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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

Nur die rohe Zuversicht des nüchternen Verstandesphilisters, die alles
ausmessen zu können vermeint, wird das Rätsel, das in die unsichtbaren psy¬
chischen Wurzeln einer bedeutenden Individualität verläuft, ausschließlich auf
körperliche Anlagen, Äußerlichkeiten und deutlich nachzuweisende Eindrücke der
frühen Jugend zurückführen wollen. Wenn aber Bamberg mit unverkennbarem
Hinblick auf Kuss Lebensbild im Epilog zum Briefwechsel ausspricht: "Es
ist ein Fehlgriff, die Grundlinien zu Hebbels Gesamtbild aus der materiellen
Armut seiner Jugend zu sammeln; die Wahrheit ist vielmehr die, daß das
Schicksal ihm zu den ernstesten Elementen des Lebens die Organe verliehen
hat, sie ganz in sich aufzunehmen, und daß dadurch sowohl diese wie jene ge¬
schärft wurden; gerade die Armut war es, die ihn bereicherte, und deshalb
habe ich mich auch stets bemüht, ihn nicht nach seiner Armut, sondern nach
seinem Reichtum aufzubauen," so sühlt man sich doch unwillkürlich gedrängt,
Kuss Darstellung bezüglich der Jugendjahre in Wesselburen, ihre hemmenden
und drängenden Einflüsse in Schutz zu nehmen. Während Hebbel in spätern
Jahren mitten aus der Fülle der Erscheinungen und der hellen Freude am
einzelnen Schritt für Schritt, fast unmerklich zum Urgrund und Ende aller
Dinge schweifte, fühlte er sich in seiner unbeglückten Jugendzeit gewaltsam
unwiderstehlich und, bevor er des Augenblicks froh geworden war, zu diesem
Urgrund und Ende hingerissen. Selbst damals vergoldete seine Lyrik das
Zustündliche, das karge Stück Leben, das ihm etwas -- ach wie wenig! -- ge¬
währte, oder was in guter Stunde mit dem Auge des Dichters gesehen wurde.
Aber im ganzen flößten ihm Umgebung und Lebenslage jener Zeit Wider¬
willen und ein starkes Gefühl der hinausstrebenden Ungeduld ein; statt sich
in der Mitte der Dinge glücklich befangen zu fühlen, suchte er sich ihnen um
jeden Preis zu entrücken, erhob sich mit ungestümem Trotz, mit unreifem oder
vorreifem Denken, dem seine Phantasie Schwung gab, über die widerwärtige
Enge seines Daseins. In Umgebungen, denen sein poetischer Genius nichts
sagte, die das höchste Vermögen seines Geistes nicht zu ehren wußten, trieb
es ihn durch starkgeistige Reflexion, durch energische Steigerung seiner ver¬
meintlichen Erkenntnisse, durch eine scheinbar schon abgeschlossene Weltanschauung
zu imponiren. Indem er in die freie Region des kühnsten Denkens zu ent¬
fliehen trachtete, wußte er selbst nicht, wie stark dieses Denken dennoch von
dem erlebten Elend, von dem Mißverhältnis seines innern Selbstbewußtseins
und des unwürdigen Drucks von außen beeinflußt war. Hebbel zögerte niemals,
auf jeder nächsten Stufe seiner Entwicklung alle als unfruchtbar, überreizt und
gewaltsam erkannten Gedanken ans seiner Weltanschauung wieder auszuscheiden,
doch die Gewöhnung, jähen, gewaltsamen Reflexionen neben den Offenbarungen
seines Genius eine Macht und ein Recht über sich einzuräumen, wurde von
ihm schwer und erst ganz zuletzt völlig überwunden.

Können aber auch die gehaltreichen Briefe Hebbels den letzten Knoten


Friedrich Hebbels Briefwechsel

Nur die rohe Zuversicht des nüchternen Verstandesphilisters, die alles
ausmessen zu können vermeint, wird das Rätsel, das in die unsichtbaren psy¬
chischen Wurzeln einer bedeutenden Individualität verläuft, ausschließlich auf
körperliche Anlagen, Äußerlichkeiten und deutlich nachzuweisende Eindrücke der
frühen Jugend zurückführen wollen. Wenn aber Bamberg mit unverkennbarem
Hinblick auf Kuss Lebensbild im Epilog zum Briefwechsel ausspricht: „Es
ist ein Fehlgriff, die Grundlinien zu Hebbels Gesamtbild aus der materiellen
Armut seiner Jugend zu sammeln; die Wahrheit ist vielmehr die, daß das
Schicksal ihm zu den ernstesten Elementen des Lebens die Organe verliehen
hat, sie ganz in sich aufzunehmen, und daß dadurch sowohl diese wie jene ge¬
schärft wurden; gerade die Armut war es, die ihn bereicherte, und deshalb
habe ich mich auch stets bemüht, ihn nicht nach seiner Armut, sondern nach
seinem Reichtum aufzubauen," so sühlt man sich doch unwillkürlich gedrängt,
Kuss Darstellung bezüglich der Jugendjahre in Wesselburen, ihre hemmenden
und drängenden Einflüsse in Schutz zu nehmen. Während Hebbel in spätern
Jahren mitten aus der Fülle der Erscheinungen und der hellen Freude am
einzelnen Schritt für Schritt, fast unmerklich zum Urgrund und Ende aller
Dinge schweifte, fühlte er sich in seiner unbeglückten Jugendzeit gewaltsam
unwiderstehlich und, bevor er des Augenblicks froh geworden war, zu diesem
Urgrund und Ende hingerissen. Selbst damals vergoldete seine Lyrik das
Zustündliche, das karge Stück Leben, das ihm etwas — ach wie wenig! — ge¬
währte, oder was in guter Stunde mit dem Auge des Dichters gesehen wurde.
Aber im ganzen flößten ihm Umgebung und Lebenslage jener Zeit Wider¬
willen und ein starkes Gefühl der hinausstrebenden Ungeduld ein; statt sich
in der Mitte der Dinge glücklich befangen zu fühlen, suchte er sich ihnen um
jeden Preis zu entrücken, erhob sich mit ungestümem Trotz, mit unreifem oder
vorreifem Denken, dem seine Phantasie Schwung gab, über die widerwärtige
Enge seines Daseins. In Umgebungen, denen sein poetischer Genius nichts
sagte, die das höchste Vermögen seines Geistes nicht zu ehren wußten, trieb
es ihn durch starkgeistige Reflexion, durch energische Steigerung seiner ver¬
meintlichen Erkenntnisse, durch eine scheinbar schon abgeschlossene Weltanschauung
zu imponiren. Indem er in die freie Region des kühnsten Denkens zu ent¬
fliehen trachtete, wußte er selbst nicht, wie stark dieses Denken dennoch von
dem erlebten Elend, von dem Mißverhältnis seines innern Selbstbewußtseins
und des unwürdigen Drucks von außen beeinflußt war. Hebbel zögerte niemals,
auf jeder nächsten Stufe seiner Entwicklung alle als unfruchtbar, überreizt und
gewaltsam erkannten Gedanken ans seiner Weltanschauung wieder auszuscheiden,
doch die Gewöhnung, jähen, gewaltsamen Reflexionen neben den Offenbarungen
seines Genius eine Macht und ein Recht über sich einzuräumen, wurde von
ihm schwer und erst ganz zuletzt völlig überwunden.

Können aber auch die gehaltreichen Briefe Hebbels den letzten Knoten


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[0227] Friedrich Hebbels Briefwechsel Nur die rohe Zuversicht des nüchternen Verstandesphilisters, die alles ausmessen zu können vermeint, wird das Rätsel, das in die unsichtbaren psy¬ chischen Wurzeln einer bedeutenden Individualität verläuft, ausschließlich auf körperliche Anlagen, Äußerlichkeiten und deutlich nachzuweisende Eindrücke der frühen Jugend zurückführen wollen. Wenn aber Bamberg mit unverkennbarem Hinblick auf Kuss Lebensbild im Epilog zum Briefwechsel ausspricht: „Es ist ein Fehlgriff, die Grundlinien zu Hebbels Gesamtbild aus der materiellen Armut seiner Jugend zu sammeln; die Wahrheit ist vielmehr die, daß das Schicksal ihm zu den ernstesten Elementen des Lebens die Organe verliehen hat, sie ganz in sich aufzunehmen, und daß dadurch sowohl diese wie jene ge¬ schärft wurden; gerade die Armut war es, die ihn bereicherte, und deshalb habe ich mich auch stets bemüht, ihn nicht nach seiner Armut, sondern nach seinem Reichtum aufzubauen," so sühlt man sich doch unwillkürlich gedrängt, Kuss Darstellung bezüglich der Jugendjahre in Wesselburen, ihre hemmenden und drängenden Einflüsse in Schutz zu nehmen. Während Hebbel in spätern Jahren mitten aus der Fülle der Erscheinungen und der hellen Freude am einzelnen Schritt für Schritt, fast unmerklich zum Urgrund und Ende aller Dinge schweifte, fühlte er sich in seiner unbeglückten Jugendzeit gewaltsam unwiderstehlich und, bevor er des Augenblicks froh geworden war, zu diesem Urgrund und Ende hingerissen. Selbst damals vergoldete seine Lyrik das Zustündliche, das karge Stück Leben, das ihm etwas — ach wie wenig! — ge¬ währte, oder was in guter Stunde mit dem Auge des Dichters gesehen wurde. Aber im ganzen flößten ihm Umgebung und Lebenslage jener Zeit Wider¬ willen und ein starkes Gefühl der hinausstrebenden Ungeduld ein; statt sich in der Mitte der Dinge glücklich befangen zu fühlen, suchte er sich ihnen um jeden Preis zu entrücken, erhob sich mit ungestümem Trotz, mit unreifem oder vorreifem Denken, dem seine Phantasie Schwung gab, über die widerwärtige Enge seines Daseins. In Umgebungen, denen sein poetischer Genius nichts sagte, die das höchste Vermögen seines Geistes nicht zu ehren wußten, trieb es ihn durch starkgeistige Reflexion, durch energische Steigerung seiner ver¬ meintlichen Erkenntnisse, durch eine scheinbar schon abgeschlossene Weltanschauung zu imponiren. Indem er in die freie Region des kühnsten Denkens zu ent¬ fliehen trachtete, wußte er selbst nicht, wie stark dieses Denken dennoch von dem erlebten Elend, von dem Mißverhältnis seines innern Selbstbewußtseins und des unwürdigen Drucks von außen beeinflußt war. Hebbel zögerte niemals, auf jeder nächsten Stufe seiner Entwicklung alle als unfruchtbar, überreizt und gewaltsam erkannten Gedanken ans seiner Weltanschauung wieder auszuscheiden, doch die Gewöhnung, jähen, gewaltsamen Reflexionen neben den Offenbarungen seines Genius eine Macht und ein Recht über sich einzuräumen, wurde von ihm schwer und erst ganz zuletzt völlig überwunden. Können aber auch die gehaltreichen Briefe Hebbels den letzten Knoten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/227>, abgerufen am 23.07.2024.