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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Denkmäler deutscher Tonkunst

schon der Natur des Stoffes nach nicht werden, hätte auch Forkel einen
größern Weit- und Scharfblick gehabt, wäre er auch imstande gewesen, einen
höhern Ideenflug zu nehmen, als es wirklich der Fall war.

Für die deutsche Musikwissenschaft hat Karl von Winterfeld mit seinem
"Evangelischen Kirchengesang" den Grund gelegt. Dem überwältigenden
Eindruck, den dies große Werk zuerst machte, und der es anfänglich mit dem
Charakter einer höchsten Autorität umkleidete, folgte eine Kritik, die, da sie im
ganzen und einzelnen vieles zu beanstanden fand, Gefahr lief, nunmehr in der
Unterschätzung zu weit zu gehen. Es ist daher wohl zeitgemäß, die positive
Bedeutung der Arbeiten Winterfelds einmal wieder stark zu betonen. In der
Durchdringung des Stoffes wird die Forschung weit über ihn hinauskommen
und hat ihn bereits nach vielen Richtungen überholt. Die Grundgedanken,
die das Ganze beherrschen, haben seine Nachfolger wesentlich einschränken, zum
Teil geradezu als unrichtig erkennen müssen. Aber das eine wie das andre
kommt auf Rechnung seiner Zeit, der Zustand seiner Quellen sowohl, die er
bei riesigem Fleiße doch nicht völlig aus ihrer Verschüttung befreien konnte,
als auch die patriotisch-religiöse Romantik, die ihm für gewisse geschichtli che
Erscheinungen den Blick trübte. Die persönliche Leistung ist und bleibt be-
wundernswert. Käme auch einmal eine Zeit -- sie ist sicher noch fern --,
wo wir über alles, was Winterfeld bietet, besser Bescheid wüßten als er, seine
Arbeiten würden dennoch ihren Wert behaupten durch ihr starkes persönliches
Gepräge. Es würde sich wieder einmal zeigen, wie es auch bei durchschla¬
genden wissenschaftlichen Leistungen nur zum Teil die Sache selbst ist. die
den Erfolg macht, zum andern Teil die Persönlichkeit des Verfassers und ihre
Fähigkeit, die Geister anzuregen und keimkräftigen Samen in sie zu senken.
Winterfeld hat dies in einem Maße gethan, das sich jetzt kaum schon ab¬
schätzen läßt. Er hat das Gebiet bestimmt, auf dem die deutsche Musikforschung
seither vorzugsweise thätig gewesen ist, von dem ans sie sich zu weitern Ent¬
deckungsreisen vorwagte, und wenn auch ein Jahrzehnt später durch Otto Jahr
die Arbeit noch von ganz andrer Seite her in Angriff genommen wurde, das
Übergewicht blieb doch bei den Forschungen, die von der evangelischen Ton¬
kunst ausgingen.

Der Trieb, ältere geistliche Musik wieder auszugraben, hatte sich schon
Jahrzehnte vor Wintcrfelds Auftreten in Deutschland geregt. Es war der^
selbe Trieb, der die Dichter und Litteraturforscher zu den Gedichten des Mittel¬
alters zurückführte. So fehr laufen diese Bestrebungen parallel, daß man von
mittelalterlicher Musik sprach, wenn man Kompositionen des sechzehnten Jahr¬
hunderts meinte, und die aus dem Mittelalter geholten romantischen Stim¬
mungen auf sie übertrug, obschon kaum eine ihrer Voraussetzungen für diese
Kompositionen mehr zutraf. Im achtzehnten Jahrhundert ist von einem Zurück¬
greifen auf die Musik der Vorzeit bei uns kaum etwas zu bemerke".
Grenb


zoten II 1893 3
Denkmäler deutscher Tonkunst

schon der Natur des Stoffes nach nicht werden, hätte auch Forkel einen
größern Weit- und Scharfblick gehabt, wäre er auch imstande gewesen, einen
höhern Ideenflug zu nehmen, als es wirklich der Fall war.

Für die deutsche Musikwissenschaft hat Karl von Winterfeld mit seinem
„Evangelischen Kirchengesang" den Grund gelegt. Dem überwältigenden
Eindruck, den dies große Werk zuerst machte, und der es anfänglich mit dem
Charakter einer höchsten Autorität umkleidete, folgte eine Kritik, die, da sie im
ganzen und einzelnen vieles zu beanstanden fand, Gefahr lief, nunmehr in der
Unterschätzung zu weit zu gehen. Es ist daher wohl zeitgemäß, die positive
Bedeutung der Arbeiten Winterfelds einmal wieder stark zu betonen. In der
Durchdringung des Stoffes wird die Forschung weit über ihn hinauskommen
und hat ihn bereits nach vielen Richtungen überholt. Die Grundgedanken,
die das Ganze beherrschen, haben seine Nachfolger wesentlich einschränken, zum
Teil geradezu als unrichtig erkennen müssen. Aber das eine wie das andre
kommt auf Rechnung seiner Zeit, der Zustand seiner Quellen sowohl, die er
bei riesigem Fleiße doch nicht völlig aus ihrer Verschüttung befreien konnte,
als auch die patriotisch-religiöse Romantik, die ihm für gewisse geschichtli che
Erscheinungen den Blick trübte. Die persönliche Leistung ist und bleibt be-
wundernswert. Käme auch einmal eine Zeit — sie ist sicher noch fern —,
wo wir über alles, was Winterfeld bietet, besser Bescheid wüßten als er, seine
Arbeiten würden dennoch ihren Wert behaupten durch ihr starkes persönliches
Gepräge. Es würde sich wieder einmal zeigen, wie es auch bei durchschla¬
genden wissenschaftlichen Leistungen nur zum Teil die Sache selbst ist. die
den Erfolg macht, zum andern Teil die Persönlichkeit des Verfassers und ihre
Fähigkeit, die Geister anzuregen und keimkräftigen Samen in sie zu senken.
Winterfeld hat dies in einem Maße gethan, das sich jetzt kaum schon ab¬
schätzen läßt. Er hat das Gebiet bestimmt, auf dem die deutsche Musikforschung
seither vorzugsweise thätig gewesen ist, von dem ans sie sich zu weitern Ent¬
deckungsreisen vorwagte, und wenn auch ein Jahrzehnt später durch Otto Jahr
die Arbeit noch von ganz andrer Seite her in Angriff genommen wurde, das
Übergewicht blieb doch bei den Forschungen, die von der evangelischen Ton¬
kunst ausgingen.

Der Trieb, ältere geistliche Musik wieder auszugraben, hatte sich schon
Jahrzehnte vor Wintcrfelds Auftreten in Deutschland geregt. Es war der^
selbe Trieb, der die Dichter und Litteraturforscher zu den Gedichten des Mittel¬
alters zurückführte. So fehr laufen diese Bestrebungen parallel, daß man von
mittelalterlicher Musik sprach, wenn man Kompositionen des sechzehnten Jahr¬
hunderts meinte, und die aus dem Mittelalter geholten romantischen Stim¬
mungen auf sie übertrug, obschon kaum eine ihrer Voraussetzungen für diese
Kompositionen mehr zutraf. Im achtzehnten Jahrhundert ist von einem Zurück¬
greifen auf die Musik der Vorzeit bei uns kaum etwas zu bemerke».
Grenb


zoten II 1893 3
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/25>, abgerufen am 23.07.2024.