wo er sich vor der Welt gerettet und sicher weiß. Alle
solche Veröffentlichungen schließen einen gewissen Grad von Taktlosigkeit ein.
Diese ist manchmal gut gemeint (so zweifelsohne bei dem Verfasser der Bio¬
graphie Nicolais), aber welch widrige Erscheinungen sie zur Folge haben können,
wenn sie dem Kitzel der Aufregungslust dienen, das erfährt man jeden Tag.
Als Regel wäre doch zu betrachten, daß das, was vom Urheber nicht für die
Welt bestimmt gewesen ist, ihr auch vorenthalten bleibt. Gewiß dürfen davon
Ausnahmen gemacht werden. Kein Urteilsfähiger wird z. B. wünschen, daß
gewisse Briefwechsel Goethes unveröffentlicht geblieben wären. Mendelssohns
und Schumanns Briefe waren für das deutsche Volk ein kostbares Geschenk --
wir betonen das Wort. Aber zu wünschen wäre nach allen Seiten hin, daß
sich für diese Dinge ein feineres Unterscheidungsvermögen ausbildete.

Briefe und Tagebücher können viel beitragen zur Vermehrung sachlicher
Kenntnis. Oft läßt sich eine Menge einzelner Thatsachen durch sie feststellen,
die auf keinem andern Wege erreichbar gewesen wären, und die, in einen
größer" Zusammenhang eingefügt, oft überraschende Aufklärung bewirken. Aber
es ist das denkbar trügerischste, wenn man glaubt, auf Grund solcher Zeug¬
nisse, die flüchtige Augenblicksbilder sind, tiefer in Charakter und Gemüts¬
beschaffenheit des Schreibers einzudringen, als durch Würdigung seiner Thaten,
zu deren Vollbringung er die Kraft seines ganzen Menschen andauernd zu¬
sammenfassen mußte. Handelt es sich nun gar um Herzensangelegenheiten, so
tritt der besonnene und lebenserfahrene Forscher meist schon nach wenigen
Schritten in einen Zustand ein, wo er sich sagt: hier kann ich nicht weiter.
"Wir lcsens oft und glaubeus auch am Ende, des Menschen Herz sei ewig
unergründlich," beginnt ein Gedicht Goethes, das auch nicht für fremde Augen
bestimmt war, und das in die Öffentlichkeit gezerrt zu haben einer der schlech¬
testen Dienste gewesen ist, die dem großen Dichter je geleistet worden sind. Es
ist aber so, wie jene Worte sagen. Die unermeßliche Vielgestaltigkeit der Stim¬
mungen, das chaotische Gewirr von dunkeln Instinkten, verwegnen Wünschen,
farbigen Täuschungen, das in der Tiefe des Gemüts gerade der bedeutenden
Menschen lebt und webt, ist kein Fundament für objektive Wahrheiten. Über
einen Regenbogen kann vielleicht der schwebende Fuß der Götter wandeln, aber
nicht der stvffbeschwerte Mensch. Welch peinliche Kommentare haben Goethes
Briefe an Fran von Stein erfahren, wie wird an und in Beethovens Liebes¬
verhältnissen hernmgedeutet auf Grund einiger -- fast möchte man sagen, un-


Friedrich von Flotow und Otto Nicolcn

Besitz dieser oder jener Persönlichkeit ein Recht habe. Daran Pflegen sich dann
Untersuchungen über intime Beziehungen und Zustände dieser Persönlichkeiten
zu schließen. Wir meinen, daß vielmehr umgekehrt gesagt werden sollte: jeder
einzelne hat das Recht, in seinen persönlichsten Angelegenheiten von der Ge¬
sellschaft geschützt und geschont zu werden. Es ist nicht alles für alle. Irgend
eil, Asyl muß auch in unserm gegen früher so gründlich veränderten sozialen
Leben jeder haben, wo er sich vor der Welt gerettet und sicher weiß. Alle
solche Veröffentlichungen schließen einen gewissen Grad von Taktlosigkeit ein.
Diese ist manchmal gut gemeint (so zweifelsohne bei dem Verfasser der Bio¬
graphie Nicolais), aber welch widrige Erscheinungen sie zur Folge haben können,
wenn sie dem Kitzel der Aufregungslust dienen, das erfährt man jeden Tag.
Als Regel wäre doch zu betrachten, daß das, was vom Urheber nicht für die
Welt bestimmt gewesen ist, ihr auch vorenthalten bleibt. Gewiß dürfen davon
Ausnahmen gemacht werden. Kein Urteilsfähiger wird z. B. wünschen, daß
gewisse Briefwechsel Goethes unveröffentlicht geblieben wären. Mendelssohns
und Schumanns Briefe waren für das deutsche Volk ein kostbares Geschenk —
wir betonen das Wort. Aber zu wünschen wäre nach allen Seiten hin, daß
sich für diese Dinge ein feineres Unterscheidungsvermögen ausbildete.

Briefe und Tagebücher können viel beitragen zur Vermehrung sachlicher
Kenntnis. Oft läßt sich eine Menge einzelner Thatsachen durch sie feststellen,
die auf keinem andern Wege erreichbar gewesen wären, und die, in einen
größer» Zusammenhang eingefügt, oft überraschende Aufklärung bewirken. Aber
es ist das denkbar trügerischste, wenn man glaubt, auf Grund solcher Zeug¬
nisse, die flüchtige Augenblicksbilder sind, tiefer in Charakter und Gemüts¬
beschaffenheit des Schreibers einzudringen, als durch Würdigung seiner Thaten,
zu deren Vollbringung er die Kraft seines ganzen Menschen andauernd zu¬
sammenfassen mußte. Handelt es sich nun gar um Herzensangelegenheiten, so
tritt der besonnene und lebenserfahrene Forscher meist schon nach wenigen
Schritten in einen Zustand ein, wo er sich sagt: hier kann ich nicht weiter.
„Wir lcsens oft und glaubeus auch am Ende, des Menschen Herz sei ewig
unergründlich," beginnt ein Gedicht Goethes, das auch nicht für fremde Augen
bestimmt war, und das in die Öffentlichkeit gezerrt zu haben einer der schlech¬
testen Dienste gewesen ist, die dem großen Dichter je geleistet worden sind. Es
ist aber so, wie jene Worte sagen. Die unermeßliche Vielgestaltigkeit der Stim¬
mungen, das chaotische Gewirr von dunkeln Instinkten, verwegnen Wünschen,
farbigen Täuschungen, das in der Tiefe des Gemüts gerade der bedeutenden
Menschen lebt und webt, ist kein Fundament für objektive Wahrheiten. Über
einen Regenbogen kann vielleicht der schwebende Fuß der Götter wandeln, aber
nicht der stvffbeschwerte Mensch. Welch peinliche Kommentare haben Goethes
Briefe an Fran von Stein erfahren, wie wird an und in Beethovens Liebes¬
verhältnissen hernmgedeutet auf Grund einiger — fast möchte man sagen, un-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214834"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich von Flotow und Otto Nicolcn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1464" prev="#ID_1463"> Besitz dieser oder jener Persönlichkeit ein Recht habe. Daran Pflegen sich dann<lb/>
Untersuchungen über intime Beziehungen und Zustände dieser Persönlichkeiten<lb/>
zu schließen. Wir meinen, daß vielmehr umgekehrt gesagt werden sollte: jeder<lb/>
einzelne hat das Recht, in seinen persönlichsten Angelegenheiten von der Ge¬<lb/>
sellschaft geschützt und geschont zu werden. Es ist nicht alles für alle. Irgend<lb/>
eil, Asyl muß auch in unserm gegen früher so gründlich veränderten sozialen<lb/>
Leben jeder haben, wo er sich vor der Welt gerettet und sicher weiß. Alle<lb/>
solche Veröffentlichungen schließen einen gewissen Grad von Taktlosigkeit ein.<lb/>
Diese ist manchmal gut gemeint (so zweifelsohne bei dem Verfasser der Bio¬<lb/>
graphie Nicolais), aber welch widrige Erscheinungen sie zur Folge haben können,<lb/>
wenn sie dem Kitzel der Aufregungslust dienen, das erfährt man jeden Tag.<lb/>
Als Regel wäre doch zu betrachten, daß das, was vom Urheber nicht für die<lb/>
Welt bestimmt gewesen ist, ihr auch vorenthalten bleibt. Gewiß dürfen davon<lb/>
Ausnahmen gemacht werden. Kein Urteilsfähiger wird z. B. wünschen, daß<lb/>
gewisse Briefwechsel Goethes unveröffentlicht geblieben wären. Mendelssohns<lb/>
und Schumanns Briefe waren für das deutsche Volk ein kostbares Geschenk &#x2014;<lb/>
wir betonen das Wort. Aber zu wünschen wäre nach allen Seiten hin, daß<lb/>
sich für diese Dinge ein feineres Unterscheidungsvermögen ausbildete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1465" next="#ID_1466"> Briefe und Tagebücher können viel beitragen zur Vermehrung sachlicher<lb/>
Kenntnis. Oft läßt sich eine Menge einzelner Thatsachen durch sie feststellen,<lb/>
die auf keinem andern Wege erreichbar gewesen wären, und die, in einen<lb/>
größer» Zusammenhang eingefügt, oft überraschende Aufklärung bewirken. Aber<lb/>
es ist das denkbar trügerischste, wenn man glaubt, auf Grund solcher Zeug¬<lb/>
nisse, die flüchtige Augenblicksbilder sind, tiefer in Charakter und Gemüts¬<lb/>
beschaffenheit des Schreibers einzudringen, als durch Würdigung seiner Thaten,<lb/>
zu deren Vollbringung er die Kraft seines ganzen Menschen andauernd zu¬<lb/>
sammenfassen mußte. Handelt es sich nun gar um Herzensangelegenheiten, so<lb/>
tritt der besonnene und lebenserfahrene Forscher meist schon nach wenigen<lb/>
Schritten in einen Zustand ein, wo er sich sagt: hier kann ich nicht weiter.<lb/>
&#x201E;Wir lcsens oft und glaubeus auch am Ende, des Menschen Herz sei ewig<lb/>
unergründlich," beginnt ein Gedicht Goethes, das auch nicht für fremde Augen<lb/>
bestimmt war, und das in die Öffentlichkeit gezerrt zu haben einer der schlech¬<lb/>
testen Dienste gewesen ist, die dem großen Dichter je geleistet worden sind. Es<lb/>
ist aber so, wie jene Worte sagen. Die unermeßliche Vielgestaltigkeit der Stim¬<lb/>
mungen, das chaotische Gewirr von dunkeln Instinkten, verwegnen Wünschen,<lb/>
farbigen Täuschungen, das in der Tiefe des Gemüts gerade der bedeutenden<lb/>
Menschen lebt und webt, ist kein Fundament für objektive Wahrheiten. Über<lb/>
einen Regenbogen kann vielleicht der schwebende Fuß der Götter wandeln, aber<lb/>
nicht der stvffbeschwerte Mensch. Welch peinliche Kommentare haben Goethes<lb/>
Briefe an Fran von Stein erfahren, wie wird an und in Beethovens Liebes¬<lb/>
verhältnissen hernmgedeutet auf Grund einiger &#x2014; fast möchte man sagen, un-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] Friedrich von Flotow und Otto Nicolcn Besitz dieser oder jener Persönlichkeit ein Recht habe. Daran Pflegen sich dann Untersuchungen über intime Beziehungen und Zustände dieser Persönlichkeiten zu schließen. Wir meinen, daß vielmehr umgekehrt gesagt werden sollte: jeder einzelne hat das Recht, in seinen persönlichsten Angelegenheiten von der Ge¬ sellschaft geschützt und geschont zu werden. Es ist nicht alles für alle. Irgend eil, Asyl muß auch in unserm gegen früher so gründlich veränderten sozialen Leben jeder haben, wo er sich vor der Welt gerettet und sicher weiß. Alle solche Veröffentlichungen schließen einen gewissen Grad von Taktlosigkeit ein. Diese ist manchmal gut gemeint (so zweifelsohne bei dem Verfasser der Bio¬ graphie Nicolais), aber welch widrige Erscheinungen sie zur Folge haben können, wenn sie dem Kitzel der Aufregungslust dienen, das erfährt man jeden Tag. Als Regel wäre doch zu betrachten, daß das, was vom Urheber nicht für die Welt bestimmt gewesen ist, ihr auch vorenthalten bleibt. Gewiß dürfen davon Ausnahmen gemacht werden. Kein Urteilsfähiger wird z. B. wünschen, daß gewisse Briefwechsel Goethes unveröffentlicht geblieben wären. Mendelssohns und Schumanns Briefe waren für das deutsche Volk ein kostbares Geschenk — wir betonen das Wort. Aber zu wünschen wäre nach allen Seiten hin, daß sich für diese Dinge ein feineres Unterscheidungsvermögen ausbildete. Briefe und Tagebücher können viel beitragen zur Vermehrung sachlicher Kenntnis. Oft läßt sich eine Menge einzelner Thatsachen durch sie feststellen, die auf keinem andern Wege erreichbar gewesen wären, und die, in einen größer» Zusammenhang eingefügt, oft überraschende Aufklärung bewirken. Aber es ist das denkbar trügerischste, wenn man glaubt, auf Grund solcher Zeug¬ nisse, die flüchtige Augenblicksbilder sind, tiefer in Charakter und Gemüts¬ beschaffenheit des Schreibers einzudringen, als durch Würdigung seiner Thaten, zu deren Vollbringung er die Kraft seines ganzen Menschen andauernd zu¬ sammenfassen mußte. Handelt es sich nun gar um Herzensangelegenheiten, so tritt der besonnene und lebenserfahrene Forscher meist schon nach wenigen Schritten in einen Zustand ein, wo er sich sagt: hier kann ich nicht weiter. „Wir lcsens oft und glaubeus auch am Ende, des Menschen Herz sei ewig unergründlich," beginnt ein Gedicht Goethes, das auch nicht für fremde Augen bestimmt war, und das in die Öffentlichkeit gezerrt zu haben einer der schlech¬ testen Dienste gewesen ist, die dem großen Dichter je geleistet worden sind. Es ist aber so, wie jene Worte sagen. Die unermeßliche Vielgestaltigkeit der Stim¬ mungen, das chaotische Gewirr von dunkeln Instinkten, verwegnen Wünschen, farbigen Täuschungen, das in der Tiefe des Gemüts gerade der bedeutenden Menschen lebt und webt, ist kein Fundament für objektive Wahrheiten. Über einen Regenbogen kann vielleicht der schwebende Fuß der Götter wandeln, aber nicht der stvffbeschwerte Mensch. Welch peinliche Kommentare haben Goethes Briefe an Fran von Stein erfahren, wie wird an und in Beethovens Liebes¬ verhältnissen hernmgedeutet auf Grund einiger — fast möchte man sagen, un-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/379>, abgerufen am 26.08.2024.