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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Pessimismus

seiner eignen war, und noch dazu war er damals auf Reisen und mit ganz
andern Dingen beschäftigt. Er zog also die Sache hin. Es ist nun artig an¬
zusehen, wie der junge düstre Feuerkopf vor Ungeduld und Ingrimm halb toll
wird, sich aber die äußerste Mühe giebt, seine Leidenschaft so weit zu zügeln,
daß seine Sarkasmen nicht in offne Grobheiten ausarten, der Alte aber die
Sache seiner Gewohnheit nach gelassen und "bequem" behandelt und thut, als
sähe er die Grimassen des unterdrückten Leibwehs gar nicht. Ferne bleibe
es von mir, schreibt Schopenhauer einmal, "gegen Sie nur auch nur in Ge¬
danken einen Vorwurf zu erlauben. Denn Sie haben der gesamten Mensch¬
heit, der lebenden und der kommenden, so vieles und großes geleistet, daß
alle und jeder, in dieser allgemeinen Schuld der Menschheit an Sie mit als
Schuldner begriffen sind, daher kein einzelner in irgend einer Art je einen
Anspruch an Sie zu machen hat. Aber wahrlich, um mich bei solcher Ge¬
legenheit in solcher Gesinnung zu finden, muß man Goethe oder Kant sein:
kein andrer von denen, die mit mir zugleich die Sonne sahen."

Ganz richtig hat Schopenhauer später Meclamsche Ausgabe seiner Werke
5, 1W) Goethes Versälle" in wissenschaftlichen Untersuchungen folgendermaßen
charakterisirt. "Goethes Trieb war, alles rein objektiv aufzufassen und wieder¬
zugeben: damit aber war er dann sich bewußt, das seinige gethan zu haben,
und vermochte gar nicht, darüber hinauszusehen- Daher kommt es, daß wir
in seiner Farbenlehre bisweilen eine bloße Beschreibung finden, wo wir eine
Erklärung erwarten... - Ein richtiges "so ists" war ihm überall das letzte
Ziel; ohne daß ihn nach einem "so muß es sein" verlangt hätte. Konnte er
doch sogar spotten:


Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist euch, es müßt so sein,

Dafür nun freilich war er eben ein Poet und kein Philosoph, d. h. von dem
Streben nach den letzten Gründen und dem innersten Zusammenhange der
Dinge nicht beseelt -- oder besessen, wie man will." Seine eigne entgegen¬
gesetzte Natur schildert Schopenhauer in einem Briefe an Goethe (11. No¬
vember 1815) mit folgenden Worten: "Besonders erfreulich aber ist es mir,
daß Sie in diesem Lobe selbst, mit der Ihnen eignen Divination, gerade wieder
den rechten Punkt getroffen haben, indem Sie nämlich die Treue und Red¬
lichkeit rühmen, mit der ich gearbeitet habe. Nicht nur was ich in diesem
beschränkten Felde gethan habe, sondern was ich in Zukunft zu leisten zuver¬
sichtlich hoffe, wird einzig und allein dieser Treue und Redlichkeit zu verdanken
sein. Denn diese Eigenschaften, die ursprünglich nur das Praktische betreffen,
sind bei mir in das Theoretische und Jntellektuale übergegangen: ich kann
nicht rasten, kann mich nicht zufrieden geben, so lange irgend ein Teil eines
von mir betrachteten Gegenstandes noch nicht reine, deutliche Kontur zeigt. . > >
Man fand die Wahrheit nicht, bloß darum, daß mau sie nicht suchte, sondern


Zur Naturgeschichte des Pessimismus

seiner eignen war, und noch dazu war er damals auf Reisen und mit ganz
andern Dingen beschäftigt. Er zog also die Sache hin. Es ist nun artig an¬
zusehen, wie der junge düstre Feuerkopf vor Ungeduld und Ingrimm halb toll
wird, sich aber die äußerste Mühe giebt, seine Leidenschaft so weit zu zügeln,
daß seine Sarkasmen nicht in offne Grobheiten ausarten, der Alte aber die
Sache seiner Gewohnheit nach gelassen und „bequem" behandelt und thut, als
sähe er die Grimassen des unterdrückten Leibwehs gar nicht. Ferne bleibe
es von mir, schreibt Schopenhauer einmal, „gegen Sie nur auch nur in Ge¬
danken einen Vorwurf zu erlauben. Denn Sie haben der gesamten Mensch¬
heit, der lebenden und der kommenden, so vieles und großes geleistet, daß
alle und jeder, in dieser allgemeinen Schuld der Menschheit an Sie mit als
Schuldner begriffen sind, daher kein einzelner in irgend einer Art je einen
Anspruch an Sie zu machen hat. Aber wahrlich, um mich bei solcher Ge¬
legenheit in solcher Gesinnung zu finden, muß man Goethe oder Kant sein:
kein andrer von denen, die mit mir zugleich die Sonne sahen."

Ganz richtig hat Schopenhauer später Meclamsche Ausgabe seiner Werke
5, 1W) Goethes Versälle» in wissenschaftlichen Untersuchungen folgendermaßen
charakterisirt. „Goethes Trieb war, alles rein objektiv aufzufassen und wieder¬
zugeben: damit aber war er dann sich bewußt, das seinige gethan zu haben,
und vermochte gar nicht, darüber hinauszusehen- Daher kommt es, daß wir
in seiner Farbenlehre bisweilen eine bloße Beschreibung finden, wo wir eine
Erklärung erwarten... - Ein richtiges »so ists« war ihm überall das letzte
Ziel; ohne daß ihn nach einem »so muß es sein« verlangt hätte. Konnte er
doch sogar spotten:


Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist euch, es müßt so sein,

Dafür nun freilich war er eben ein Poet und kein Philosoph, d. h. von dem
Streben nach den letzten Gründen und dem innersten Zusammenhange der
Dinge nicht beseelt — oder besessen, wie man will." Seine eigne entgegen¬
gesetzte Natur schildert Schopenhauer in einem Briefe an Goethe (11. No¬
vember 1815) mit folgenden Worten: „Besonders erfreulich aber ist es mir,
daß Sie in diesem Lobe selbst, mit der Ihnen eignen Divination, gerade wieder
den rechten Punkt getroffen haben, indem Sie nämlich die Treue und Red¬
lichkeit rühmen, mit der ich gearbeitet habe. Nicht nur was ich in diesem
beschränkten Felde gethan habe, sondern was ich in Zukunft zu leisten zuver¬
sichtlich hoffe, wird einzig und allein dieser Treue und Redlichkeit zu verdanken
sein. Denn diese Eigenschaften, die ursprünglich nur das Praktische betreffen,
sind bei mir in das Theoretische und Jntellektuale übergegangen: ich kann
nicht rasten, kann mich nicht zufrieden geben, so lange irgend ein Teil eines
von mir betrachteten Gegenstandes noch nicht reine, deutliche Kontur zeigt. . > >
Man fand die Wahrheit nicht, bloß darum, daß mau sie nicht suchte, sondern


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[0363] Zur Naturgeschichte des Pessimismus seiner eignen war, und noch dazu war er damals auf Reisen und mit ganz andern Dingen beschäftigt. Er zog also die Sache hin. Es ist nun artig an¬ zusehen, wie der junge düstre Feuerkopf vor Ungeduld und Ingrimm halb toll wird, sich aber die äußerste Mühe giebt, seine Leidenschaft so weit zu zügeln, daß seine Sarkasmen nicht in offne Grobheiten ausarten, der Alte aber die Sache seiner Gewohnheit nach gelassen und „bequem" behandelt und thut, als sähe er die Grimassen des unterdrückten Leibwehs gar nicht. Ferne bleibe es von mir, schreibt Schopenhauer einmal, „gegen Sie nur auch nur in Ge¬ danken einen Vorwurf zu erlauben. Denn Sie haben der gesamten Mensch¬ heit, der lebenden und der kommenden, so vieles und großes geleistet, daß alle und jeder, in dieser allgemeinen Schuld der Menschheit an Sie mit als Schuldner begriffen sind, daher kein einzelner in irgend einer Art je einen Anspruch an Sie zu machen hat. Aber wahrlich, um mich bei solcher Ge¬ legenheit in solcher Gesinnung zu finden, muß man Goethe oder Kant sein: kein andrer von denen, die mit mir zugleich die Sonne sahen." Ganz richtig hat Schopenhauer später Meclamsche Ausgabe seiner Werke 5, 1W) Goethes Versälle» in wissenschaftlichen Untersuchungen folgendermaßen charakterisirt. „Goethes Trieb war, alles rein objektiv aufzufassen und wieder¬ zugeben: damit aber war er dann sich bewußt, das seinige gethan zu haben, und vermochte gar nicht, darüber hinauszusehen- Daher kommt es, daß wir in seiner Farbenlehre bisweilen eine bloße Beschreibung finden, wo wir eine Erklärung erwarten... - Ein richtiges »so ists« war ihm überall das letzte Ziel; ohne daß ihn nach einem »so muß es sein« verlangt hätte. Konnte er doch sogar spotten: Der Philosoph, der tritt herein Und beweist euch, es müßt so sein, Dafür nun freilich war er eben ein Poet und kein Philosoph, d. h. von dem Streben nach den letzten Gründen und dem innersten Zusammenhange der Dinge nicht beseelt — oder besessen, wie man will." Seine eigne entgegen¬ gesetzte Natur schildert Schopenhauer in einem Briefe an Goethe (11. No¬ vember 1815) mit folgenden Worten: „Besonders erfreulich aber ist es mir, daß Sie in diesem Lobe selbst, mit der Ihnen eignen Divination, gerade wieder den rechten Punkt getroffen haben, indem Sie nämlich die Treue und Red¬ lichkeit rühmen, mit der ich gearbeitet habe. Nicht nur was ich in diesem beschränkten Felde gethan habe, sondern was ich in Zukunft zu leisten zuver¬ sichtlich hoffe, wird einzig und allein dieser Treue und Redlichkeit zu verdanken sein. Denn diese Eigenschaften, die ursprünglich nur das Praktische betreffen, sind bei mir in das Theoretische und Jntellektuale übergegangen: ich kann nicht rasten, kann mich nicht zufrieden geben, so lange irgend ein Teil eines von mir betrachteten Gegenstandes noch nicht reine, deutliche Kontur zeigt. . > > Man fand die Wahrheit nicht, bloß darum, daß mau sie nicht suchte, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/363>, abgerufen am 26.08.2024.