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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkunst

ein Denkmal zu errichten, war die Absicht der Bach-Gesellschaft. Sie hat diese
Absicht ausgeführt; nur noch wenige Schlußsteine fehlen heute zur Vollendung
dieses ältesten und vielleicht folgenreichste" "Denkmals deutscher Tonkunst."
Daß man um die Mitte des Jahrhunderts hoffen durfte, eine Aufgabe zu be¬
wältigen, deren Umfang sich am Beginn noch gar nicht übersehen ließ, und
die auch ihrem Gedanken nach in Deutschland etwas ganz neues war, hat
wieder seinen Grund in der durch die Romantik im geistigen Leben bewirkten
Strömung, die auf musikalischen Gebiete länger als irgendwo anders im Zuge
blieb. Zwar die richtige Wertschätzung der Musik Sebastian Bachs hat nicht
erst mit ihr begonnen. Am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts sehen
wir sie aufdämmern und am Beginn des unsrigen rasch zunehmen. In der
deutsch-patriotischen Gesinnung hatte sie ihre Wurzeln geschlagen, mit dem
mehr und mehr sich hebenden Nationalgefühl erstarkte sie. Forkels beste und
fruchtbarste Arbeit ist nicht seine große Geschichte der Musik, sondern die kleine
Schrift "Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke" (1802).
Gleicht er mit jener seinem Göttinger Kollegen Gatterer, so läßt er sich
in dieser etwa neben Justus Möser stellen. Wenn man die allgemeine
Schwunglosigkeit seiner Natur bedenkt, und damit die Frische und Begeisterung
vergleicht, die aus der Vorrede dieser Schrift über Bach spricht, so hat man
einen Gradmesser für die verjüngende Kraft, die das neu erwachte National-
gefühl auch den trocknen Geistern zuführte. Die Schrift war zunächst bestimmt,
der durch Hoffmeister und Kühnel in Leipzig vorbereiteten Ausgabe der Orgel-
und Klavierwerke Bachs den Boden zu bereiten, die ein verdienstvoller Vor¬
gänger der monumentalen Gesamtausgabe geworden ist und sich auf ihrem
beschränktem Gebiete neben dieser auch heute noch behauptet. Aber um den
Gedanken zu stützen, die ganze ungeheure Hinterlassenschaft Bachs, namentlich
auch seine kirchlichen Gesangwerke der Welt darzubieten, dazu wäre vor neunzig
Jahren bei uns das Interesse noch nicht stark genug gewesen. Erst als von
Berlin aus und durch Mendelssohns mutige That die Wunderwelt der Pas¬
sionsmusiken vor allem Volke aufgethan wurde, als sich in Schumanns Werken
ein verwandter, an Bach genährter Genius offenbarte, war die Zeit gekommen.
Die Häupter der jüngern Romantiker in der Musik haben sie herbeigeführt.
Schumann war einer der Fünfmänner, von denen die erste öffentliche An¬
regung zu der Gesamtausgabe Bachs ausging. Unter den Gründern der Vach-
Gesellschast fehlte auch Winterfeld nicht.

Eine bedeutende That erstreckt ihre Wirkungen meist über das Gebiet
hinaus, dem sie zunächst zu gute kommen sollte. Der Bachausgabe folgte
neun Jahre später aus gleicher Veranlassung das Unternehmen einer Gesamt¬
ausgabe der Werke Handels: 1759 war Händel gestorben. 1885 wurde dann
auch mit der Herausgabe der sämtlichen Werke von Heinrich Schütz begonnen;
Schütz war 1685 geboren. Wie die Ausgabe Bachs, stehen auch diese beiden


Denkmäler deutscher Tonkunst

ein Denkmal zu errichten, war die Absicht der Bach-Gesellschaft. Sie hat diese
Absicht ausgeführt; nur noch wenige Schlußsteine fehlen heute zur Vollendung
dieses ältesten und vielleicht folgenreichste» „Denkmals deutscher Tonkunst."
Daß man um die Mitte des Jahrhunderts hoffen durfte, eine Aufgabe zu be¬
wältigen, deren Umfang sich am Beginn noch gar nicht übersehen ließ, und
die auch ihrem Gedanken nach in Deutschland etwas ganz neues war, hat
wieder seinen Grund in der durch die Romantik im geistigen Leben bewirkten
Strömung, die auf musikalischen Gebiete länger als irgendwo anders im Zuge
blieb. Zwar die richtige Wertschätzung der Musik Sebastian Bachs hat nicht
erst mit ihr begonnen. Am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts sehen
wir sie aufdämmern und am Beginn des unsrigen rasch zunehmen. In der
deutsch-patriotischen Gesinnung hatte sie ihre Wurzeln geschlagen, mit dem
mehr und mehr sich hebenden Nationalgefühl erstarkte sie. Forkels beste und
fruchtbarste Arbeit ist nicht seine große Geschichte der Musik, sondern die kleine
Schrift „Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke" (1802).
Gleicht er mit jener seinem Göttinger Kollegen Gatterer, so läßt er sich
in dieser etwa neben Justus Möser stellen. Wenn man die allgemeine
Schwunglosigkeit seiner Natur bedenkt, und damit die Frische und Begeisterung
vergleicht, die aus der Vorrede dieser Schrift über Bach spricht, so hat man
einen Gradmesser für die verjüngende Kraft, die das neu erwachte National-
gefühl auch den trocknen Geistern zuführte. Die Schrift war zunächst bestimmt,
der durch Hoffmeister und Kühnel in Leipzig vorbereiteten Ausgabe der Orgel-
und Klavierwerke Bachs den Boden zu bereiten, die ein verdienstvoller Vor¬
gänger der monumentalen Gesamtausgabe geworden ist und sich auf ihrem
beschränktem Gebiete neben dieser auch heute noch behauptet. Aber um den
Gedanken zu stützen, die ganze ungeheure Hinterlassenschaft Bachs, namentlich
auch seine kirchlichen Gesangwerke der Welt darzubieten, dazu wäre vor neunzig
Jahren bei uns das Interesse noch nicht stark genug gewesen. Erst als von
Berlin aus und durch Mendelssohns mutige That die Wunderwelt der Pas¬
sionsmusiken vor allem Volke aufgethan wurde, als sich in Schumanns Werken
ein verwandter, an Bach genährter Genius offenbarte, war die Zeit gekommen.
Die Häupter der jüngern Romantiker in der Musik haben sie herbeigeführt.
Schumann war einer der Fünfmänner, von denen die erste öffentliche An¬
regung zu der Gesamtausgabe Bachs ausging. Unter den Gründern der Vach-
Gesellschast fehlte auch Winterfeld nicht.

Eine bedeutende That erstreckt ihre Wirkungen meist über das Gebiet
hinaus, dem sie zunächst zu gute kommen sollte. Der Bachausgabe folgte
neun Jahre später aus gleicher Veranlassung das Unternehmen einer Gesamt¬
ausgabe der Werke Handels: 1759 war Händel gestorben. 1885 wurde dann
auch mit der Herausgabe der sämtlichen Werke von Heinrich Schütz begonnen;
Schütz war 1685 geboren. Wie die Ausgabe Bachs, stehen auch diese beiden


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[0027] Denkmäler deutscher Tonkunst ein Denkmal zu errichten, war die Absicht der Bach-Gesellschaft. Sie hat diese Absicht ausgeführt; nur noch wenige Schlußsteine fehlen heute zur Vollendung dieses ältesten und vielleicht folgenreichste» „Denkmals deutscher Tonkunst." Daß man um die Mitte des Jahrhunderts hoffen durfte, eine Aufgabe zu be¬ wältigen, deren Umfang sich am Beginn noch gar nicht übersehen ließ, und die auch ihrem Gedanken nach in Deutschland etwas ganz neues war, hat wieder seinen Grund in der durch die Romantik im geistigen Leben bewirkten Strömung, die auf musikalischen Gebiete länger als irgendwo anders im Zuge blieb. Zwar die richtige Wertschätzung der Musik Sebastian Bachs hat nicht erst mit ihr begonnen. Am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts sehen wir sie aufdämmern und am Beginn des unsrigen rasch zunehmen. In der deutsch-patriotischen Gesinnung hatte sie ihre Wurzeln geschlagen, mit dem mehr und mehr sich hebenden Nationalgefühl erstarkte sie. Forkels beste und fruchtbarste Arbeit ist nicht seine große Geschichte der Musik, sondern die kleine Schrift „Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke" (1802). Gleicht er mit jener seinem Göttinger Kollegen Gatterer, so läßt er sich in dieser etwa neben Justus Möser stellen. Wenn man die allgemeine Schwunglosigkeit seiner Natur bedenkt, und damit die Frische und Begeisterung vergleicht, die aus der Vorrede dieser Schrift über Bach spricht, so hat man einen Gradmesser für die verjüngende Kraft, die das neu erwachte National- gefühl auch den trocknen Geistern zuführte. Die Schrift war zunächst bestimmt, der durch Hoffmeister und Kühnel in Leipzig vorbereiteten Ausgabe der Orgel- und Klavierwerke Bachs den Boden zu bereiten, die ein verdienstvoller Vor¬ gänger der monumentalen Gesamtausgabe geworden ist und sich auf ihrem beschränktem Gebiete neben dieser auch heute noch behauptet. Aber um den Gedanken zu stützen, die ganze ungeheure Hinterlassenschaft Bachs, namentlich auch seine kirchlichen Gesangwerke der Welt darzubieten, dazu wäre vor neunzig Jahren bei uns das Interesse noch nicht stark genug gewesen. Erst als von Berlin aus und durch Mendelssohns mutige That die Wunderwelt der Pas¬ sionsmusiken vor allem Volke aufgethan wurde, als sich in Schumanns Werken ein verwandter, an Bach genährter Genius offenbarte, war die Zeit gekommen. Die Häupter der jüngern Romantiker in der Musik haben sie herbeigeführt. Schumann war einer der Fünfmänner, von denen die erste öffentliche An¬ regung zu der Gesamtausgabe Bachs ausging. Unter den Gründern der Vach- Gesellschast fehlte auch Winterfeld nicht. Eine bedeutende That erstreckt ihre Wirkungen meist über das Gebiet hinaus, dem sie zunächst zu gute kommen sollte. Der Bachausgabe folgte neun Jahre später aus gleicher Veranlassung das Unternehmen einer Gesamt¬ ausgabe der Werke Handels: 1759 war Händel gestorben. 1885 wurde dann auch mit der Herausgabe der sämtlichen Werke von Heinrich Schütz begonnen; Schütz war 1685 geboren. Wie die Ausgabe Bachs, stehen auch diese beiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/27>, abgerufen am 23.07.2024.