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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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liebe Vernichtung gewissen "Materials" als einen Gewinn zu erachten, und
nur bedauern kann, daß der Müller aus dem Schwank des Hans Sachs, der
mit der Axt das Glossar vom Text abhaut, so wenig Nachfolger hat.

Der Briefwechsel Hebbels rückt uns den Dichter mit all seiner herben
nordischen Ursprünglichkeit, mit dem schweren Lebensernst, mit den tiefen
Narben verzweifelter Seelen- und Bilduugslämpfe wieder so lebendig vor
Augen, daß es mir persönlich zu Mute wird, als wäre der Septembertag von
1862, wo ich fürs Leben von ihm Abschied nahm, erst gestern gewesen. Jedem,
der Friedrich Hebbel gekannt hat, wird es ähnlich ergehen. Er, der sich rühmte,
daß er so rasch mit der Zunge wie langsam mit der Feder sei, verstand es
auch, seinen Briefen allen Reiz der persönlichen Ansprache und des Zwie¬
gesprächs zu geben. War er vom Gegenstand ergriffen, so verschlug es ihm
nichts, eine persönliche Mitteilung zu einer Abhandlung auszudehnen, und so
hört mau auch aus den längsten und abstraktesten Erörterungen dieser Briefe
heraus seine lebendige Stimme wieder ertönen. Die hoffentlich zahlreichen
Leser aber, die der mächtigen Persönlichkeit erst durch die veröffentlichten Briefen
näher treten, werden ans der Fülle der Lebeusüußerungen, der Aussprüche
und Urteile leicht erraten können, wie stark diese Persönlichkeit und dieser
Geist auf seine Umgebungen wirken mußte, und wie er sich in jeder Weise
von den gelehrten und litterarischen Durchschnittsmenschen unsrer Tage unter¬
schied. Die Briefe Hebbels erläutern aber mich, warum dieser Dichter auf
so herbe und unversöhnliche Gegnerschaften stieß. Man war freilich um die
Mitte des Jahrhunderts noch nicht ganz so weit wie jetzt am Ende, man
wagte noch nicht klipp und klar die Forderung zu stellen, daß die "Unterschiede
des Talents" gegenüber der "Kollegialität des Berufs" nicht in Frage kommen
dürsten; ja die erbittertsten und hartnäckigsten Gegner Hebbels rechneten sich
mit stolzem Bewußtsein zur litterarischen Aristokratie. Aber eine Kunst-
anschauung und ein Selbstbewußtsein, wie sie Hebbel hatte, galten doch schon
für schlechthin unerträglich. Man verzieh Hebbel weder die Strenge seiner
künstlerischen Forderungen, die tief bescheidne Unterordnung unter die größten
Meister einer glücklichern Vergangenheit, noch die gelegentlichen Aufwallungen
seiner Zuversicht, daß er "sich vom Nichts unterscheide." Weit eher würde
man sich in die Ansprüche des Dramatikers, als ein "Abkömmling der Familie
königlicher Dichter" betrachtet und geehrt zu werden, gefügt haben, Ansprüche,
die man doch immer als etwas persönliches ansehen konnte, als daß man
seinen allgemeinen Ideen über die Dichtung und das Verhältnis des Einzelnen
zu ihr gerecht geworden wäre. Durch diese Ideen erschien Hebbel als der
Feind aller, die im Augenblick die Herrschaft über die deutsche Litteratur er¬
strebten, aus diesen Ideen fühlte man eine unbarmherzige Verurteilung der
Tendenz- und Augcnblickspoesie, der Rhetorik wie des photographischen
Realismus heraus. Zum Unglück für Hebbel prägten sich seine Grund-


liebe Vernichtung gewissen „Materials" als einen Gewinn zu erachten, und
nur bedauern kann, daß der Müller aus dem Schwank des Hans Sachs, der
mit der Axt das Glossar vom Text abhaut, so wenig Nachfolger hat.

Der Briefwechsel Hebbels rückt uns den Dichter mit all seiner herben
nordischen Ursprünglichkeit, mit dem schweren Lebensernst, mit den tiefen
Narben verzweifelter Seelen- und Bilduugslämpfe wieder so lebendig vor
Augen, daß es mir persönlich zu Mute wird, als wäre der Septembertag von
1862, wo ich fürs Leben von ihm Abschied nahm, erst gestern gewesen. Jedem,
der Friedrich Hebbel gekannt hat, wird es ähnlich ergehen. Er, der sich rühmte,
daß er so rasch mit der Zunge wie langsam mit der Feder sei, verstand es
auch, seinen Briefen allen Reiz der persönlichen Ansprache und des Zwie¬
gesprächs zu geben. War er vom Gegenstand ergriffen, so verschlug es ihm
nichts, eine persönliche Mitteilung zu einer Abhandlung auszudehnen, und so
hört mau auch aus den längsten und abstraktesten Erörterungen dieser Briefe
heraus seine lebendige Stimme wieder ertönen. Die hoffentlich zahlreichen
Leser aber, die der mächtigen Persönlichkeit erst durch die veröffentlichten Briefen
näher treten, werden ans der Fülle der Lebeusüußerungen, der Aussprüche
und Urteile leicht erraten können, wie stark diese Persönlichkeit und dieser
Geist auf seine Umgebungen wirken mußte, und wie er sich in jeder Weise
von den gelehrten und litterarischen Durchschnittsmenschen unsrer Tage unter¬
schied. Die Briefe Hebbels erläutern aber mich, warum dieser Dichter auf
so herbe und unversöhnliche Gegnerschaften stieß. Man war freilich um die
Mitte des Jahrhunderts noch nicht ganz so weit wie jetzt am Ende, man
wagte noch nicht klipp und klar die Forderung zu stellen, daß die „Unterschiede
des Talents" gegenüber der „Kollegialität des Berufs" nicht in Frage kommen
dürsten; ja die erbittertsten und hartnäckigsten Gegner Hebbels rechneten sich
mit stolzem Bewußtsein zur litterarischen Aristokratie. Aber eine Kunst-
anschauung und ein Selbstbewußtsein, wie sie Hebbel hatte, galten doch schon
für schlechthin unerträglich. Man verzieh Hebbel weder die Strenge seiner
künstlerischen Forderungen, die tief bescheidne Unterordnung unter die größten
Meister einer glücklichern Vergangenheit, noch die gelegentlichen Aufwallungen
seiner Zuversicht, daß er „sich vom Nichts unterscheide." Weit eher würde
man sich in die Ansprüche des Dramatikers, als ein „Abkömmling der Familie
königlicher Dichter" betrachtet und geehrt zu werden, gefügt haben, Ansprüche,
die man doch immer als etwas persönliches ansehen konnte, als daß man
seinen allgemeinen Ideen über die Dichtung und das Verhältnis des Einzelnen
zu ihr gerecht geworden wäre. Durch diese Ideen erschien Hebbel als der
Feind aller, die im Augenblick die Herrschaft über die deutsche Litteratur er¬
strebten, aus diesen Ideen fühlte man eine unbarmherzige Verurteilung der
Tendenz- und Augcnblickspoesie, der Rhetorik wie des photographischen
Realismus heraus. Zum Unglück für Hebbel prägten sich seine Grund-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/223>, abgerufen am 23.07.2024.