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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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heute unmittelbar vor ihrer Vollendung. So werden binnen kurzem drei
Denkmäler errichtet sein, wie sie bisher nur das deutsche Volk hat zu stände
bringen können. England hat zweimal einen Anlauf genommen, Händels Kom¬
positionen zu veröffentlichen; beidemal ist es auf kurzer Wegstrecke stecken ge¬
blieben. In Sachen Händels von uns außer Kurs gesetzt, warf es sich auf
den größten national-englischen Komponisten, Henry Purcell: 1878 erschien
ein erster Band seiner Werke, und in fünfzehn Jahren hat man es glücklich
bis auf drei gebracht. Die Franzosen, die auf unsern Gluck ein ähnliches
Recht zu haben glauben, wie die Engländer auf unsern Händel, haben es mit
einer Ausgabe Gluckscher Opern versucht: nur vier sind seit 187Z erschienen.
In dem reichen Belgien gelingt es nicht, die Veröffentlichung der Werke
Grstrys in gleichmäßigem Fortgang zu erhalten. Italien hat seinen Palestrina
Deutschland überlassen müssen; Alfieris Publikationen aus den vierziger Jahren
unsers Jahrhunderts führten nicht zum Ziele, die Anregung aber, die in eben
dieser Zeit König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen gab, hat sich
wirksam genug erwiesen, das Unternehmen in Deutschland, wenn auch nach
manchen Unterbrechungen, siegreich durchzuführen. Auch Gesamtausgaben der
Werke Mozarts, Beethovens und jüngerer Meister sind in Deutschland zu
stände gebracht worden. Weil aber diese Werke in der Gegenwart noch ohne
Unterbrechung weiterwirken, so sind Zweck und Bedeutung dieser Ausgaben
nicht ganz dieselben.

Zelter sagt: "Bach ist eine Erscheinung Gottes, klar, doch unerklärbar.
Er ist wie der Äther: allgegenwärtig, aber unergreiflich" -- Worte, die sich
immer aufs neue bewahrheiten, und in weit größerer Ausdehnung, als Zelter
je geahnt haben mag. Bach, der bald nach seinem Tode vergessen schien, hat
seit einem halben Jahrhundert einen Eroberungszug durch die Welt angetreten.
Unwiderstehlich sieghaft dringt er überall vor, keine Schranke der Nationalität,
der Konfession, des traditionelle" musikalischen Geschmacks kann ihn dauernd
aufhalten. In England ist er zu einer Macht geworden, die Händels andert¬
halbhundertjährige Suprematie ernstlich bedroht. Der Italiener ist längst in
Bachs Klaviermusik heimisch und lernt mehr und mehr auch seine Kirchen¬
kantaten begreifen und bewundern. Bach ist jetzt nächst Beethoven der ver-
breitetste deutsche Komponist. Daß hierzu die Gesamtausgabe seiner Werke
sehr viel beigetragen hat, steht außer Zweifel, und welchen Einfluß seine Musik
auf die weitere Entwicklung der Tonkunst aller Kulturvölker üben wird, ist
gar nicht zu sagen. Den deutscheu Herausgebern aber hatte Bach mit der
Behandlung seiner handschriftlichen (und spärlichen gedruckten) Hinterlassenschaft
eine neue Aufgabe gestellt, durch deren Lösung die Gewinnung einer festen
Methode musikwissenschaftlicher Kritik angebahnt wurde. Die Kunst der Diplo-
matik, bisher nur an geschichtlichen und litterarischen Urkunden geübt, galt es
auf ein neues Objekt anzuwenden. Die erste Vorbedingung zur Wiederbelebung


heute unmittelbar vor ihrer Vollendung. So werden binnen kurzem drei
Denkmäler errichtet sein, wie sie bisher nur das deutsche Volk hat zu stände
bringen können. England hat zweimal einen Anlauf genommen, Händels Kom¬
positionen zu veröffentlichen; beidemal ist es auf kurzer Wegstrecke stecken ge¬
blieben. In Sachen Händels von uns außer Kurs gesetzt, warf es sich auf
den größten national-englischen Komponisten, Henry Purcell: 1878 erschien
ein erster Band seiner Werke, und in fünfzehn Jahren hat man es glücklich
bis auf drei gebracht. Die Franzosen, die auf unsern Gluck ein ähnliches
Recht zu haben glauben, wie die Engländer auf unsern Händel, haben es mit
einer Ausgabe Gluckscher Opern versucht: nur vier sind seit 187Z erschienen.
In dem reichen Belgien gelingt es nicht, die Veröffentlichung der Werke
Grstrys in gleichmäßigem Fortgang zu erhalten. Italien hat seinen Palestrina
Deutschland überlassen müssen; Alfieris Publikationen aus den vierziger Jahren
unsers Jahrhunderts führten nicht zum Ziele, die Anregung aber, die in eben
dieser Zeit König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen gab, hat sich
wirksam genug erwiesen, das Unternehmen in Deutschland, wenn auch nach
manchen Unterbrechungen, siegreich durchzuführen. Auch Gesamtausgaben der
Werke Mozarts, Beethovens und jüngerer Meister sind in Deutschland zu
stände gebracht worden. Weil aber diese Werke in der Gegenwart noch ohne
Unterbrechung weiterwirken, so sind Zweck und Bedeutung dieser Ausgaben
nicht ganz dieselben.

Zelter sagt: „Bach ist eine Erscheinung Gottes, klar, doch unerklärbar.
Er ist wie der Äther: allgegenwärtig, aber unergreiflich" — Worte, die sich
immer aufs neue bewahrheiten, und in weit größerer Ausdehnung, als Zelter
je geahnt haben mag. Bach, der bald nach seinem Tode vergessen schien, hat
seit einem halben Jahrhundert einen Eroberungszug durch die Welt angetreten.
Unwiderstehlich sieghaft dringt er überall vor, keine Schranke der Nationalität,
der Konfession, des traditionelle» musikalischen Geschmacks kann ihn dauernd
aufhalten. In England ist er zu einer Macht geworden, die Händels andert¬
halbhundertjährige Suprematie ernstlich bedroht. Der Italiener ist längst in
Bachs Klaviermusik heimisch und lernt mehr und mehr auch seine Kirchen¬
kantaten begreifen und bewundern. Bach ist jetzt nächst Beethoven der ver-
breitetste deutsche Komponist. Daß hierzu die Gesamtausgabe seiner Werke
sehr viel beigetragen hat, steht außer Zweifel, und welchen Einfluß seine Musik
auf die weitere Entwicklung der Tonkunst aller Kulturvölker üben wird, ist
gar nicht zu sagen. Den deutscheu Herausgebern aber hatte Bach mit der
Behandlung seiner handschriftlichen (und spärlichen gedruckten) Hinterlassenschaft
eine neue Aufgabe gestellt, durch deren Lösung die Gewinnung einer festen
Methode musikwissenschaftlicher Kritik angebahnt wurde. Die Kunst der Diplo-
matik, bisher nur an geschichtlichen und litterarischen Urkunden geübt, galt es
auf ein neues Objekt anzuwenden. Die erste Vorbedingung zur Wiederbelebung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/28>, abgerufen am 23.07.2024.