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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Pessimismus

die Kongenialität beider Männer zu wenig hervorgehoben, und erwähnt noch,
daß Fr. Pfalz in den Grenzboten (1888 IV S. 114 ff.) ans Goethe eine
Blumenlese von Anklängen an Schopenhauer veröffentlicht habe, um Schopen¬
hauers Wort von der wechselseitigen Belehrung zu belegen.

Der Briefwechsel zwischen beiden, den Schemann aufgenommen hat, wurde
durch die Farbenlehre veranlaßt. Schopenhauer war wie Goethe ein Gegner
der Newtonschen, von Huygens berichtigten Theorie und stellte dieser gegen¬
über, seinein Subjektivismus gemäß, um das Zustandekommen der Fnrben-
wahrnehmnngen zu erklären, die im Menschen liegende Mitursache, die Be¬
schaffenheit der Retina, in den Vordergrund. Im übrigen pflichtete er bis
auf kleine Abweichungen Goethen bei, dessen Lehre er erst wirklich begründet
zu haben glaubte. Es versteht sich, daß er seine eigne Theorie für die allein
richtige hielt, fest überzeugt war, sie werde schließlich über die zur Herrschaft
gelangte heutige Optik siegen, und dieser Überzeugung, wie es scheint, bis an
sein Lebensende treu geblieben ist. Vielleicht hat er den Sinn der heutigen
naturwissenschaftlichen Hypothesen überhaupt nicht durchschaut und sie gleich
manchen heute noch lebenden Philosophen für eine Art Metaphysik gehalten,
während sie weiter nichts sind als Hilfsmittel zum Rechnen. Der Kantische
Kritizismus hat die Anfertigung -- so darf man sich wohl ausdrücken --
solcher Hypothesen und das Sicheinleben in sie sehr erleichtert, indem er die Ge¬
lehrten an den Gedanken gewöhnte, daß die Körperwelt, sofern sie überhaupt
existirt, etwas von unsern Vorstellungen von ihr durchaus verschiednes und
unsrer Erkenntnis unzugängliches sei und wir sie uns demgemäß nach Be¬
dürfnis selbst konstruiren dürften. Wenn demnach der Physiker Körper- und
Ätheratome annimmt und die Ätheratome 392 bis 757 Billionen Schwin¬
gungen in der Sekunde vollführen läßt, so ist es nicht seine Meinung, damit
unser metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen. Dem ist mit dieser Annahme
gar nichts gedient, denn die Atome sind nicht allein unvorstellbar, sondern
ihr Begriff ist auch widerspruchsvoll und undenkbar. Darum braucht sich
aber der Physiker nicht zu kümmern; für ihn sowie für die Technik ist die
Hypothese richtig, wenn eine ans sie gebaute Berechnung durch das Eintreten
der vorausberechneten Erscheinung bestätigt wird.*)

Schopenhauer hatte von Dresden aus, wo er sich 1815 aufhielt, seine
Schrift über die Farbenlehre Goethen zur Durchsicht geschickt mit der Bitte,
bei ihrer Veröffentlichung Gevatter zu stehen und sie durch seine Empfehlung
in die Welt einzuführen. Das mochte dem Altmeister unbequem sein, weil
Schopenhauers Theorie doch nicht einfach eine Bestätigung oder Erläuterung



Eben da wir das geschrieben haben, lesen wir den Aufsatz vo" Paul Harms über
den naturwissenschaftlichen Unterricht in Heft 18 der Grenzboten. Darnach scheint der wahre
Sinn physikalischer Hypothesen nicht so ollgemein von den Lehrern der Naturwissenschaften
richtig verstanden zu werden, wie wir annahmen.
Grenzboten et 1893 45
Zur Naturgeschichte des Pessimismus

die Kongenialität beider Männer zu wenig hervorgehoben, und erwähnt noch,
daß Fr. Pfalz in den Grenzboten (1888 IV S. 114 ff.) ans Goethe eine
Blumenlese von Anklängen an Schopenhauer veröffentlicht habe, um Schopen¬
hauers Wort von der wechselseitigen Belehrung zu belegen.

Der Briefwechsel zwischen beiden, den Schemann aufgenommen hat, wurde
durch die Farbenlehre veranlaßt. Schopenhauer war wie Goethe ein Gegner
der Newtonschen, von Huygens berichtigten Theorie und stellte dieser gegen¬
über, seinein Subjektivismus gemäß, um das Zustandekommen der Fnrben-
wahrnehmnngen zu erklären, die im Menschen liegende Mitursache, die Be¬
schaffenheit der Retina, in den Vordergrund. Im übrigen pflichtete er bis
auf kleine Abweichungen Goethen bei, dessen Lehre er erst wirklich begründet
zu haben glaubte. Es versteht sich, daß er seine eigne Theorie für die allein
richtige hielt, fest überzeugt war, sie werde schließlich über die zur Herrschaft
gelangte heutige Optik siegen, und dieser Überzeugung, wie es scheint, bis an
sein Lebensende treu geblieben ist. Vielleicht hat er den Sinn der heutigen
naturwissenschaftlichen Hypothesen überhaupt nicht durchschaut und sie gleich
manchen heute noch lebenden Philosophen für eine Art Metaphysik gehalten,
während sie weiter nichts sind als Hilfsmittel zum Rechnen. Der Kantische
Kritizismus hat die Anfertigung — so darf man sich wohl ausdrücken —
solcher Hypothesen und das Sicheinleben in sie sehr erleichtert, indem er die Ge¬
lehrten an den Gedanken gewöhnte, daß die Körperwelt, sofern sie überhaupt
existirt, etwas von unsern Vorstellungen von ihr durchaus verschiednes und
unsrer Erkenntnis unzugängliches sei und wir sie uns demgemäß nach Be¬
dürfnis selbst konstruiren dürften. Wenn demnach der Physiker Körper- und
Ätheratome annimmt und die Ätheratome 392 bis 757 Billionen Schwin¬
gungen in der Sekunde vollführen läßt, so ist es nicht seine Meinung, damit
unser metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen. Dem ist mit dieser Annahme
gar nichts gedient, denn die Atome sind nicht allein unvorstellbar, sondern
ihr Begriff ist auch widerspruchsvoll und undenkbar. Darum braucht sich
aber der Physiker nicht zu kümmern; für ihn sowie für die Technik ist die
Hypothese richtig, wenn eine ans sie gebaute Berechnung durch das Eintreten
der vorausberechneten Erscheinung bestätigt wird.*)

Schopenhauer hatte von Dresden aus, wo er sich 1815 aufhielt, seine
Schrift über die Farbenlehre Goethen zur Durchsicht geschickt mit der Bitte,
bei ihrer Veröffentlichung Gevatter zu stehen und sie durch seine Empfehlung
in die Welt einzuführen. Das mochte dem Altmeister unbequem sein, weil
Schopenhauers Theorie doch nicht einfach eine Bestätigung oder Erläuterung



Eben da wir das geschrieben haben, lesen wir den Aufsatz vo« Paul Harms über
den naturwissenschaftlichen Unterricht in Heft 18 der Grenzboten. Darnach scheint der wahre
Sinn physikalischer Hypothesen nicht so ollgemein von den Lehrern der Naturwissenschaften
richtig verstanden zu werden, wie wir annahmen.
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[0362] Zur Naturgeschichte des Pessimismus die Kongenialität beider Männer zu wenig hervorgehoben, und erwähnt noch, daß Fr. Pfalz in den Grenzboten (1888 IV S. 114 ff.) ans Goethe eine Blumenlese von Anklängen an Schopenhauer veröffentlicht habe, um Schopen¬ hauers Wort von der wechselseitigen Belehrung zu belegen. Der Briefwechsel zwischen beiden, den Schemann aufgenommen hat, wurde durch die Farbenlehre veranlaßt. Schopenhauer war wie Goethe ein Gegner der Newtonschen, von Huygens berichtigten Theorie und stellte dieser gegen¬ über, seinein Subjektivismus gemäß, um das Zustandekommen der Fnrben- wahrnehmnngen zu erklären, die im Menschen liegende Mitursache, die Be¬ schaffenheit der Retina, in den Vordergrund. Im übrigen pflichtete er bis auf kleine Abweichungen Goethen bei, dessen Lehre er erst wirklich begründet zu haben glaubte. Es versteht sich, daß er seine eigne Theorie für die allein richtige hielt, fest überzeugt war, sie werde schließlich über die zur Herrschaft gelangte heutige Optik siegen, und dieser Überzeugung, wie es scheint, bis an sein Lebensende treu geblieben ist. Vielleicht hat er den Sinn der heutigen naturwissenschaftlichen Hypothesen überhaupt nicht durchschaut und sie gleich manchen heute noch lebenden Philosophen für eine Art Metaphysik gehalten, während sie weiter nichts sind als Hilfsmittel zum Rechnen. Der Kantische Kritizismus hat die Anfertigung — so darf man sich wohl ausdrücken — solcher Hypothesen und das Sicheinleben in sie sehr erleichtert, indem er die Ge¬ lehrten an den Gedanken gewöhnte, daß die Körperwelt, sofern sie überhaupt existirt, etwas von unsern Vorstellungen von ihr durchaus verschiednes und unsrer Erkenntnis unzugängliches sei und wir sie uns demgemäß nach Be¬ dürfnis selbst konstruiren dürften. Wenn demnach der Physiker Körper- und Ätheratome annimmt und die Ätheratome 392 bis 757 Billionen Schwin¬ gungen in der Sekunde vollführen läßt, so ist es nicht seine Meinung, damit unser metaphysisches Bedürfnis zu befriedigen. Dem ist mit dieser Annahme gar nichts gedient, denn die Atome sind nicht allein unvorstellbar, sondern ihr Begriff ist auch widerspruchsvoll und undenkbar. Darum braucht sich aber der Physiker nicht zu kümmern; für ihn sowie für die Technik ist die Hypothese richtig, wenn eine ans sie gebaute Berechnung durch das Eintreten der vorausberechneten Erscheinung bestätigt wird.*) Schopenhauer hatte von Dresden aus, wo er sich 1815 aufhielt, seine Schrift über die Farbenlehre Goethen zur Durchsicht geschickt mit der Bitte, bei ihrer Veröffentlichung Gevatter zu stehen und sie durch seine Empfehlung in die Welt einzuführen. Das mochte dem Altmeister unbequem sein, weil Schopenhauers Theorie doch nicht einfach eine Bestätigung oder Erläuterung Eben da wir das geschrieben haben, lesen wir den Aufsatz vo« Paul Harms über den naturwissenschaftlichen Unterricht in Heft 18 der Grenzboten. Darnach scheint der wahre Sinn physikalischer Hypothesen nicht so ollgemein von den Lehrern der Naturwissenschaften richtig verstanden zu werden, wie wir annahmen. Grenzboten et 1893 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/362>, abgerufen am 26.08.2024.