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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkunst

Mißverhältnis steht, war ein weit ausschauendes, auf das Zusammenwirken
vieler Kräfte gegründetes Unternehmen eine Notwendigkeit, Ein solches ist
nun im vergangnen Jahre in Anregung gebracht worden. Die preußische Ne¬
gierung, die die Ausgaben der Werke Bachs und Handels unterstützt, die
Schützausgabe durch ihre kräftige Teilnahme überhaupt erst ermöglicht hat,
berief eine Kommission von Künstlern und Gelehrten, ließ einen Organisations¬
plan entwerfen und das vorläufig in Angriff zu nehmende Gebiet abstecken,
versicherte sich der thätigen Mitwirkung der Verlagshandlung Breitkopf und
Hürtel in Leipzig und gab einen Probeband von Denkmälern deutscher
Tonkunst heraus. Sie hat dies gethan in dem Vertrauen, bei ihrem
Vorangehen von den übrigen deutschen Regierungen, von den deutscheu Fürsten,
den Musikvereinen, den Künstlern und Gelehrten, überhaupt allen, die im¬
stande sind, ihr Interesse an nationaler Kunst zu bethätigen, nicht im Stiche
gelassen zu werden. Dies Vertrauen wird sie hoffentlich nicht täuschen.
Deutsche Komponisten des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts sind es, deren Werke in möglichster Vollständigkeit veröffentlicht
werden sollen. Gluck und Haydn bleiben ausgeschlossen; nachdem die größten,
sie zeitlich umgrenzenden Meister vollständig haben herausgegeben werden
können, werden sich Mittel und Wege finden, auch diese beiden in gleicher
Weise durch selbständige Unternehmungen zu ehren. Auch sonst haben Be¬
schränkungen stattfinden müssen, um über das zu bearbeitende Material eine
vorläufige Übersicht zu gewinnen. Sie werden fallen, je mehr die Arbeit
fortschreiten kann. Wenn bis zu drei Foliobänden im Jahre veröffentlicht
werden, wird in fünfzehn bis zwanzig Jahren so viel geschafft sein, daß die
höher gelegnen Gebiete deutscher Tonkunst wieder im Sonnenlichte allgemeiner
Zugänglichkeit daliegen.

In weiten Kreisen der gebildeten Welt fehlt heute noch jede Vor¬
stellung davon, wie reich an genialen schöpferischen Kräften die ältere deutsche
Musik gewesen ist, wie hoch seit dem Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts
die Stellung, die Deutschland uuter den europäischen Völkern auf allen Ge¬
bieten der Tonkunst ohne Unterbrechung eingenommen hat, selbst in jener Zeit
des Elends, die dem dreißigjährigen Kriege folgte. Kommt auf die großen
deutschen Komponisten der Vergangenheit die Rede, so denkt man zunächst
immer noch an Haydn, Mozart und Beethoven. Daß Händel und Bach unter
sie einzubeziehen sind, daran hat man sich wohl allmählich gewöhnt. Aber
in der allgemeinen Anschauung ragen sie auf wie Berge aus der Wüste. Nur
ganz wenige haben Kenntnis von dem, was um sie her besteht, obschon die
gewöhnlichste geschichtliche Erfahrung sagen müßte, daß diese Männer zu ihrer
riesigen Größe nicht haben aufwachsen können, ohne daß mächtige Kräfte vor
und neben ihnen thätig gewesen sind, die ihnen zu dieser Größe verhalfen.
Der Griff um ein Jahrhundert weiter zurück zu Heinrich Schütz erschien der


Denkmäler deutscher Tonkunst

Mißverhältnis steht, war ein weit ausschauendes, auf das Zusammenwirken
vieler Kräfte gegründetes Unternehmen eine Notwendigkeit, Ein solches ist
nun im vergangnen Jahre in Anregung gebracht worden. Die preußische Ne¬
gierung, die die Ausgaben der Werke Bachs und Handels unterstützt, die
Schützausgabe durch ihre kräftige Teilnahme überhaupt erst ermöglicht hat,
berief eine Kommission von Künstlern und Gelehrten, ließ einen Organisations¬
plan entwerfen und das vorläufig in Angriff zu nehmende Gebiet abstecken,
versicherte sich der thätigen Mitwirkung der Verlagshandlung Breitkopf und
Hürtel in Leipzig und gab einen Probeband von Denkmälern deutscher
Tonkunst heraus. Sie hat dies gethan in dem Vertrauen, bei ihrem
Vorangehen von den übrigen deutschen Regierungen, von den deutscheu Fürsten,
den Musikvereinen, den Künstlern und Gelehrten, überhaupt allen, die im¬
stande sind, ihr Interesse an nationaler Kunst zu bethätigen, nicht im Stiche
gelassen zu werden. Dies Vertrauen wird sie hoffentlich nicht täuschen.
Deutsche Komponisten des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts sind es, deren Werke in möglichster Vollständigkeit veröffentlicht
werden sollen. Gluck und Haydn bleiben ausgeschlossen; nachdem die größten,
sie zeitlich umgrenzenden Meister vollständig haben herausgegeben werden
können, werden sich Mittel und Wege finden, auch diese beiden in gleicher
Weise durch selbständige Unternehmungen zu ehren. Auch sonst haben Be¬
schränkungen stattfinden müssen, um über das zu bearbeitende Material eine
vorläufige Übersicht zu gewinnen. Sie werden fallen, je mehr die Arbeit
fortschreiten kann. Wenn bis zu drei Foliobänden im Jahre veröffentlicht
werden, wird in fünfzehn bis zwanzig Jahren so viel geschafft sein, daß die
höher gelegnen Gebiete deutscher Tonkunst wieder im Sonnenlichte allgemeiner
Zugänglichkeit daliegen.

In weiten Kreisen der gebildeten Welt fehlt heute noch jede Vor¬
stellung davon, wie reich an genialen schöpferischen Kräften die ältere deutsche
Musik gewesen ist, wie hoch seit dem Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts
die Stellung, die Deutschland uuter den europäischen Völkern auf allen Ge¬
bieten der Tonkunst ohne Unterbrechung eingenommen hat, selbst in jener Zeit
des Elends, die dem dreißigjährigen Kriege folgte. Kommt auf die großen
deutschen Komponisten der Vergangenheit die Rede, so denkt man zunächst
immer noch an Haydn, Mozart und Beethoven. Daß Händel und Bach unter
sie einzubeziehen sind, daran hat man sich wohl allmählich gewöhnt. Aber
in der allgemeinen Anschauung ragen sie auf wie Berge aus der Wüste. Nur
ganz wenige haben Kenntnis von dem, was um sie her besteht, obschon die
gewöhnlichste geschichtliche Erfahrung sagen müßte, daß diese Männer zu ihrer
riesigen Größe nicht haben aufwachsen können, ohne daß mächtige Kräfte vor
und neben ihnen thätig gewesen sind, die ihnen zu dieser Größe verhalfen.
Der Griff um ein Jahrhundert weiter zurück zu Heinrich Schütz erschien der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/30>, abgerufen am 23.07.2024.