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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Pessimismus

geworden, und dieselbe ein sich widersprechendes Buch gewesen, dessen Sinn
eben deshalb niemandem ganz klar und verständlich sein konnte. Das Nähere
hierüber, wie auch meine Vermutungen über die Gründe und Schwächen,
welche Kanten zu einer solche" Verunstaltung seines unsterblichen Werkes
haben bewegen können, habe ich dargelegt in einem Briefe an Herrn Pro¬
fessor Rosenkranz, dessen Hauptstelle derselbe in seiner Vorrede zum zweiten
Bande der von ihm besorgten Ausgabe der sämtlichen Werke Kants auf¬
genommen hat, wohin ich also hier verweise. Infolge meiner Vorstellungen
nämlich hat im Jahre 1838 Herr Professor Rosenkranz sich bewogen gefunden,
die "Kritik der reinen Vernunft" in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder her¬
zustellen" u. s. w.

Den hier erwähnten Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Rosenkranz
hat Schemann vollständig aufgenommen. Darin findet sich eine Stelle, die
uns die tiefste Quelle der Begeisterung des großen Pessimisten für Kant er¬
schließt. Er schreibt an Rosenkranz: "Übrigens hoffe ich, daß Sie das wan¬
kende Gebäude der Hegelei verlassen werden, ehe es, in seinem gänzlichen Ein¬
sturz, Sie mit vielen rudern uuter den Trümmern begräbt, und wer die
Materialien kennt, aus denen es erbaut ist, braucht, jenen Einsturz voraus¬
zusagen, keinen großen Scharfsinn. Dann bleibt Ihnen im alten aber festen
Ban des Kantischen Palastes eine sichere Stätte; denn gewiß wird es Ihnen
nicht einfallen, in das alte verlassene Nattennest des Lcibnizianismus sich zu
fluchten, wo Monaden, prästabilirte Harmonie, Optimismus und andre Fratzen
und Absurditäten ersten Ranges spuken, und woselbst, wie es scheinen will,
einiges Gesindel zusammenläuft, eigentlich nur wegen der Zentralmvnade, in
nmjorönr vel glorism, wie fast alles schlechte Beginnen." Wie der Pessimist
in der Erneuerung Leibnizischer Gedanken mit Recht die Absicht auf die Zentral¬
monade wittert, so werden wir ihm mit der Vermutung nicht Unrecht thun,
daß es die Almeigung gegen deu persönlichen Gott war, was ihn zu so einem
entschiednen Anhänger des konsequent durchgeführten Kantischen Kritizismus
machte; denn mit der Anerkennung des persönlichen ewig lebenden Gottes,
der den Menschenseelen ewiges Leben verleiht, ist zugleich auch die Wirklichkeit
und wertvolle Wesenhnftigkeit der Welt anerkannt. Indem Kant alle Brücken
abgebrochen zu haben schien, die aus dem Bannkreise der eignen Vorstellungen
hinausführen, war auch die zu jener verhaßten "Zentralmonade" beseitigt, die
nach dem christlichen Glauben ein Meer von Seligkeit ist und Seligkeit spendet.
Wenn dann Schopenhauer in aller Stille diese Brücke selbst wieder aufbaute,
das Ding an sich, von dein wir doch gar nichts sollen wissen können, ganz
genau beschrieb und es Willen neunte, so störte thu dieser Selbstwiderspruch
weiter nicht und konnte ihn anch gar nicht stören, denn sich aller Widersprüche
enthalten, das heißt auf die Philosophie verzichten. Selbstverständlich konnte
das, was er drüben fand, nicht die ewige Weisheit, Liebe und Seligkeit sein,


Zur Naturgeschichte des Pessimismus

geworden, und dieselbe ein sich widersprechendes Buch gewesen, dessen Sinn
eben deshalb niemandem ganz klar und verständlich sein konnte. Das Nähere
hierüber, wie auch meine Vermutungen über die Gründe und Schwächen,
welche Kanten zu einer solche» Verunstaltung seines unsterblichen Werkes
haben bewegen können, habe ich dargelegt in einem Briefe an Herrn Pro¬
fessor Rosenkranz, dessen Hauptstelle derselbe in seiner Vorrede zum zweiten
Bande der von ihm besorgten Ausgabe der sämtlichen Werke Kants auf¬
genommen hat, wohin ich also hier verweise. Infolge meiner Vorstellungen
nämlich hat im Jahre 1838 Herr Professor Rosenkranz sich bewogen gefunden,
die »Kritik der reinen Vernunft« in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder her¬
zustellen" u. s. w.

Den hier erwähnten Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Rosenkranz
hat Schemann vollständig aufgenommen. Darin findet sich eine Stelle, die
uns die tiefste Quelle der Begeisterung des großen Pessimisten für Kant er¬
schließt. Er schreibt an Rosenkranz: „Übrigens hoffe ich, daß Sie das wan¬
kende Gebäude der Hegelei verlassen werden, ehe es, in seinem gänzlichen Ein¬
sturz, Sie mit vielen rudern uuter den Trümmern begräbt, und wer die
Materialien kennt, aus denen es erbaut ist, braucht, jenen Einsturz voraus¬
zusagen, keinen großen Scharfsinn. Dann bleibt Ihnen im alten aber festen
Ban des Kantischen Palastes eine sichere Stätte; denn gewiß wird es Ihnen
nicht einfallen, in das alte verlassene Nattennest des Lcibnizianismus sich zu
fluchten, wo Monaden, prästabilirte Harmonie, Optimismus und andre Fratzen
und Absurditäten ersten Ranges spuken, und woselbst, wie es scheinen will,
einiges Gesindel zusammenläuft, eigentlich nur wegen der Zentralmvnade, in
nmjorönr vel glorism, wie fast alles schlechte Beginnen." Wie der Pessimist
in der Erneuerung Leibnizischer Gedanken mit Recht die Absicht auf die Zentral¬
monade wittert, so werden wir ihm mit der Vermutung nicht Unrecht thun,
daß es die Almeigung gegen deu persönlichen Gott war, was ihn zu so einem
entschiednen Anhänger des konsequent durchgeführten Kantischen Kritizismus
machte; denn mit der Anerkennung des persönlichen ewig lebenden Gottes,
der den Menschenseelen ewiges Leben verleiht, ist zugleich auch die Wirklichkeit
und wertvolle Wesenhnftigkeit der Welt anerkannt. Indem Kant alle Brücken
abgebrochen zu haben schien, die aus dem Bannkreise der eignen Vorstellungen
hinausführen, war auch die zu jener verhaßten „Zentralmonade" beseitigt, die
nach dem christlichen Glauben ein Meer von Seligkeit ist und Seligkeit spendet.
Wenn dann Schopenhauer in aller Stille diese Brücke selbst wieder aufbaute,
das Ding an sich, von dein wir doch gar nichts sollen wissen können, ganz
genau beschrieb und es Willen neunte, so störte thu dieser Selbstwiderspruch
weiter nicht und konnte ihn anch gar nicht stören, denn sich aller Widersprüche
enthalten, das heißt auf die Philosophie verzichten. Selbstverständlich konnte
das, was er drüben fand, nicht die ewige Weisheit, Liebe und Seligkeit sein,


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[0359] Zur Naturgeschichte des Pessimismus geworden, und dieselbe ein sich widersprechendes Buch gewesen, dessen Sinn eben deshalb niemandem ganz klar und verständlich sein konnte. Das Nähere hierüber, wie auch meine Vermutungen über die Gründe und Schwächen, welche Kanten zu einer solche» Verunstaltung seines unsterblichen Werkes haben bewegen können, habe ich dargelegt in einem Briefe an Herrn Pro¬ fessor Rosenkranz, dessen Hauptstelle derselbe in seiner Vorrede zum zweiten Bande der von ihm besorgten Ausgabe der sämtlichen Werke Kants auf¬ genommen hat, wohin ich also hier verweise. Infolge meiner Vorstellungen nämlich hat im Jahre 1838 Herr Professor Rosenkranz sich bewogen gefunden, die »Kritik der reinen Vernunft« in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder her¬ zustellen" u. s. w. Den hier erwähnten Briefwechsel zwischen Schopenhauer und Rosenkranz hat Schemann vollständig aufgenommen. Darin findet sich eine Stelle, die uns die tiefste Quelle der Begeisterung des großen Pessimisten für Kant er¬ schließt. Er schreibt an Rosenkranz: „Übrigens hoffe ich, daß Sie das wan¬ kende Gebäude der Hegelei verlassen werden, ehe es, in seinem gänzlichen Ein¬ sturz, Sie mit vielen rudern uuter den Trümmern begräbt, und wer die Materialien kennt, aus denen es erbaut ist, braucht, jenen Einsturz voraus¬ zusagen, keinen großen Scharfsinn. Dann bleibt Ihnen im alten aber festen Ban des Kantischen Palastes eine sichere Stätte; denn gewiß wird es Ihnen nicht einfallen, in das alte verlassene Nattennest des Lcibnizianismus sich zu fluchten, wo Monaden, prästabilirte Harmonie, Optimismus und andre Fratzen und Absurditäten ersten Ranges spuken, und woselbst, wie es scheinen will, einiges Gesindel zusammenläuft, eigentlich nur wegen der Zentralmvnade, in nmjorönr vel glorism, wie fast alles schlechte Beginnen." Wie der Pessimist in der Erneuerung Leibnizischer Gedanken mit Recht die Absicht auf die Zentral¬ monade wittert, so werden wir ihm mit der Vermutung nicht Unrecht thun, daß es die Almeigung gegen deu persönlichen Gott war, was ihn zu so einem entschiednen Anhänger des konsequent durchgeführten Kantischen Kritizismus machte; denn mit der Anerkennung des persönlichen ewig lebenden Gottes, der den Menschenseelen ewiges Leben verleiht, ist zugleich auch die Wirklichkeit und wertvolle Wesenhnftigkeit der Welt anerkannt. Indem Kant alle Brücken abgebrochen zu haben schien, die aus dem Bannkreise der eignen Vorstellungen hinausführen, war auch die zu jener verhaßten „Zentralmonade" beseitigt, die nach dem christlichen Glauben ein Meer von Seligkeit ist und Seligkeit spendet. Wenn dann Schopenhauer in aller Stille diese Brücke selbst wieder aufbaute, das Ding an sich, von dein wir doch gar nichts sollen wissen können, ganz genau beschrieb und es Willen neunte, so störte thu dieser Selbstwiderspruch weiter nicht und konnte ihn anch gar nicht stören, denn sich aller Widersprüche enthalten, das heißt auf die Philosophie verzichten. Selbstverständlich konnte das, was er drüben fand, nicht die ewige Weisheit, Liebe und Seligkeit sein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/359>, abgerufen am 26.08.2024.