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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen

Wie soll sich nun die Schule zu der theoretischen Wissenschaft stellen?
Soll sie dem Schuler den Unterschied zwischen begrifflicher und sinnlicher
Wirklichkeit klarmachen? Dann muß die Universität den Lehrer vor allen
Dingen in den Stand setzen, diesen Unterschied zu verstehen, dann muß ihm
die Universität eine gründliche philosophische Schulung geben, dann muß sie --
ach wenn ich aufzählen wollte, was die Universität alles müßte, dann würde
dieser Aufsatz ein Klagelied, so lang wie Firdnsis Königsbuch, das bekanntlich
60000 Doppelverse zählt. Mir scheint, die Schule kann sich begnügen, die
Betrachtungsweise der theoretischen Wissenschaft anzudeuten. Ist denn wirklich
soviel damit gewonnen, wenn ich dem Schüler durch Experimente nachweise,
daß ich Wasser in zwei Gase zerlegen kann, Wasserstoff und Sauerstoff, wobei
auf je ein nannten Sauerstoff zwei Raumteile Wasserstoff kommen, die ein
Achtel von dem Gewicht des Sauerstoffs wiegen, und ihn nun bitte, sich
vorzustellen, daß Wasserstoff sowohl wie Sauerstoff aus mechanisch nicht mehr
teilbaren Teilchen bestehen, die ihrerseits aus zwei chemisch nicht weiter teil¬
baren Teilchen bestehen, deren Gewicht sich verhält wie 1 zu 16, daß u. s. w.,
u. s. w. durch Dampfdichte, konstante Wertigkeit und synthetische Vereinigung
der Gase zurück zu der Thatsache, von der wir ausgegangen sind? Das ist
eben der Grundfehler der herrschenden Methode, daß sie den Schiller glauben
macht, sie habe ihm für eine Erscheinung die vollständige Ursache gegeben,
während sie in Wahrheit eine solche gar nicht geben kann. Wenn ich einen
Menschen frage: Warum ißt du? und er antwortet: Weil ich hungrig bin, so
ist die Sache damit vollständig erklärt. Kein vernünftiger Mensch wird weiter
fragen: Warum bist du hungrig?") Der Trieb des Hungers ist eben jedem
aus der Erfahrung bekannt. Kann ich auf die Frage: Warum ziehen sich un¬
gleichnamige Magnetpole an? eine ähnlich befriedigende Antwort geben? Nie¬
mals. Denn mit der bekannten "Erklärung," daß jedes Eisenmolekül von
einem elektrischen Strom in der und der Richtung umflossen sei, daß diese
Ströme, wenn entgegengesetzt parallel, sich anziehen u. s. w., ist die Frage nach
dem Warum noch lange nicht zum Schweigen gebracht. Wenn jedoch
die Wissenschaft unter dem Begriff des elektrischen Stroms auch die man-
nichfnltigen magnetischen Erscheinungen theoretisch zusammenfassen kann, so
muß sie wohl wissen, warum sie das thut. Dem Schüler aber wird die
Sache so beigebracht, als wäre mit dieser Subsummirnng wieder eines der
Nütsel gelöst, die die Welt sinnlicher Erscheinungen dem Verstände aufgiebt.
Stolz kann er sich nun der Hoffnung hingeben, daß dereinst auch die Gehirn-,
Nerven- und Muskelthätigkeit durch elektrische Ströme "vollständig erklärt"
werden wird, wobei er denn in der Regel übersieht, daß von da ab die



Wohl kann man frage": Warum bist du zu dieser Zeit wieder einmal hungrig? Das
ist aber etwas andres, als wenn ich nach der Ursache des Hungers überhaupt fragen wollte.
Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen

Wie soll sich nun die Schule zu der theoretischen Wissenschaft stellen?
Soll sie dem Schuler den Unterschied zwischen begrifflicher und sinnlicher
Wirklichkeit klarmachen? Dann muß die Universität den Lehrer vor allen
Dingen in den Stand setzen, diesen Unterschied zu verstehen, dann muß ihm
die Universität eine gründliche philosophische Schulung geben, dann muß sie —
ach wenn ich aufzählen wollte, was die Universität alles müßte, dann würde
dieser Aufsatz ein Klagelied, so lang wie Firdnsis Königsbuch, das bekanntlich
60000 Doppelverse zählt. Mir scheint, die Schule kann sich begnügen, die
Betrachtungsweise der theoretischen Wissenschaft anzudeuten. Ist denn wirklich
soviel damit gewonnen, wenn ich dem Schüler durch Experimente nachweise,
daß ich Wasser in zwei Gase zerlegen kann, Wasserstoff und Sauerstoff, wobei
auf je ein nannten Sauerstoff zwei Raumteile Wasserstoff kommen, die ein
Achtel von dem Gewicht des Sauerstoffs wiegen, und ihn nun bitte, sich
vorzustellen, daß Wasserstoff sowohl wie Sauerstoff aus mechanisch nicht mehr
teilbaren Teilchen bestehen, die ihrerseits aus zwei chemisch nicht weiter teil¬
baren Teilchen bestehen, deren Gewicht sich verhält wie 1 zu 16, daß u. s. w.,
u. s. w. durch Dampfdichte, konstante Wertigkeit und synthetische Vereinigung
der Gase zurück zu der Thatsache, von der wir ausgegangen sind? Das ist
eben der Grundfehler der herrschenden Methode, daß sie den Schiller glauben
macht, sie habe ihm für eine Erscheinung die vollständige Ursache gegeben,
während sie in Wahrheit eine solche gar nicht geben kann. Wenn ich einen
Menschen frage: Warum ißt du? und er antwortet: Weil ich hungrig bin, so
ist die Sache damit vollständig erklärt. Kein vernünftiger Mensch wird weiter
fragen: Warum bist du hungrig?") Der Trieb des Hungers ist eben jedem
aus der Erfahrung bekannt. Kann ich auf die Frage: Warum ziehen sich un¬
gleichnamige Magnetpole an? eine ähnlich befriedigende Antwort geben? Nie¬
mals. Denn mit der bekannten „Erklärung," daß jedes Eisenmolekül von
einem elektrischen Strom in der und der Richtung umflossen sei, daß diese
Ströme, wenn entgegengesetzt parallel, sich anziehen u. s. w., ist die Frage nach
dem Warum noch lange nicht zum Schweigen gebracht. Wenn jedoch
die Wissenschaft unter dem Begriff des elektrischen Stroms auch die man-
nichfnltigen magnetischen Erscheinungen theoretisch zusammenfassen kann, so
muß sie wohl wissen, warum sie das thut. Dem Schüler aber wird die
Sache so beigebracht, als wäre mit dieser Subsummirnng wieder eines der
Nütsel gelöst, die die Welt sinnlicher Erscheinungen dem Verstände aufgiebt.
Stolz kann er sich nun der Hoffnung hingeben, daß dereinst auch die Gehirn-,
Nerven- und Muskelthätigkeit durch elektrische Ströme „vollständig erklärt"
werden wird, wobei er denn in der Regel übersieht, daß von da ab die



Wohl kann man frage»: Warum bist du zu dieser Zeit wieder einmal hungrig? Das
ist aber etwas andres, als wenn ich nach der Ursache des Hungers überhaupt fragen wollte.
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[0217] Der naturwissenschaftliche Unterricht ans unsern höhern Schulen Wie soll sich nun die Schule zu der theoretischen Wissenschaft stellen? Soll sie dem Schuler den Unterschied zwischen begrifflicher und sinnlicher Wirklichkeit klarmachen? Dann muß die Universität den Lehrer vor allen Dingen in den Stand setzen, diesen Unterschied zu verstehen, dann muß ihm die Universität eine gründliche philosophische Schulung geben, dann muß sie — ach wenn ich aufzählen wollte, was die Universität alles müßte, dann würde dieser Aufsatz ein Klagelied, so lang wie Firdnsis Königsbuch, das bekanntlich 60000 Doppelverse zählt. Mir scheint, die Schule kann sich begnügen, die Betrachtungsweise der theoretischen Wissenschaft anzudeuten. Ist denn wirklich soviel damit gewonnen, wenn ich dem Schüler durch Experimente nachweise, daß ich Wasser in zwei Gase zerlegen kann, Wasserstoff und Sauerstoff, wobei auf je ein nannten Sauerstoff zwei Raumteile Wasserstoff kommen, die ein Achtel von dem Gewicht des Sauerstoffs wiegen, und ihn nun bitte, sich vorzustellen, daß Wasserstoff sowohl wie Sauerstoff aus mechanisch nicht mehr teilbaren Teilchen bestehen, die ihrerseits aus zwei chemisch nicht weiter teil¬ baren Teilchen bestehen, deren Gewicht sich verhält wie 1 zu 16, daß u. s. w., u. s. w. durch Dampfdichte, konstante Wertigkeit und synthetische Vereinigung der Gase zurück zu der Thatsache, von der wir ausgegangen sind? Das ist eben der Grundfehler der herrschenden Methode, daß sie den Schiller glauben macht, sie habe ihm für eine Erscheinung die vollständige Ursache gegeben, während sie in Wahrheit eine solche gar nicht geben kann. Wenn ich einen Menschen frage: Warum ißt du? und er antwortet: Weil ich hungrig bin, so ist die Sache damit vollständig erklärt. Kein vernünftiger Mensch wird weiter fragen: Warum bist du hungrig?") Der Trieb des Hungers ist eben jedem aus der Erfahrung bekannt. Kann ich auf die Frage: Warum ziehen sich un¬ gleichnamige Magnetpole an? eine ähnlich befriedigende Antwort geben? Nie¬ mals. Denn mit der bekannten „Erklärung," daß jedes Eisenmolekül von einem elektrischen Strom in der und der Richtung umflossen sei, daß diese Ströme, wenn entgegengesetzt parallel, sich anziehen u. s. w., ist die Frage nach dem Warum noch lange nicht zum Schweigen gebracht. Wenn jedoch die Wissenschaft unter dem Begriff des elektrischen Stroms auch die man- nichfnltigen magnetischen Erscheinungen theoretisch zusammenfassen kann, so muß sie wohl wissen, warum sie das thut. Dem Schüler aber wird die Sache so beigebracht, als wäre mit dieser Subsummirnng wieder eines der Nütsel gelöst, die die Welt sinnlicher Erscheinungen dem Verstände aufgiebt. Stolz kann er sich nun der Hoffnung hingeben, daß dereinst auch die Gehirn-, Nerven- und Muskelthätigkeit durch elektrische Ströme „vollständig erklärt" werden wird, wobei er denn in der Regel übersieht, daß von da ab die Wohl kann man frage»: Warum bist du zu dieser Zeit wieder einmal hungrig? Das ist aber etwas andres, als wenn ich nach der Ursache des Hungers überhaupt fragen wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/217>, abgerufen am 23.07.2024.