Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist auch ganz unmöglich, in den paar Stunden, die dem Geschichtsunter¬
richt jetzt gewährt sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Ge¬
schichte in dem ungeheuern Umfang eines 3000jährigen Zeitraums von An¬
fang bis zu Ende eingetrichtert werden soll. Früher wurde die mangelhafte
Schulbildung in der Geschichte durch Universitätsvorlesungen ergänzt. Jeder
gebildete Mann in Deutschland erinnerte sich mit Interesse der anregenden
Geschichtskollegien aus seiner Studentenzeit. Jetzt ist das anders geworden.
Kein Fachstudent hat zu dergleichen mehr Zeit. Ich hatte erwartet, daß die
Historikerversammlung ein Interesse sür meine schon bei frühern Gelegenheiten
veröffentlichten statistischen Beobachtungen über das Studium der Geschichte
an den Universitäten an den Tag legen würde. Ich hätte mich gefreut, eine
recht scharfe Widerlegung zu finden. Das ist aber von keiner Seite geschehen,
und ich bleibe daher einstweilen bei meiner Behauptung, daß der gebildete
deutsche Mann, d. h. der Geistliche, der Beamte, der Advokat, der Arzt, der
Baumeister, seine gesandte historische Bildung, so weit sie ihm überhaupt durch
Unterricht vermittelt worden ist, ausschließlich von der Schule hat.

Es ist ja nun eine mißliche Sache, sich in Erörterungen darüber ein¬
zulassen, was an Kenntnissen auf der Schule hätte erworben sein müssen; ich
wage das nicht, da ich kein Schulmann bin. Sicher aber darf ich Zustim¬
mung zu der Ansicht erwarten, daß es notwendig sei, ehe man sich über die
großen Fragen des Geistes, der Richtung und der Ziele alles Unterrichts ver¬
nehme,? läßt, sich ein Bild davon zu machen, was überhaupt an thatsächlicher
Kenntnis vorhanden sein sollte. Und da trete ich wahrlich mit bescheidnen
Forderungen an den Gebildeten heran. Um überhaupt ein historisches Interesse
im spätern Leben entfalten zu können, ist bei der Natur geschichtlicher Dinge
-- das wird doch niemand leugnen -- eine gewisse positive Grundlage nötig.
Ich denke also, man müßte z. B. die Reihe der deutschen Kaiser einigermaßen
als festes Gerippe des Wissens aus der Schule mit ins Leben herübernehmen.
Die neuere Geschichte ohne die englischen und französischen Könige, ihre Schick¬
sale und Unternehmungen ist ein Schwert ohne Griff und ohne Klinge. Von
Spanien, Schweden und Polen, von Rußland und der Türkei -- darf man
von einer Kenntnis ihrer Geschichte in unsern Schulen überhaupt reden?

Man wird mich hoffentlich verstehen, es ist ein unerquickliches Thema,
das ich gern mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecke. Ich hätte auch
gar nichts dagegen, wenn mau der Ansicht Nitzsches wäre, der den Nachteil
geschichtlichen Wissens für größer hält als deu Nutzen und meint, daß wenigstens
eine Zeit lang die Gegenwart die ganze Sache leichten Herzens über Bord
werfen könnte. Aber wenn auch diese Meinung von dem Historikertag nicht
unterstützt werden sollte, so hätte man doch die Hemd aufs Herz legen und die
Dinge beim rechten Namen nennen sollen. Eine Versammlung von hundert
Geschichtsgelehrten durfte sich vor der Nation und den Unterrichtsverwaltnngen


Grenzboten N, 1893 46

Es ist auch ganz unmöglich, in den paar Stunden, die dem Geschichtsunter¬
richt jetzt gewährt sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Ge¬
schichte in dem ungeheuern Umfang eines 3000jährigen Zeitraums von An¬
fang bis zu Ende eingetrichtert werden soll. Früher wurde die mangelhafte
Schulbildung in der Geschichte durch Universitätsvorlesungen ergänzt. Jeder
gebildete Mann in Deutschland erinnerte sich mit Interesse der anregenden
Geschichtskollegien aus seiner Studentenzeit. Jetzt ist das anders geworden.
Kein Fachstudent hat zu dergleichen mehr Zeit. Ich hatte erwartet, daß die
Historikerversammlung ein Interesse sür meine schon bei frühern Gelegenheiten
veröffentlichten statistischen Beobachtungen über das Studium der Geschichte
an den Universitäten an den Tag legen würde. Ich hätte mich gefreut, eine
recht scharfe Widerlegung zu finden. Das ist aber von keiner Seite geschehen,
und ich bleibe daher einstweilen bei meiner Behauptung, daß der gebildete
deutsche Mann, d. h. der Geistliche, der Beamte, der Advokat, der Arzt, der
Baumeister, seine gesandte historische Bildung, so weit sie ihm überhaupt durch
Unterricht vermittelt worden ist, ausschließlich von der Schule hat.

Es ist ja nun eine mißliche Sache, sich in Erörterungen darüber ein¬
zulassen, was an Kenntnissen auf der Schule hätte erworben sein müssen; ich
wage das nicht, da ich kein Schulmann bin. Sicher aber darf ich Zustim¬
mung zu der Ansicht erwarten, daß es notwendig sei, ehe man sich über die
großen Fragen des Geistes, der Richtung und der Ziele alles Unterrichts ver¬
nehme,? läßt, sich ein Bild davon zu machen, was überhaupt an thatsächlicher
Kenntnis vorhanden sein sollte. Und da trete ich wahrlich mit bescheidnen
Forderungen an den Gebildeten heran. Um überhaupt ein historisches Interesse
im spätern Leben entfalten zu können, ist bei der Natur geschichtlicher Dinge
— das wird doch niemand leugnen — eine gewisse positive Grundlage nötig.
Ich denke also, man müßte z. B. die Reihe der deutschen Kaiser einigermaßen
als festes Gerippe des Wissens aus der Schule mit ins Leben herübernehmen.
Die neuere Geschichte ohne die englischen und französischen Könige, ihre Schick¬
sale und Unternehmungen ist ein Schwert ohne Griff und ohne Klinge. Von
Spanien, Schweden und Polen, von Rußland und der Türkei — darf man
von einer Kenntnis ihrer Geschichte in unsern Schulen überhaupt reden?

Man wird mich hoffentlich verstehen, es ist ein unerquickliches Thema,
das ich gern mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecke. Ich hätte auch
gar nichts dagegen, wenn mau der Ansicht Nitzsches wäre, der den Nachteil
geschichtlichen Wissens für größer hält als deu Nutzen und meint, daß wenigstens
eine Zeit lang die Gegenwart die ganze Sache leichten Herzens über Bord
werfen könnte. Aber wenn auch diese Meinung von dem Historikertag nicht
unterstützt werden sollte, so hätte man doch die Hemd aufs Herz legen und die
Dinge beim rechten Namen nennen sollen. Eine Versammlung von hundert
Geschichtsgelehrten durfte sich vor der Nation und den Unterrichtsverwaltnngen


Grenzboten N, 1893 46
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0370" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214825"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434"> Es ist auch ganz unmöglich, in den paar Stunden, die dem Geschichtsunter¬<lb/>
richt jetzt gewährt sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Ge¬<lb/>
schichte in dem ungeheuern Umfang eines 3000jährigen Zeitraums von An¬<lb/>
fang bis zu Ende eingetrichtert werden soll. Früher wurde die mangelhafte<lb/>
Schulbildung in der Geschichte durch Universitätsvorlesungen ergänzt. Jeder<lb/>
gebildete Mann in Deutschland erinnerte sich mit Interesse der anregenden<lb/>
Geschichtskollegien aus seiner Studentenzeit. Jetzt ist das anders geworden.<lb/>
Kein Fachstudent hat zu dergleichen mehr Zeit. Ich hatte erwartet, daß die<lb/>
Historikerversammlung ein Interesse sür meine schon bei frühern Gelegenheiten<lb/>
veröffentlichten statistischen Beobachtungen über das Studium der Geschichte<lb/>
an den Universitäten an den Tag legen würde. Ich hätte mich gefreut, eine<lb/>
recht scharfe Widerlegung zu finden. Das ist aber von keiner Seite geschehen,<lb/>
und ich bleibe daher einstweilen bei meiner Behauptung, daß der gebildete<lb/>
deutsche Mann, d. h. der Geistliche, der Beamte, der Advokat, der Arzt, der<lb/>
Baumeister, seine gesandte historische Bildung, so weit sie ihm überhaupt durch<lb/>
Unterricht vermittelt worden ist, ausschließlich von der Schule hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1436"> Es ist ja nun eine mißliche Sache, sich in Erörterungen darüber ein¬<lb/>
zulassen, was an Kenntnissen auf der Schule hätte erworben sein müssen; ich<lb/>
wage das nicht, da ich kein Schulmann bin. Sicher aber darf ich Zustim¬<lb/>
mung zu der Ansicht erwarten, daß es notwendig sei, ehe man sich über die<lb/>
großen Fragen des Geistes, der Richtung und der Ziele alles Unterrichts ver¬<lb/>
nehme,? läßt, sich ein Bild davon zu machen, was überhaupt an thatsächlicher<lb/>
Kenntnis vorhanden sein sollte. Und da trete ich wahrlich mit bescheidnen<lb/>
Forderungen an den Gebildeten heran. Um überhaupt ein historisches Interesse<lb/>
im spätern Leben entfalten zu können, ist bei der Natur geschichtlicher Dinge<lb/>
&#x2014; das wird doch niemand leugnen &#x2014; eine gewisse positive Grundlage nötig.<lb/>
Ich denke also, man müßte z. B. die Reihe der deutschen Kaiser einigermaßen<lb/>
als festes Gerippe des Wissens aus der Schule mit ins Leben herübernehmen.<lb/>
Die neuere Geschichte ohne die englischen und französischen Könige, ihre Schick¬<lb/>
sale und Unternehmungen ist ein Schwert ohne Griff und ohne Klinge. Von<lb/>
Spanien, Schweden und Polen, von Rußland und der Türkei &#x2014; darf man<lb/>
von einer Kenntnis ihrer Geschichte in unsern Schulen überhaupt reden?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1437" next="#ID_1438"> Man wird mich hoffentlich verstehen, es ist ein unerquickliches Thema,<lb/>
das ich gern mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecke. Ich hätte auch<lb/>
gar nichts dagegen, wenn mau der Ansicht Nitzsches wäre, der den Nachteil<lb/>
geschichtlichen Wissens für größer hält als deu Nutzen und meint, daß wenigstens<lb/>
eine Zeit lang die Gegenwart die ganze Sache leichten Herzens über Bord<lb/>
werfen könnte. Aber wenn auch diese Meinung von dem Historikertag nicht<lb/>
unterstützt werden sollte, so hätte man doch die Hemd aufs Herz legen und die<lb/>
Dinge beim rechten Namen nennen sollen. Eine Versammlung von hundert<lb/>
Geschichtsgelehrten durfte sich vor der Nation und den Unterrichtsverwaltnngen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten N, 1893 46</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0370] Es ist auch ganz unmöglich, in den paar Stunden, die dem Geschichtsunter¬ richt jetzt gewährt sind, etwas erkleckliches zu leisten, zumal wenn die Ge¬ schichte in dem ungeheuern Umfang eines 3000jährigen Zeitraums von An¬ fang bis zu Ende eingetrichtert werden soll. Früher wurde die mangelhafte Schulbildung in der Geschichte durch Universitätsvorlesungen ergänzt. Jeder gebildete Mann in Deutschland erinnerte sich mit Interesse der anregenden Geschichtskollegien aus seiner Studentenzeit. Jetzt ist das anders geworden. Kein Fachstudent hat zu dergleichen mehr Zeit. Ich hatte erwartet, daß die Historikerversammlung ein Interesse sür meine schon bei frühern Gelegenheiten veröffentlichten statistischen Beobachtungen über das Studium der Geschichte an den Universitäten an den Tag legen würde. Ich hätte mich gefreut, eine recht scharfe Widerlegung zu finden. Das ist aber von keiner Seite geschehen, und ich bleibe daher einstweilen bei meiner Behauptung, daß der gebildete deutsche Mann, d. h. der Geistliche, der Beamte, der Advokat, der Arzt, der Baumeister, seine gesandte historische Bildung, so weit sie ihm überhaupt durch Unterricht vermittelt worden ist, ausschließlich von der Schule hat. Es ist ja nun eine mißliche Sache, sich in Erörterungen darüber ein¬ zulassen, was an Kenntnissen auf der Schule hätte erworben sein müssen; ich wage das nicht, da ich kein Schulmann bin. Sicher aber darf ich Zustim¬ mung zu der Ansicht erwarten, daß es notwendig sei, ehe man sich über die großen Fragen des Geistes, der Richtung und der Ziele alles Unterrichts ver¬ nehme,? läßt, sich ein Bild davon zu machen, was überhaupt an thatsächlicher Kenntnis vorhanden sein sollte. Und da trete ich wahrlich mit bescheidnen Forderungen an den Gebildeten heran. Um überhaupt ein historisches Interesse im spätern Leben entfalten zu können, ist bei der Natur geschichtlicher Dinge — das wird doch niemand leugnen — eine gewisse positive Grundlage nötig. Ich denke also, man müßte z. B. die Reihe der deutschen Kaiser einigermaßen als festes Gerippe des Wissens aus der Schule mit ins Leben herübernehmen. Die neuere Geschichte ohne die englischen und französischen Könige, ihre Schick¬ sale und Unternehmungen ist ein Schwert ohne Griff und ohne Klinge. Von Spanien, Schweden und Polen, von Rußland und der Türkei — darf man von einer Kenntnis ihrer Geschichte in unsern Schulen überhaupt reden? Man wird mich hoffentlich verstehen, es ist ein unerquickliches Thema, das ich gern mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecke. Ich hätte auch gar nichts dagegen, wenn mau der Ansicht Nitzsches wäre, der den Nachteil geschichtlichen Wissens für größer hält als deu Nutzen und meint, daß wenigstens eine Zeit lang die Gegenwart die ganze Sache leichten Herzens über Bord werfen könnte. Aber wenn auch diese Meinung von dem Historikertag nicht unterstützt werden sollte, so hätte man doch die Hemd aufs Herz legen und die Dinge beim rechten Namen nennen sollen. Eine Versammlung von hundert Geschichtsgelehrten durfte sich vor der Nation und den Unterrichtsverwaltnngen Grenzboten N, 1893 46

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/370
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/370>, abgerufen am 27.08.2024.