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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

geschiedne Kind an seine Mutter" Sie nicht stört, so kann das höchst vor¬
treffliche alte Kirchenlied, das Sie mir mitteilen, und dessen Dichter ich wohl
kennen möchte, auch mir nur zur Erbauung und ernsten Anregung gereichen.
Ich habe mir die Menschen im Verhältnis zu der höchsten Angelegenheit des
Geschlechts von jeher gern so gedacht, wie sie an Sonn- und Feiertagen um
die Dämmerungszeit in einem alten Dom vor und hinter einander sitzen, der
durch die Rose sein letztes Licht erhält. Jeder schaut hinein, jeder glaubt
am meisten zu sehen und am schönstem zu träumen, und jeder ist mir recht,
so lange er nicht allein Augen zu haben behauptet-"") Immer tiefer und
fester wurde mit der Zeit bei ihm diese Empfindung, und in der christlichen
Gruppe seiner Nibelungentrilogie gab er ihr unvergängliche Gestalt.

Die politischen Gährungen und Kämpfe, die in Hebbels Lebenszeit fielen,
zogen ihn natürlich in starke Mitleidenschaft, obwohl er ein viel zu echter
Dichter blieb, die künstlerische Lebensaufgabe, die ihm gesetzt war, jemals mit
der halb litterarischen, halb agitatorischen Thätigkeit zu vertauschen, in der
sich ein großer Teil seiner Zeitgenossen gefiel. An der publizistischen Vor¬
bereitung der Revolution von 1848 nahm Hebbel so wenig Anteil, wie an
den stillen Kämpfen, in denen sich sein holsteinisches Heimatland gegen die
dänischen Einverleibnugsgelüste zu wehren begann. Wohl übte er die schärfste
Kritik an gewissen vormärzlichen Zuständen und sah voraus, daß diese Zu¬
stände ihrem Ende entgegeneilten. Und obwohl sich sein engeres" Vaterland
in jedem Betracht stiefmütterlich gegen ihn bezeigt hatte, verleugnete er keinen
Augenblick die Liebe zum Heimatboden. In demselben Winter von 1842 zu
1843, wo er sich in Kopenhagen bei seinem Königherzog Christian dem Achten
um ein Neichsstipeudium bewarb, beschäftigte er sich mit dem Gedanken eines
Romans aus der Geschichte von Ditmarsen, der natürlich einen der gewal¬
tigen Kämpfe und Siege der Bauernrepublik wider die Dänenkvnige, wahr¬
scheinlich die Hemingstedter Schlacht, zum Hintergrunde haben sollte. Aber es
lag ihm bei alledem doch sern, sich an der politischen Arbeit des Tages zu
beteiligen, und er pflegte spöttisch zu den Forderungen derer zu lächeln, die vom
Künstler unsrer Tage verlangten, daß er die Kunst um der Politik willen an
den Nagel hängen oder, noch schlimmer, die Kunst in Politik verwandeln solle.
Nur einmal, unter den Eindrücken der^ersten Monate des Jahres 1848, ver-
tauschte Hebbel den Standpunkt des scharfsichtigen Beobachters mit einem Stück
thätiger Teilnahme an den Weltereignissen. Als sich im Mai 1848 Kaiser Ferdi¬
nand von Österreich vor dem Wiener Barrikadenheldentum und der wilden Wirt¬
schaft des unreifen Radikalismus von Schönbrunn nach Tirol geflüchtet hatte,
sandte mit den verschiedensten Bürgerkreisen Wiens auch der Schriftstellerverein
Konkordia eine Deputation mit der Bitte um augenblickliche Rückkehr des Kaisers



') Wien, den 4. Mai 1858.
Friedrich Hebbels Briefwechsel

geschiedne Kind an seine Mutter« Sie nicht stört, so kann das höchst vor¬
treffliche alte Kirchenlied, das Sie mir mitteilen, und dessen Dichter ich wohl
kennen möchte, auch mir nur zur Erbauung und ernsten Anregung gereichen.
Ich habe mir die Menschen im Verhältnis zu der höchsten Angelegenheit des
Geschlechts von jeher gern so gedacht, wie sie an Sonn- und Feiertagen um
die Dämmerungszeit in einem alten Dom vor und hinter einander sitzen, der
durch die Rose sein letztes Licht erhält. Jeder schaut hinein, jeder glaubt
am meisten zu sehen und am schönstem zu träumen, und jeder ist mir recht,
so lange er nicht allein Augen zu haben behauptet-"") Immer tiefer und
fester wurde mit der Zeit bei ihm diese Empfindung, und in der christlichen
Gruppe seiner Nibelungentrilogie gab er ihr unvergängliche Gestalt.

Die politischen Gährungen und Kämpfe, die in Hebbels Lebenszeit fielen,
zogen ihn natürlich in starke Mitleidenschaft, obwohl er ein viel zu echter
Dichter blieb, die künstlerische Lebensaufgabe, die ihm gesetzt war, jemals mit
der halb litterarischen, halb agitatorischen Thätigkeit zu vertauschen, in der
sich ein großer Teil seiner Zeitgenossen gefiel. An der publizistischen Vor¬
bereitung der Revolution von 1848 nahm Hebbel so wenig Anteil, wie an
den stillen Kämpfen, in denen sich sein holsteinisches Heimatland gegen die
dänischen Einverleibnugsgelüste zu wehren begann. Wohl übte er die schärfste
Kritik an gewissen vormärzlichen Zuständen und sah voraus, daß diese Zu¬
stände ihrem Ende entgegeneilten. Und obwohl sich sein engeres" Vaterland
in jedem Betracht stiefmütterlich gegen ihn bezeigt hatte, verleugnete er keinen
Augenblick die Liebe zum Heimatboden. In demselben Winter von 1842 zu
1843, wo er sich in Kopenhagen bei seinem Königherzog Christian dem Achten
um ein Neichsstipeudium bewarb, beschäftigte er sich mit dem Gedanken eines
Romans aus der Geschichte von Ditmarsen, der natürlich einen der gewal¬
tigen Kämpfe und Siege der Bauernrepublik wider die Dänenkvnige, wahr¬
scheinlich die Hemingstedter Schlacht, zum Hintergrunde haben sollte. Aber es
lag ihm bei alledem doch sern, sich an der politischen Arbeit des Tages zu
beteiligen, und er pflegte spöttisch zu den Forderungen derer zu lächeln, die vom
Künstler unsrer Tage verlangten, daß er die Kunst um der Politik willen an
den Nagel hängen oder, noch schlimmer, die Kunst in Politik verwandeln solle.
Nur einmal, unter den Eindrücken der^ersten Monate des Jahres 1848, ver-
tauschte Hebbel den Standpunkt des scharfsichtigen Beobachters mit einem Stück
thätiger Teilnahme an den Weltereignissen. Als sich im Mai 1848 Kaiser Ferdi¬
nand von Österreich vor dem Wiener Barrikadenheldentum und der wilden Wirt¬
schaft des unreifen Radikalismus von Schönbrunn nach Tirol geflüchtet hatte,
sandte mit den verschiedensten Bürgerkreisen Wiens auch der Schriftstellerverein
Konkordia eine Deputation mit der Bitte um augenblickliche Rückkehr des Kaisers



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[0269] Friedrich Hebbels Briefwechsel geschiedne Kind an seine Mutter« Sie nicht stört, so kann das höchst vor¬ treffliche alte Kirchenlied, das Sie mir mitteilen, und dessen Dichter ich wohl kennen möchte, auch mir nur zur Erbauung und ernsten Anregung gereichen. Ich habe mir die Menschen im Verhältnis zu der höchsten Angelegenheit des Geschlechts von jeher gern so gedacht, wie sie an Sonn- und Feiertagen um die Dämmerungszeit in einem alten Dom vor und hinter einander sitzen, der durch die Rose sein letztes Licht erhält. Jeder schaut hinein, jeder glaubt am meisten zu sehen und am schönstem zu träumen, und jeder ist mir recht, so lange er nicht allein Augen zu haben behauptet-"") Immer tiefer und fester wurde mit der Zeit bei ihm diese Empfindung, und in der christlichen Gruppe seiner Nibelungentrilogie gab er ihr unvergängliche Gestalt. Die politischen Gährungen und Kämpfe, die in Hebbels Lebenszeit fielen, zogen ihn natürlich in starke Mitleidenschaft, obwohl er ein viel zu echter Dichter blieb, die künstlerische Lebensaufgabe, die ihm gesetzt war, jemals mit der halb litterarischen, halb agitatorischen Thätigkeit zu vertauschen, in der sich ein großer Teil seiner Zeitgenossen gefiel. An der publizistischen Vor¬ bereitung der Revolution von 1848 nahm Hebbel so wenig Anteil, wie an den stillen Kämpfen, in denen sich sein holsteinisches Heimatland gegen die dänischen Einverleibnugsgelüste zu wehren begann. Wohl übte er die schärfste Kritik an gewissen vormärzlichen Zuständen und sah voraus, daß diese Zu¬ stände ihrem Ende entgegeneilten. Und obwohl sich sein engeres" Vaterland in jedem Betracht stiefmütterlich gegen ihn bezeigt hatte, verleugnete er keinen Augenblick die Liebe zum Heimatboden. In demselben Winter von 1842 zu 1843, wo er sich in Kopenhagen bei seinem Königherzog Christian dem Achten um ein Neichsstipeudium bewarb, beschäftigte er sich mit dem Gedanken eines Romans aus der Geschichte von Ditmarsen, der natürlich einen der gewal¬ tigen Kämpfe und Siege der Bauernrepublik wider die Dänenkvnige, wahr¬ scheinlich die Hemingstedter Schlacht, zum Hintergrunde haben sollte. Aber es lag ihm bei alledem doch sern, sich an der politischen Arbeit des Tages zu beteiligen, und er pflegte spöttisch zu den Forderungen derer zu lächeln, die vom Künstler unsrer Tage verlangten, daß er die Kunst um der Politik willen an den Nagel hängen oder, noch schlimmer, die Kunst in Politik verwandeln solle. Nur einmal, unter den Eindrücken der^ersten Monate des Jahres 1848, ver- tauschte Hebbel den Standpunkt des scharfsichtigen Beobachters mit einem Stück thätiger Teilnahme an den Weltereignissen. Als sich im Mai 1848 Kaiser Ferdi¬ nand von Österreich vor dem Wiener Barrikadenheldentum und der wilden Wirt¬ schaft des unreifen Radikalismus von Schönbrunn nach Tirol geflüchtet hatte, sandte mit den verschiedensten Bürgerkreisen Wiens auch der Schriftstellerverein Konkordia eine Deputation mit der Bitte um augenblickliche Rückkehr des Kaisers ') Wien, den 4. Mai 1858.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/269>, abgerufen am 03.07.2024.