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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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anschauuugeu nicht nur in seinen dichterischen Schöpfungen aus, sondern wurden
bei mehr als einem Anlaß bestimmt und scharf ausgesprochen. Längst ehe
der Dichter Kritiken drucken ließ und im kritischen Vorwort zur "Maria Mag-
dalena" die dramatischen Dichter des Tages anrief: "Ich sage es euch, ihr,
die ihr euch dramatische Dichter nennt, wenn ihr euch damit begnügt, Anek¬
doten, historische oder andre, es gilt gleich, in Szene zu setzen, oder Wenns
hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinander¬
zulegen, so steht ihr, ihr mögt uun die Thränenfistel pressen oder die Lach¬
muskeln erschüttern, wie ihr wollt, um nichts höher als unser bekannter Retter
von Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen läßt!" war es
weithin bekannt, daß Hebbel schroff und unnachgiebig seine höchsten Maßstäbe
an die Tagesproduktion anlegte. Jetzt, nach dem Erscheinen des Briefwechsels,
wo man die Summe der Mißverhältnisse und der Mißurteile berechnen kaun,
die sür Hebbel daraus erwuchs, daß er seine innersten Gesinnungen nicht
verbergen, seine Forderungen nicht herabsetzen, sein gewaltiges Pathos in
Dingen der Kunst nicht verwässern konnte, wo man den Hebbel von 1838,
der Freiligmth einen Marketender des Musenalmanachs naunte, ihm ein schönes
Talent der Beschreibung und gute Verse zugestand, doch hinzusetzte: "Dies
Talent verhundertfacht giebt nach meiner Idee noch keine Faser zum wahr¬
haften Dichter," mit dem von 1858 vergleichen kann, der Werders Trauerspiel
"Kolumbus," dem er eine gewisse Bedeutung nicht absprach, mit den Worten
charakterisirte: "Alles allgemeine des Stücks, den Plan, die Anlage der Cha¬
raktere, die Intentionen der Sprache sogar finde ich vortrefflich; für mein
Gefühl tritt aber nichts ins Leben. Die tragischen Mächte sind wirklich herauf¬
beschworen, aber, um ein Bild von Plutarch zu entlehnen, nur die Mütter
ohne ihre Kinder; man wird auf geweihten Boden versetzt, aber man trifft
dort nur Schatten an, die nicht bluten können,") jetzt weiß man sicher, daß
der eine wie der andre dazu geschaffen war, bei dem Picknick der zeitgenös¬
sischen Litteratur als unbequemer Störenfried angesehen zu werden. Niemand
hatte herzlichere und wärmere Freude als Hebbel, wenn er Leistungen oder
auch nur Bestrebungen der Lebenden anzuerkennen vermochte, aber für ihn lag
es außer der Möglichkeit, etwas von dem innern Gesetz künstlerischer Dinge
oder auch nur vou dem zu erlassen, was ihm selbst als Gesetz galt.

Heute ist kein Zweifel mehr möglich, daß in der Kunstanschnuung des
großen Dichters nicht ein Irrtum, aber eine schroffe Einseitigkeit vorhanden
war, daß Hebbel, vor nichts zurückschreckend, was eine Tiefe hat, der Breite
der Welterscheinungen ohne lebhaftem Anteil gegenüberstand und sie in der
Poesie auch da verwarf, wo sie ihr gutes Recht haben. Er war in Wahrheit
unfähig, in Naturen wie Walter Scott und den phantasiereichen Spaniern



') An Friedrich von Üchtritz: Wien, 28. Januar 1859.

anschauuugeu nicht nur in seinen dichterischen Schöpfungen aus, sondern wurden
bei mehr als einem Anlaß bestimmt und scharf ausgesprochen. Längst ehe
der Dichter Kritiken drucken ließ und im kritischen Vorwort zur „Maria Mag-
dalena" die dramatischen Dichter des Tages anrief: „Ich sage es euch, ihr,
die ihr euch dramatische Dichter nennt, wenn ihr euch damit begnügt, Anek¬
doten, historische oder andre, es gilt gleich, in Szene zu setzen, oder Wenns
hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinander¬
zulegen, so steht ihr, ihr mögt uun die Thränenfistel pressen oder die Lach¬
muskeln erschüttern, wie ihr wollt, um nichts höher als unser bekannter Retter
von Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen läßt!" war es
weithin bekannt, daß Hebbel schroff und unnachgiebig seine höchsten Maßstäbe
an die Tagesproduktion anlegte. Jetzt, nach dem Erscheinen des Briefwechsels,
wo man die Summe der Mißverhältnisse und der Mißurteile berechnen kaun,
die sür Hebbel daraus erwuchs, daß er seine innersten Gesinnungen nicht
verbergen, seine Forderungen nicht herabsetzen, sein gewaltiges Pathos in
Dingen der Kunst nicht verwässern konnte, wo man den Hebbel von 1838,
der Freiligmth einen Marketender des Musenalmanachs naunte, ihm ein schönes
Talent der Beschreibung und gute Verse zugestand, doch hinzusetzte: „Dies
Talent verhundertfacht giebt nach meiner Idee noch keine Faser zum wahr¬
haften Dichter," mit dem von 1858 vergleichen kann, der Werders Trauerspiel
„Kolumbus," dem er eine gewisse Bedeutung nicht absprach, mit den Worten
charakterisirte: „Alles allgemeine des Stücks, den Plan, die Anlage der Cha¬
raktere, die Intentionen der Sprache sogar finde ich vortrefflich; für mein
Gefühl tritt aber nichts ins Leben. Die tragischen Mächte sind wirklich herauf¬
beschworen, aber, um ein Bild von Plutarch zu entlehnen, nur die Mütter
ohne ihre Kinder; man wird auf geweihten Boden versetzt, aber man trifft
dort nur Schatten an, die nicht bluten können,") jetzt weiß man sicher, daß
der eine wie der andre dazu geschaffen war, bei dem Picknick der zeitgenös¬
sischen Litteratur als unbequemer Störenfried angesehen zu werden. Niemand
hatte herzlichere und wärmere Freude als Hebbel, wenn er Leistungen oder
auch nur Bestrebungen der Lebenden anzuerkennen vermochte, aber für ihn lag
es außer der Möglichkeit, etwas von dem innern Gesetz künstlerischer Dinge
oder auch nur vou dem zu erlassen, was ihm selbst als Gesetz galt.

Heute ist kein Zweifel mehr möglich, daß in der Kunstanschnuung des
großen Dichters nicht ein Irrtum, aber eine schroffe Einseitigkeit vorhanden
war, daß Hebbel, vor nichts zurückschreckend, was eine Tiefe hat, der Breite
der Welterscheinungen ohne lebhaftem Anteil gegenüberstand und sie in der
Poesie auch da verwarf, wo sie ihr gutes Recht haben. Er war in Wahrheit
unfähig, in Naturen wie Walter Scott und den phantasiereichen Spaniern



') An Friedrich von Üchtritz: Wien, 28. Januar 1859.
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[0224] anschauuugeu nicht nur in seinen dichterischen Schöpfungen aus, sondern wurden bei mehr als einem Anlaß bestimmt und scharf ausgesprochen. Längst ehe der Dichter Kritiken drucken ließ und im kritischen Vorwort zur „Maria Mag- dalena" die dramatischen Dichter des Tages anrief: „Ich sage es euch, ihr, die ihr euch dramatische Dichter nennt, wenn ihr euch damit begnügt, Anek¬ doten, historische oder andre, es gilt gleich, in Szene zu setzen, oder Wenns hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinander¬ zulegen, so steht ihr, ihr mögt uun die Thränenfistel pressen oder die Lach¬ muskeln erschüttern, wie ihr wollt, um nichts höher als unser bekannter Retter von Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen läßt!" war es weithin bekannt, daß Hebbel schroff und unnachgiebig seine höchsten Maßstäbe an die Tagesproduktion anlegte. Jetzt, nach dem Erscheinen des Briefwechsels, wo man die Summe der Mißverhältnisse und der Mißurteile berechnen kaun, die sür Hebbel daraus erwuchs, daß er seine innersten Gesinnungen nicht verbergen, seine Forderungen nicht herabsetzen, sein gewaltiges Pathos in Dingen der Kunst nicht verwässern konnte, wo man den Hebbel von 1838, der Freiligmth einen Marketender des Musenalmanachs naunte, ihm ein schönes Talent der Beschreibung und gute Verse zugestand, doch hinzusetzte: „Dies Talent verhundertfacht giebt nach meiner Idee noch keine Faser zum wahr¬ haften Dichter," mit dem von 1858 vergleichen kann, der Werders Trauerspiel „Kolumbus," dem er eine gewisse Bedeutung nicht absprach, mit den Worten charakterisirte: „Alles allgemeine des Stücks, den Plan, die Anlage der Cha¬ raktere, die Intentionen der Sprache sogar finde ich vortrefflich; für mein Gefühl tritt aber nichts ins Leben. Die tragischen Mächte sind wirklich herauf¬ beschworen, aber, um ein Bild von Plutarch zu entlehnen, nur die Mütter ohne ihre Kinder; man wird auf geweihten Boden versetzt, aber man trifft dort nur Schatten an, die nicht bluten können,") jetzt weiß man sicher, daß der eine wie der andre dazu geschaffen war, bei dem Picknick der zeitgenös¬ sischen Litteratur als unbequemer Störenfried angesehen zu werden. Niemand hatte herzlichere und wärmere Freude als Hebbel, wenn er Leistungen oder auch nur Bestrebungen der Lebenden anzuerkennen vermochte, aber für ihn lag es außer der Möglichkeit, etwas von dem innern Gesetz künstlerischer Dinge oder auch nur vou dem zu erlassen, was ihm selbst als Gesetz galt. Heute ist kein Zweifel mehr möglich, daß in der Kunstanschnuung des großen Dichters nicht ein Irrtum, aber eine schroffe Einseitigkeit vorhanden war, daß Hebbel, vor nichts zurückschreckend, was eine Tiefe hat, der Breite der Welterscheinungen ohne lebhaftem Anteil gegenüberstand und sie in der Poesie auch da verwarf, wo sie ihr gutes Recht haben. Er war in Wahrheit unfähig, in Naturen wie Walter Scott und den phantasiereichen Spaniern ') An Friedrich von Üchtritz: Wien, 28. Januar 1859.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/224>, abgerufen am 23.07.2024.