Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.müssen, vielleicht sogar auswendig lernen müssen, von denen die sechste lind Aber wenn der Sozialdemokratie das fremde Wort gefällt, was geht das die Nun, amtlich oder nicht, es giebt leider so etwas wie ein Proletariat und Das Proletariat hat einen Kopf, der sich den Mund nicht verbieten läßt, müssen, vielleicht sogar auswendig lernen müssen, von denen die sechste lind Aber wenn der Sozialdemokratie das fremde Wort gefällt, was geht das die Nun, amtlich oder nicht, es giebt leider so etwas wie ein Proletariat und Das Proletariat hat einen Kopf, der sich den Mund nicht verbieten läßt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214492"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_76" prev="#ID_75"> müssen, vielleicht sogar auswendig lernen müssen, von denen die sechste lind<lb/> zahlreichste wunderbarerweise nur eine einzige Centurie gegenüber hundert und<lb/> einigen neunzig andern bildete. In diese Klasse kamen alle die gemeinen Leute<lb/> hinein, die nicht genug „Asse" hatten, die „dem Staate nur mit ihrer Nach¬<lb/> kommenschaft, nicht mit ihrem Vermögen dienten." Aber das ist auch fast die<lb/> einzige passende Gelegenheit, wo das Proletariat in der Weltgeschichte unbe¬<lb/> denklich allgemeine Anerkennung findet. Heute hört die ,,bessere Gesellschaft"<lb/> zwar wieder von Klassen und Proletariern, aber heute hat die Sache einen<lb/> höchst unangenehmen unamtlichen Beigeschmack: die böse Sozialdemokratie hat<lb/> sich des häßlichen Worts für ihre Parteizwecke bemächtigt, sie redet den Leuten<lb/> ein, daß sie Proletarier seien, sie ist schuld an dem Wort. Ans ihre Fahne<lb/> hat sie den Schlachtruf geschrieben, der am Ende des „Kommunistischen Mani¬<lb/> fest" stand: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!</p><lb/> <p xml:id="ID_77"> Aber wenn der Sozialdemokratie das fremde Wort gefällt, was geht das die<lb/> „bessere Gesellschaft," die Geldgesellschaft, an? Es geht sie ebenso wenig etwas an,<lb/> wie daß die Sozialdemokratie sie als „Bourgeoisie" bezeichnet. Wenn man nach<lb/> einer anerkannten Gesamtbezeichnnng sür die große Masse sucht, die ihre „Hände"<lb/> und etwas Münze hat, kommt man ebenso sehr in Verlegenheit, als wenn<lb/> man sich nach einer solchen für die feinen Leute umsieht, die reichliche Mittel<lb/> und wenig Händearbeit haben, die mit Leib und Seele Kapitalisten sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_78"> Nun, amtlich oder nicht, es giebt leider so etwas wie ein Proletariat und<lb/> eine Bourgeoisie. ES giebt sie, obwohl arm und reich vor denselben Gerichten<lb/> Recht erhalte», und obwohl alle „Staatsbürger" je einen Stimmzettel bei<lb/> strengem Verbot selbst von äußern unterscheidenden Merkmalen in die gleiche<lb/> Wahlurne legen. Es giebt sie, obwohl der heutige Staat weder mit dem<lb/> Proletariat noch mit der Bourgeoisie eins sein will, weil er ohne beide zu¬<lb/> sammen nicht leben kann. Er möchte die streitbare Gegnerschaft, in der sie<lb/> sich gegenüberstelln, am liebsten gänzlich leugnen, weil sie ihm die recht un¬<lb/> bequeme und manchmal recht undankbare Rolle des ehrlichen Vermittlers auf¬<lb/> erlegt. Es giebt eine arme Welt der Entbehrung und eine reiche Welt des<lb/> Überflusses, die sich beide in vielen Stücken recht schlecht verstehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_79" next="#ID_80"> Das Proletariat hat einen Kopf, der sich den Mund nicht verbieten läßt,<lb/> der redet, schreit und singt. Das Proletariat hat seine Redner, Schreier und<lb/> Sänger. Das Proletariat hat auch seine Dichter, die ihm seine Lieder machen.<lb/> Der Kopf — die Sozialdemokratie behauptet, dieser Kopf zu sein — sieht<lb/> nicht immer schön aus, und die Lieder und Gedichte sind auch nicht durchweg<lb/> schön. Aber sie sind nicht so schlecht, wie sie von der Gegnerin, der Bour¬<lb/> geoisie, gemacht werden. Man hat das Proletariat so lange sich selber über¬<lb/> lassen, daß man sich nun nicht wundern darf, wenn es sich möglichst alles<lb/> selbst zu schaffen unternimmt, seinen Staat, seine Ideale und seine Kunst. Der<lb/> Proletarier ist nichts und sucht etwas zu werde». Die Sozialdemokratie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0036]
müssen, vielleicht sogar auswendig lernen müssen, von denen die sechste lind
zahlreichste wunderbarerweise nur eine einzige Centurie gegenüber hundert und
einigen neunzig andern bildete. In diese Klasse kamen alle die gemeinen Leute
hinein, die nicht genug „Asse" hatten, die „dem Staate nur mit ihrer Nach¬
kommenschaft, nicht mit ihrem Vermögen dienten." Aber das ist auch fast die
einzige passende Gelegenheit, wo das Proletariat in der Weltgeschichte unbe¬
denklich allgemeine Anerkennung findet. Heute hört die ,,bessere Gesellschaft"
zwar wieder von Klassen und Proletariern, aber heute hat die Sache einen
höchst unangenehmen unamtlichen Beigeschmack: die böse Sozialdemokratie hat
sich des häßlichen Worts für ihre Parteizwecke bemächtigt, sie redet den Leuten
ein, daß sie Proletarier seien, sie ist schuld an dem Wort. Ans ihre Fahne
hat sie den Schlachtruf geschrieben, der am Ende des „Kommunistischen Mani¬
fest" stand: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Aber wenn der Sozialdemokratie das fremde Wort gefällt, was geht das die
„bessere Gesellschaft," die Geldgesellschaft, an? Es geht sie ebenso wenig etwas an,
wie daß die Sozialdemokratie sie als „Bourgeoisie" bezeichnet. Wenn man nach
einer anerkannten Gesamtbezeichnnng sür die große Masse sucht, die ihre „Hände"
und etwas Münze hat, kommt man ebenso sehr in Verlegenheit, als wenn
man sich nach einer solchen für die feinen Leute umsieht, die reichliche Mittel
und wenig Händearbeit haben, die mit Leib und Seele Kapitalisten sind.
Nun, amtlich oder nicht, es giebt leider so etwas wie ein Proletariat und
eine Bourgeoisie. ES giebt sie, obwohl arm und reich vor denselben Gerichten
Recht erhalte», und obwohl alle „Staatsbürger" je einen Stimmzettel bei
strengem Verbot selbst von äußern unterscheidenden Merkmalen in die gleiche
Wahlurne legen. Es giebt sie, obwohl der heutige Staat weder mit dem
Proletariat noch mit der Bourgeoisie eins sein will, weil er ohne beide zu¬
sammen nicht leben kann. Er möchte die streitbare Gegnerschaft, in der sie
sich gegenüberstelln, am liebsten gänzlich leugnen, weil sie ihm die recht un¬
bequeme und manchmal recht undankbare Rolle des ehrlichen Vermittlers auf¬
erlegt. Es giebt eine arme Welt der Entbehrung und eine reiche Welt des
Überflusses, die sich beide in vielen Stücken recht schlecht verstehen.
Das Proletariat hat einen Kopf, der sich den Mund nicht verbieten läßt,
der redet, schreit und singt. Das Proletariat hat seine Redner, Schreier und
Sänger. Das Proletariat hat auch seine Dichter, die ihm seine Lieder machen.
Der Kopf — die Sozialdemokratie behauptet, dieser Kopf zu sein — sieht
nicht immer schön aus, und die Lieder und Gedichte sind auch nicht durchweg
schön. Aber sie sind nicht so schlecht, wie sie von der Gegnerin, der Bour¬
geoisie, gemacht werden. Man hat das Proletariat so lange sich selber über¬
lassen, daß man sich nun nicht wundern darf, wenn es sich möglichst alles
selbst zu schaffen unternimmt, seinen Staat, seine Ideale und seine Kunst. Der
Proletarier ist nichts und sucht etwas zu werde». Die Sozialdemokratie
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