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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Versammlung deutscher Historiker in München

offen darüber aussprechen, ob sie die einfache Thatsachenkenntnis unsrer durch
die höhern Schulen hindurchgegangnen Stände bei ihrem Eintritt ins öffent¬
liche und politische Leben für ausreichend hält oder nicht. Es war nicht nötig,
statt einer klaren Antwort auf diese Frage um den pädagogischen Brei Herum¬
zugeheu und sich mit dem unnützen Problem zu beschäftigen, wozu die Ge¬
schichte überhaupt "dienen" könne oder solle. Sie dient überhaupt zu nichts,
wenn sie nicht eine ganz bestimmte Summe von Thatsachen zum Bewußtsein
gebracht hat.

Um die Kenntnis der Thatsachen, die dem politischen Menschen der Ge¬
genwart zu wissen nötig sind, darum handelt es sich. Für alle Unterrichts¬
fragen in der Geschichte vermag ich nur eines für maßgebend zu halten: Wird
der Zweck, eine möglichst große Kenntnis von Thatsachen zu vermitteln, er¬
reicht oder nicht? gelingt es, eine solche Reihe von Thatsachen zu überliefern,
die jemanden anregen, sich dann noch weiter über geschichtliche Thatsachen
zu unterrichten? Die Thatsachen der Geschichte unterscheiden sich von den
Thatsachen der Natur dadurch, daß diese durch Handlungen von Menschen
hervorgebracht worden sind. Das Interesse für den handelnden Menschen
wird also beim Unterricht in der Geschichte -- und ich spreche immer vom
Unterricht überhaupt, nicht etwa vom Unterricht ans dieser oder jener Stufe --
durch die Kenntnis der Thatsachen hervorgerufen werden. In dieser Erwägung
scheint mir alles zu liegen, was über Zwecke und Ziele des Unterrichts gesagt
werden kaun. Jede weitere Erwägung und Fragstellung und folglich auch die
des Histvrikertags kann zu nichts anderm als zu Mißverständnissen führen.

Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts in Bezug auf die Überlieferung
der Thatsachen ist gerade groß und schwierig genug. Man braucht sich wahr¬
lich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was durch die wahre Geschichte
uoch weiteres erreicht werden könne und solle. Ein geschichtlich gut unter¬
richteter Mensch hat mit der Kenntnis des thatsächlichen Verlaufs der Dinge
alle nötigen Mittel gewonnen, um denen entgegentreten zu können, die von
dem historischen Staat nichts wissen wollen. Man redet immer davon, daß eine
besondre Anweisung und eine lehrhafte Zurechtlegung der geschichtlichen Über¬
lieferungen nötig oder wünschenswert sei, um gegen die Feinde der Gesellschaft
auftreten zu tonnen. Nichts ist falscher als dies. Mit trefflichem Humor
wies in der Debatte Kropatscheck auf die Unwahrscheinliche hin, daß die
doktrinären Beigaben des Lehrers zur Geschichte stichhalten würden gegen¬
über dem Einfluß des Hauses und der Familie. Dies ist ganz richtig,
aber die lehrhafte Beigabe des Lehrers ist auch ganz unnötig und gleichgiltig.
So lange die Geschichte, wie es thatsächlich der Fall ist, nur zu erzählen
weiß, daß Diebe und Mörder gestraft und gehenkt worden sind, so wird sie
nicht zum Stehlen und Morden aufmuntern; der Lehrer mag dabei Philosophiren
über Leben und Eigentum, was ihm beliebt. Die Thatsache der Bestrafung


Die Versammlung deutscher Historiker in München

offen darüber aussprechen, ob sie die einfache Thatsachenkenntnis unsrer durch
die höhern Schulen hindurchgegangnen Stände bei ihrem Eintritt ins öffent¬
liche und politische Leben für ausreichend hält oder nicht. Es war nicht nötig,
statt einer klaren Antwort auf diese Frage um den pädagogischen Brei Herum¬
zugeheu und sich mit dem unnützen Problem zu beschäftigen, wozu die Ge¬
schichte überhaupt „dienen" könne oder solle. Sie dient überhaupt zu nichts,
wenn sie nicht eine ganz bestimmte Summe von Thatsachen zum Bewußtsein
gebracht hat.

Um die Kenntnis der Thatsachen, die dem politischen Menschen der Ge¬
genwart zu wissen nötig sind, darum handelt es sich. Für alle Unterrichts¬
fragen in der Geschichte vermag ich nur eines für maßgebend zu halten: Wird
der Zweck, eine möglichst große Kenntnis von Thatsachen zu vermitteln, er¬
reicht oder nicht? gelingt es, eine solche Reihe von Thatsachen zu überliefern,
die jemanden anregen, sich dann noch weiter über geschichtliche Thatsachen
zu unterrichten? Die Thatsachen der Geschichte unterscheiden sich von den
Thatsachen der Natur dadurch, daß diese durch Handlungen von Menschen
hervorgebracht worden sind. Das Interesse für den handelnden Menschen
wird also beim Unterricht in der Geschichte — und ich spreche immer vom
Unterricht überhaupt, nicht etwa vom Unterricht ans dieser oder jener Stufe —
durch die Kenntnis der Thatsachen hervorgerufen werden. In dieser Erwägung
scheint mir alles zu liegen, was über Zwecke und Ziele des Unterrichts gesagt
werden kaun. Jede weitere Erwägung und Fragstellung und folglich auch die
des Histvrikertags kann zu nichts anderm als zu Mißverständnissen führen.

Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts in Bezug auf die Überlieferung
der Thatsachen ist gerade groß und schwierig genug. Man braucht sich wahr¬
lich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was durch die wahre Geschichte
uoch weiteres erreicht werden könne und solle. Ein geschichtlich gut unter¬
richteter Mensch hat mit der Kenntnis des thatsächlichen Verlaufs der Dinge
alle nötigen Mittel gewonnen, um denen entgegentreten zu können, die von
dem historischen Staat nichts wissen wollen. Man redet immer davon, daß eine
besondre Anweisung und eine lehrhafte Zurechtlegung der geschichtlichen Über¬
lieferungen nötig oder wünschenswert sei, um gegen die Feinde der Gesellschaft
auftreten zu tonnen. Nichts ist falscher als dies. Mit trefflichem Humor
wies in der Debatte Kropatscheck auf die Unwahrscheinliche hin, daß die
doktrinären Beigaben des Lehrers zur Geschichte stichhalten würden gegen¬
über dem Einfluß des Hauses und der Familie. Dies ist ganz richtig,
aber die lehrhafte Beigabe des Lehrers ist auch ganz unnötig und gleichgiltig.
So lange die Geschichte, wie es thatsächlich der Fall ist, nur zu erzählen
weiß, daß Diebe und Mörder gestraft und gehenkt worden sind, so wird sie
nicht zum Stehlen und Morden aufmuntern; der Lehrer mag dabei Philosophiren
über Leben und Eigentum, was ihm beliebt. Die Thatsache der Bestrafung


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[0371] Die Versammlung deutscher Historiker in München offen darüber aussprechen, ob sie die einfache Thatsachenkenntnis unsrer durch die höhern Schulen hindurchgegangnen Stände bei ihrem Eintritt ins öffent¬ liche und politische Leben für ausreichend hält oder nicht. Es war nicht nötig, statt einer klaren Antwort auf diese Frage um den pädagogischen Brei Herum¬ zugeheu und sich mit dem unnützen Problem zu beschäftigen, wozu die Ge¬ schichte überhaupt „dienen" könne oder solle. Sie dient überhaupt zu nichts, wenn sie nicht eine ganz bestimmte Summe von Thatsachen zum Bewußtsein gebracht hat. Um die Kenntnis der Thatsachen, die dem politischen Menschen der Ge¬ genwart zu wissen nötig sind, darum handelt es sich. Für alle Unterrichts¬ fragen in der Geschichte vermag ich nur eines für maßgebend zu halten: Wird der Zweck, eine möglichst große Kenntnis von Thatsachen zu vermitteln, er¬ reicht oder nicht? gelingt es, eine solche Reihe von Thatsachen zu überliefern, die jemanden anregen, sich dann noch weiter über geschichtliche Thatsachen zu unterrichten? Die Thatsachen der Geschichte unterscheiden sich von den Thatsachen der Natur dadurch, daß diese durch Handlungen von Menschen hervorgebracht worden sind. Das Interesse für den handelnden Menschen wird also beim Unterricht in der Geschichte — und ich spreche immer vom Unterricht überhaupt, nicht etwa vom Unterricht ans dieser oder jener Stufe — durch die Kenntnis der Thatsachen hervorgerufen werden. In dieser Erwägung scheint mir alles zu liegen, was über Zwecke und Ziele des Unterrichts gesagt werden kaun. Jede weitere Erwägung und Fragstellung und folglich auch die des Histvrikertags kann zu nichts anderm als zu Mißverständnissen führen. Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts in Bezug auf die Überlieferung der Thatsachen ist gerade groß und schwierig genug. Man braucht sich wahr¬ lich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was durch die wahre Geschichte uoch weiteres erreicht werden könne und solle. Ein geschichtlich gut unter¬ richteter Mensch hat mit der Kenntnis des thatsächlichen Verlaufs der Dinge alle nötigen Mittel gewonnen, um denen entgegentreten zu können, die von dem historischen Staat nichts wissen wollen. Man redet immer davon, daß eine besondre Anweisung und eine lehrhafte Zurechtlegung der geschichtlichen Über¬ lieferungen nötig oder wünschenswert sei, um gegen die Feinde der Gesellschaft auftreten zu tonnen. Nichts ist falscher als dies. Mit trefflichem Humor wies in der Debatte Kropatscheck auf die Unwahrscheinliche hin, daß die doktrinären Beigaben des Lehrers zur Geschichte stichhalten würden gegen¬ über dem Einfluß des Hauses und der Familie. Dies ist ganz richtig, aber die lehrhafte Beigabe des Lehrers ist auch ganz unnötig und gleichgiltig. So lange die Geschichte, wie es thatsächlich der Fall ist, nur zu erzählen weiß, daß Diebe und Mörder gestraft und gehenkt worden sind, so wird sie nicht zum Stehlen und Morden aufmuntern; der Lehrer mag dabei Philosophiren über Leben und Eigentum, was ihm beliebt. Die Thatsache der Bestrafung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/371>, abgerufen am 27.08.2024.