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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich von Flotow und Alto Nicolai

Lebensbildes überhaupt Berechtigung gewinnen sollte. Andrerseits stoßen Mit¬
teilungen auf, bei denen man zweifelhaft wird, ob die Verfasserin wohl ge¬
nügend sicher unterrichtet war. Von einer Betrachtung des Entwicklungs¬
ganges, den Flotow als Musiker genommen hat, findet sich vollends keine
Spur. Und doch, welche reizvolle Aufgabe wäre es gerade bei diesem proble¬
matischen Künstler gewesen, zu zeigen, wie er es allmählich zu einer
"Martha" hat bringen können! Freilich war dazu ein fachwissenschaftlich ge¬
bildeter Meister erforderlich.

Verzichtet man auf alle diese berechtigten Ansprüche, sieht man mich von
einzelnen, aus mangelnder Sachkenntnis entsprungnen Unrichtigkeiten ab, so
kann man immerhin zugestehen, daß unsre Kenntnis von Flotows Lebensschick¬
salen um mancherlei wissenswerte Einzelheiten bereichert wird. Man erfährt
neues aus seiner Jugendzeit und aus den beiden Pariser Perioden. Seine
Kompositionen erscheinen in vollständigerer Aufzählung, als sie anderswo zu
finden waren, auch die chronologischen und statistischen Nachweise über ihre Auf¬
führungen, über die Geschichte ihrer Entstehung, über die Verfasser der Texte
sind dankenswert. Uns haben am meisten zwei Notizen angezogen, zu denen
Flotow selbst nur mittelbar in Beziehung steht. In einem Briefe vom 19. No¬
vember 1838 schreibt er, daß ihm Saint-Georges eine Operndichtung zur Kom¬
position überlassen wolle. "Sie war ursprünglich dem Meyerbeer versprochen,
da er mit ihm aber an einem andern Stück arbeitet, zu dem Weber den ersten
Akt hinterlassen hat, so ist dies, wie er meint, leicht zu arrangiren." Offenbar
sind die "Drei Plutos" gemeint. Daß Meyerbeer den Versuch gemacht hat,
dieses kostbare Opernfragment aus Webers Nachlaß zu vollenden, wußten wir
schon anderswoher. Unbekannt war aber bisher, wann es geschah, un¬
bekannt auch, daß er dabei einen französischen Librettisten zu Hilfe zog. Es
ist begreiflich, daß sich Meyerbeer von Theodor Heils deutschem Textbuch uicht
befriedigt fühlte. Aber wenn es ihm Saint-Georges umarbeiten sollte, dachte
er dann daran, aus dem Werk seines deutschen Jugendfreundes eine franzö¬
sische Oper zu machen? Die andre Notiz: Bekanntlich treibt seit bald fünfzig
Jahren in unsern Kirchenkonzerten eine sogenannte Kirchenarie von Stra-
della ihr hochstaplerisches Wesen. Sie kam hervor in der Zeit, da Flotows
Oper Aufsehen machte, mau hätte da gern auch einmal etwas von dem Kom¬
ponisten Stradella selbst gekannt. Daß die Arie untergeschoben sein müsse,
hat zuerst Ambrvs ausgesprochen. Er hatte auch den Namen des Komponisten
in Erfahrung gebracht und deutet ihn in witzig versteckter Weise an (Bunte
Blätter, S. 287). Die Verfasserin der Biographie scheint sich auf Ambros zu
beziehen, scheint aber auch noch etwas mehr über die Sache gehört zu haben.
Kombiniren wir beide, so ergiebt sich etwa folgender Sachverhalt. Louis
Niedermeyer aus Nyon in der französischen Schweiz (er heißt weder Niemeyer,
wie Ambrvs drucken läßt, noch war er ein Belgier, wie in der Biographie


Friedrich von Flotow und Alto Nicolai

Lebensbildes überhaupt Berechtigung gewinnen sollte. Andrerseits stoßen Mit¬
teilungen auf, bei denen man zweifelhaft wird, ob die Verfasserin wohl ge¬
nügend sicher unterrichtet war. Von einer Betrachtung des Entwicklungs¬
ganges, den Flotow als Musiker genommen hat, findet sich vollends keine
Spur. Und doch, welche reizvolle Aufgabe wäre es gerade bei diesem proble¬
matischen Künstler gewesen, zu zeigen, wie er es allmählich zu einer
„Martha" hat bringen können! Freilich war dazu ein fachwissenschaftlich ge¬
bildeter Meister erforderlich.

Verzichtet man auf alle diese berechtigten Ansprüche, sieht man mich von
einzelnen, aus mangelnder Sachkenntnis entsprungnen Unrichtigkeiten ab, so
kann man immerhin zugestehen, daß unsre Kenntnis von Flotows Lebensschick¬
salen um mancherlei wissenswerte Einzelheiten bereichert wird. Man erfährt
neues aus seiner Jugendzeit und aus den beiden Pariser Perioden. Seine
Kompositionen erscheinen in vollständigerer Aufzählung, als sie anderswo zu
finden waren, auch die chronologischen und statistischen Nachweise über ihre Auf¬
führungen, über die Geschichte ihrer Entstehung, über die Verfasser der Texte
sind dankenswert. Uns haben am meisten zwei Notizen angezogen, zu denen
Flotow selbst nur mittelbar in Beziehung steht. In einem Briefe vom 19. No¬
vember 1838 schreibt er, daß ihm Saint-Georges eine Operndichtung zur Kom¬
position überlassen wolle. „Sie war ursprünglich dem Meyerbeer versprochen,
da er mit ihm aber an einem andern Stück arbeitet, zu dem Weber den ersten
Akt hinterlassen hat, so ist dies, wie er meint, leicht zu arrangiren." Offenbar
sind die „Drei Plutos" gemeint. Daß Meyerbeer den Versuch gemacht hat,
dieses kostbare Opernfragment aus Webers Nachlaß zu vollenden, wußten wir
schon anderswoher. Unbekannt war aber bisher, wann es geschah, un¬
bekannt auch, daß er dabei einen französischen Librettisten zu Hilfe zog. Es
ist begreiflich, daß sich Meyerbeer von Theodor Heils deutschem Textbuch uicht
befriedigt fühlte. Aber wenn es ihm Saint-Georges umarbeiten sollte, dachte
er dann daran, aus dem Werk seines deutschen Jugendfreundes eine franzö¬
sische Oper zu machen? Die andre Notiz: Bekanntlich treibt seit bald fünfzig
Jahren in unsern Kirchenkonzerten eine sogenannte Kirchenarie von Stra-
della ihr hochstaplerisches Wesen. Sie kam hervor in der Zeit, da Flotows
Oper Aufsehen machte, mau hätte da gern auch einmal etwas von dem Kom¬
ponisten Stradella selbst gekannt. Daß die Arie untergeschoben sein müsse,
hat zuerst Ambrvs ausgesprochen. Er hatte auch den Namen des Komponisten
in Erfahrung gebracht und deutet ihn in witzig versteckter Weise an (Bunte
Blätter, S. 287). Die Verfasserin der Biographie scheint sich auf Ambros zu
beziehen, scheint aber auch noch etwas mehr über die Sache gehört zu haben.
Kombiniren wir beide, so ergiebt sich etwa folgender Sachverhalt. Louis
Niedermeyer aus Nyon in der französischen Schweiz (er heißt weder Niemeyer,
wie Ambrvs drucken läßt, noch war er ein Belgier, wie in der Biographie


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[0377] Friedrich von Flotow und Alto Nicolai Lebensbildes überhaupt Berechtigung gewinnen sollte. Andrerseits stoßen Mit¬ teilungen auf, bei denen man zweifelhaft wird, ob die Verfasserin wohl ge¬ nügend sicher unterrichtet war. Von einer Betrachtung des Entwicklungs¬ ganges, den Flotow als Musiker genommen hat, findet sich vollends keine Spur. Und doch, welche reizvolle Aufgabe wäre es gerade bei diesem proble¬ matischen Künstler gewesen, zu zeigen, wie er es allmählich zu einer „Martha" hat bringen können! Freilich war dazu ein fachwissenschaftlich ge¬ bildeter Meister erforderlich. Verzichtet man auf alle diese berechtigten Ansprüche, sieht man mich von einzelnen, aus mangelnder Sachkenntnis entsprungnen Unrichtigkeiten ab, so kann man immerhin zugestehen, daß unsre Kenntnis von Flotows Lebensschick¬ salen um mancherlei wissenswerte Einzelheiten bereichert wird. Man erfährt neues aus seiner Jugendzeit und aus den beiden Pariser Perioden. Seine Kompositionen erscheinen in vollständigerer Aufzählung, als sie anderswo zu finden waren, auch die chronologischen und statistischen Nachweise über ihre Auf¬ führungen, über die Geschichte ihrer Entstehung, über die Verfasser der Texte sind dankenswert. Uns haben am meisten zwei Notizen angezogen, zu denen Flotow selbst nur mittelbar in Beziehung steht. In einem Briefe vom 19. No¬ vember 1838 schreibt er, daß ihm Saint-Georges eine Operndichtung zur Kom¬ position überlassen wolle. „Sie war ursprünglich dem Meyerbeer versprochen, da er mit ihm aber an einem andern Stück arbeitet, zu dem Weber den ersten Akt hinterlassen hat, so ist dies, wie er meint, leicht zu arrangiren." Offenbar sind die „Drei Plutos" gemeint. Daß Meyerbeer den Versuch gemacht hat, dieses kostbare Opernfragment aus Webers Nachlaß zu vollenden, wußten wir schon anderswoher. Unbekannt war aber bisher, wann es geschah, un¬ bekannt auch, daß er dabei einen französischen Librettisten zu Hilfe zog. Es ist begreiflich, daß sich Meyerbeer von Theodor Heils deutschem Textbuch uicht befriedigt fühlte. Aber wenn es ihm Saint-Georges umarbeiten sollte, dachte er dann daran, aus dem Werk seines deutschen Jugendfreundes eine franzö¬ sische Oper zu machen? Die andre Notiz: Bekanntlich treibt seit bald fünfzig Jahren in unsern Kirchenkonzerten eine sogenannte Kirchenarie von Stra- della ihr hochstaplerisches Wesen. Sie kam hervor in der Zeit, da Flotows Oper Aufsehen machte, mau hätte da gern auch einmal etwas von dem Kom¬ ponisten Stradella selbst gekannt. Daß die Arie untergeschoben sein müsse, hat zuerst Ambrvs ausgesprochen. Er hatte auch den Namen des Komponisten in Erfahrung gebracht und deutet ihn in witzig versteckter Weise an (Bunte Blätter, S. 287). Die Verfasserin der Biographie scheint sich auf Ambros zu beziehen, scheint aber auch noch etwas mehr über die Sache gehört zu haben. Kombiniren wir beide, so ergiebt sich etwa folgender Sachverhalt. Louis Niedermeyer aus Nyon in der französischen Schweiz (er heißt weder Niemeyer, wie Ambrvs drucken läßt, noch war er ein Belgier, wie in der Biographie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/377>, abgerufen am 27.08.2024.