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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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vorspringen und oft das Schicksal des Ganzen entscheiden. Ein ähnliches Ge¬
ständnis würde auch der Kunsthistoriker abzulegen haben. Gewisse Hauptziige
in der Entwicklung der Oper sind bald erkannt, wie sich anch der Dramaturg
über die Haupteigenschaften des dramatischen Stils und die Grundgesetze der
Bühnenwirkung leicht klar wird. Will er aber aus ihnen Schlüsse auf den
Einzelfall ziehen, so folgt er einem Irrlicht und gerät in den Sumpf. Opern,
die alle Bedingungen einer durchschlagenden, nachhaltigen Wirkung in sich zu
tragen scheinen, verpuffen klang- und kraftlos. Andre, deren geringer Kunst¬
werk auf der Hand liegt, treffen wie durch blinden Instinkt geschleudert ins
Schwarze. Manche Opernkomponistc" stemmen sich dem herrschenden Zeit¬
geschmack entgegen; an der herkulischen Kraft, die das mit Erfolg thun kann,
scheint es ihnen durchaus zu fehlen. Dennoch gelingt es ihnen, sich mit ihren
Werken Gehör zu verschaffen und nachhaltigen Eindruck zu machen; um, Gott
weiß welcher, besondern Eigenschaften willen hält die Welt gleichsam im Gange
still und lauscht. Wieder bei andern Opern will mau meinen, sie verdankten
nur dem leichten Untcrhaltungsbedürfnis ihren Erfolg, der mit der wechselnden
Menge dahinschwinde" werde. Wenn man sich aber fünfzig Jahre später nach
ihnen umsieht, bewähren sie noch immer die anfängliche Wirkungskraft.

Flvtows "Stradella" und "Martha," Nicolais "Lustige Weiber von
Windsor" sind geeignet, dergleichen Gedanken anzuregen. Ihre Komponisten
sind kaum mittelstarke Talente, und die Masse ihrer Erzeugnisse ist nach kurzem
Scheinleben in sich zerfallen. Aber mit einem Werke hat es Nicolai, mit
zweien Flotow doch manchem genialen Komponisten zuvorgethan. Was ein
halbes Jahrhundert fortzuwirken die Kraft gehabt hat, wird für immer be¬
deutsam bleiben. Mit Überwindung sagt man es, aber es ist die Wahrheit:
in dem Ganzen der deutschen Kunst wird eine "Martha" immer mehr gelten
müssen als eine "Genoveva."

Bei weitem der gebildetere und der gediegenere von beiden war Nicolai,
aber Flotow hatte das ursprünglichere Talent. Beide nahmen sich die aus¬
ländische Kunst zur Stütze, Nicolai ausschließlich die italienische, Flotow vor¬
zugsweise die französische. Aber Nicolai, so stark er manchmal itnlienisirt,
verleugnet doch den Deutschen nie; ohne Weber wäre er schon gar nicht denkbar.
Flotow zeigt nur hie und da mit Marschner Zusammenhang; volkstümliche
Lieder und komische Szenen lassen manchmal das Vorbild deutlich erkennen.
Seine Hauptmuster sind die Franzosen: Boieldieu, Ander, Herold, Halvvh;
mit Grisnr hat er sogar mehrere Opern gemeinschaftlich komponirt. Donizetti
findet Beachtung nach dem Maße seines damaligen Ansehens in Paris.

Es ist um Flotow, diesen mecklenburgischen Edelmann, überhaupt ein
wunderliches Ding. Die Unterweisung eines tüchtigen deutschen Meisters hat
er nie genossen. Die ihn auf dem Lande oder im Städtchen Güstrow in die
Musik einführten, können nur unsolide Dilettanten oder Musikanten aller-


vorspringen und oft das Schicksal des Ganzen entscheiden. Ein ähnliches Ge¬
ständnis würde auch der Kunsthistoriker abzulegen haben. Gewisse Hauptziige
in der Entwicklung der Oper sind bald erkannt, wie sich anch der Dramaturg
über die Haupteigenschaften des dramatischen Stils und die Grundgesetze der
Bühnenwirkung leicht klar wird. Will er aber aus ihnen Schlüsse auf den
Einzelfall ziehen, so folgt er einem Irrlicht und gerät in den Sumpf. Opern,
die alle Bedingungen einer durchschlagenden, nachhaltigen Wirkung in sich zu
tragen scheinen, verpuffen klang- und kraftlos. Andre, deren geringer Kunst¬
werk auf der Hand liegt, treffen wie durch blinden Instinkt geschleudert ins
Schwarze. Manche Opernkomponistc» stemmen sich dem herrschenden Zeit¬
geschmack entgegen; an der herkulischen Kraft, die das mit Erfolg thun kann,
scheint es ihnen durchaus zu fehlen. Dennoch gelingt es ihnen, sich mit ihren
Werken Gehör zu verschaffen und nachhaltigen Eindruck zu machen; um, Gott
weiß welcher, besondern Eigenschaften willen hält die Welt gleichsam im Gange
still und lauscht. Wieder bei andern Opern will mau meinen, sie verdankten
nur dem leichten Untcrhaltungsbedürfnis ihren Erfolg, der mit der wechselnden
Menge dahinschwinde» werde. Wenn man sich aber fünfzig Jahre später nach
ihnen umsieht, bewähren sie noch immer die anfängliche Wirkungskraft.

Flvtows „Stradella" und „Martha," Nicolais „Lustige Weiber von
Windsor" sind geeignet, dergleichen Gedanken anzuregen. Ihre Komponisten
sind kaum mittelstarke Talente, und die Masse ihrer Erzeugnisse ist nach kurzem
Scheinleben in sich zerfallen. Aber mit einem Werke hat es Nicolai, mit
zweien Flotow doch manchem genialen Komponisten zuvorgethan. Was ein
halbes Jahrhundert fortzuwirken die Kraft gehabt hat, wird für immer be¬
deutsam bleiben. Mit Überwindung sagt man es, aber es ist die Wahrheit:
in dem Ganzen der deutschen Kunst wird eine „Martha" immer mehr gelten
müssen als eine „Genoveva."

Bei weitem der gebildetere und der gediegenere von beiden war Nicolai,
aber Flotow hatte das ursprünglichere Talent. Beide nahmen sich die aus¬
ländische Kunst zur Stütze, Nicolai ausschließlich die italienische, Flotow vor¬
zugsweise die französische. Aber Nicolai, so stark er manchmal itnlienisirt,
verleugnet doch den Deutschen nie; ohne Weber wäre er schon gar nicht denkbar.
Flotow zeigt nur hie und da mit Marschner Zusammenhang; volkstümliche
Lieder und komische Szenen lassen manchmal das Vorbild deutlich erkennen.
Seine Hauptmuster sind die Franzosen: Boieldieu, Ander, Herold, Halvvh;
mit Grisnr hat er sogar mehrere Opern gemeinschaftlich komponirt. Donizetti
findet Beachtung nach dem Maße seines damaligen Ansehens in Paris.

Es ist um Flotow, diesen mecklenburgischen Edelmann, überhaupt ein
wunderliches Ding. Die Unterweisung eines tüchtigen deutschen Meisters hat
er nie genossen. Die ihn auf dem Lande oder im Städtchen Güstrow in die
Musik einführten, können nur unsolide Dilettanten oder Musikanten aller-


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[0373] vorspringen und oft das Schicksal des Ganzen entscheiden. Ein ähnliches Ge¬ ständnis würde auch der Kunsthistoriker abzulegen haben. Gewisse Hauptziige in der Entwicklung der Oper sind bald erkannt, wie sich anch der Dramaturg über die Haupteigenschaften des dramatischen Stils und die Grundgesetze der Bühnenwirkung leicht klar wird. Will er aber aus ihnen Schlüsse auf den Einzelfall ziehen, so folgt er einem Irrlicht und gerät in den Sumpf. Opern, die alle Bedingungen einer durchschlagenden, nachhaltigen Wirkung in sich zu tragen scheinen, verpuffen klang- und kraftlos. Andre, deren geringer Kunst¬ werk auf der Hand liegt, treffen wie durch blinden Instinkt geschleudert ins Schwarze. Manche Opernkomponistc» stemmen sich dem herrschenden Zeit¬ geschmack entgegen; an der herkulischen Kraft, die das mit Erfolg thun kann, scheint es ihnen durchaus zu fehlen. Dennoch gelingt es ihnen, sich mit ihren Werken Gehör zu verschaffen und nachhaltigen Eindruck zu machen; um, Gott weiß welcher, besondern Eigenschaften willen hält die Welt gleichsam im Gange still und lauscht. Wieder bei andern Opern will mau meinen, sie verdankten nur dem leichten Untcrhaltungsbedürfnis ihren Erfolg, der mit der wechselnden Menge dahinschwinde» werde. Wenn man sich aber fünfzig Jahre später nach ihnen umsieht, bewähren sie noch immer die anfängliche Wirkungskraft. Flvtows „Stradella" und „Martha," Nicolais „Lustige Weiber von Windsor" sind geeignet, dergleichen Gedanken anzuregen. Ihre Komponisten sind kaum mittelstarke Talente, und die Masse ihrer Erzeugnisse ist nach kurzem Scheinleben in sich zerfallen. Aber mit einem Werke hat es Nicolai, mit zweien Flotow doch manchem genialen Komponisten zuvorgethan. Was ein halbes Jahrhundert fortzuwirken die Kraft gehabt hat, wird für immer be¬ deutsam bleiben. Mit Überwindung sagt man es, aber es ist die Wahrheit: in dem Ganzen der deutschen Kunst wird eine „Martha" immer mehr gelten müssen als eine „Genoveva." Bei weitem der gebildetere und der gediegenere von beiden war Nicolai, aber Flotow hatte das ursprünglichere Talent. Beide nahmen sich die aus¬ ländische Kunst zur Stütze, Nicolai ausschließlich die italienische, Flotow vor¬ zugsweise die französische. Aber Nicolai, so stark er manchmal itnlienisirt, verleugnet doch den Deutschen nie; ohne Weber wäre er schon gar nicht denkbar. Flotow zeigt nur hie und da mit Marschner Zusammenhang; volkstümliche Lieder und komische Szenen lassen manchmal das Vorbild deutlich erkennen. Seine Hauptmuster sind die Franzosen: Boieldieu, Ander, Herold, Halvvh; mit Grisnr hat er sogar mehrere Opern gemeinschaftlich komponirt. Donizetti findet Beachtung nach dem Maße seines damaligen Ansehens in Paris. Es ist um Flotow, diesen mecklenburgischen Edelmann, überhaupt ein wunderliches Ding. Die Unterweisung eines tüchtigen deutschen Meisters hat er nie genossen. Die ihn auf dem Lande oder im Städtchen Güstrow in die Musik einführten, können nur unsolide Dilettanten oder Musikanten aller-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/373>, abgerufen am 27.08.2024.